Ottos Schatz
Seine Modelle im Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau
Text: Vrachliotis, Georg, Karlsruhe
Ottos Schatz
Seine Modelle im Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau
Text: Vrachliotis, Georg, Karlsruhe
Raumvorstellungen sind Ordnungsmodelle, deren erkenntnistheoretischer Gehalt für die Konstitution der Gesellschaft an sich von höchster Bedeutung ist. In der Architektur geht es jedoch in erster Linie nicht um eine technische Domestikation von Zeit und Raum, sondern um die Organisation der menschlichen Zeit und des menschlichen Raums. Daher rührt die Lebendigkeit und Sprengkraft, die eine Diskussion über Architektur entfalten kann. So verstanden ist Architektur also nicht nur eine Frage der Konstruktion. Sie ist – im gleichen Sinn wie die Sprache – der symbolische Ausdruck eines allgemeinen menschlichen Verhaltens und die Antwort auf existenzielle Erfordernisse.
Bei Frei Otto stand dem Fetisch von Ewigkeit, Monumentalität und Repräsentation daher die lebenslange Suche nach konstruktiver Vollkommenheit im Minimalen gegenüber, nach dem Wandelbaren und Temporären in der Architektur – künstlerisch, technisch und sozial. Seine Arbeiten zeigen, dass es dafür einen gewissen Mut und eine ausreichende Portion an Neugier, ja auch Radikalität brauchte, um sich von tradierten Bildern zu lösen und gleichzeitig die Quali-täten der Architektur weiterzuentwickeln. Es ist dabei jedoch nicht der architektonische Entwurf, der nach einer technischen Lösung verlangt. Vielmehr sind es die Formfindungsprozesse, die von den Gesetzmäßigkeiten der Leichtbaukonstruktion geleitet werden. Leichtbau ist also kein reiner Funktionalismus, sondern eine Brücke zur Ästhetik.
Es war wohl kein Zufall, dass Heinrich Klotz – kurz nachdem er das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt gründet hatte – bei einer der ersten Ausstellungen die leichten Strukturen von Frei Otto in den Vordergrund rückte.
Klotz verband damit die Aufforderung, die „andere Wurzel der Moderne“ wiederzuentdecken. Es sollte nicht länger nur um die „Reduktionsgeometrie des Bauhauses“ gehen, die lange Zeit als „normativer Maßstab der Moderne“ alleinige Geltungshoheit beanspruchte. Frei Ottos Bedeutung liege vielmehr darin, „ein vom Neuen Bauen, von Le Corbusier und Gropius liegengelassenes Potenzial der Moderne, den Ingenieurbau“, aufgenommen und souverän weiterentwickelt zu haben.
Welch große Rolle für Frei Otto in diesem Zusammenhang das Experiment spielte wird deutlich, wenn man sich die Vielzahl der Modelle vor Augen führt, mit denen er gedacht, gestaltet und geforscht hat. Die über 400 Modelle, die sich im Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau (saai) des Karlsruher Instituts für Technologie befinden, zeigen, dass es sich hierbei nicht um statische Objekte der Repräsentation handelt, sondern vielmehr um gebaute Denkmodelle, in denen sich Wissen und Erkenntnis durch die Formfindungsprozesse gewissermaßen selbst generieren. Frei Ottos Modelle verkörpern strukturbildende Momente von technischen Entwicklungen, aber auch von gesellschaftlichen Zusammenhängen. In all ihrer poetischen Fragilität erzählen die Modelle Geschichten einer empirischen Ästhetik, die sich zwischen der Präzision wissenschaftlicher Instrumente und der Imagination künstlerischer Artefakte bewegt.
Heute beginnt man sich in der Architektur wieder verstärkt mit dem Studium von Materialien und Werkstoffen und dem daran geknüpften handwerklichen Wissen auseinanderzusetzen. Mit der Rückbesinnung auf das Physische und Handwerkliche rückt auch die Geschichte des Experiments und dessen Funktion in Architektur, Kunst und Wissenschaft wieder in den Vordergrund. Die Frage nach der Materialisierung von Information nimmt hierbei einen hohen Stellenwert ein. Zunehmend geht es um eine Architektur, die zwar ohne den Computer konstruktiv kaum denkbar ist, die jedoch erst aus einer produktiven Distanz zu der Welt des Digitalen ihre theoretische Lebendigkeit und ihre konzeptionelle Originalität gewinnt.
Die Relevanz von Frei Ottos empirischer Modellästhetik liegt darin, das enorme Potenzial des Objekts und seiner materialkulturellen Dimension herauszuarbeiten – zum einen, um weiterhin den Begriff der Ressource zwischen Natur und Technik zu verankern, zum anderen, um die komplexen Wechselbeziehungen zwischen dem Digitalen und dem Analogen besser erforschen zu können. Was heißt es also für Architekten und Ingenieure, in einer Gesellschaft zu entwerfen, die ihr Gleichgewicht zwischen einer zunehmenden Digitalisierung einerseits und einem immer wichtiger werdenden Ressourcenbewusstsein andererseits sucht?
Der Reichtum von Frei Ottos Kosmos birgt für die gegenwärtige Architektur nichts Geringeres als das intelletuelle Denkkollektiv für ein andersartiges, ein optimistisches Narrativ der zukünftigen Umwelt und des menschlichen Zusammenlebens.
Der Beitrag erscheint zeitgleich im Buch „Frei Otto – forschen, bauen, inspirieren“, Detail Verlag, München 2015
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