Neorationalisten, Brutalisten, Organiker, Freaks
Italomodern 2. Architektur in Oberitalien 1946–1976
Text: Hoetzel, Dagmar, Berlin
Neorationalisten, Brutalisten, Organiker, Freaks
Italomodern 2. Architektur in Oberitalien 1946–1976
Text: Hoetzel, Dagmar, Berlin
Was für eine Vielfalt! Auch der zweite Band der Brüder Martin und Werner Feiersinger zur Architektur in Oberitalien zwischen 1946 und 1976 begeistert und erfreut. Erstaunlich, dass es noch so viel zu entdecken gibt. Nach dem zunächst überraschenden großen internationalen Echo und Erfolg des ersten Bandes italomodern – er erschien 2011 und war binnen kurzer Zeit vergriffen, ebenso die Neuauflage – begaben sich die Brüder Feiersinger nochmals auf Entdeckungsreise nach Oberitalien. Sie erweiterten den Radius, von Bozen bis Colle di Val d’Elsa, von Triest bis San Remo, von der Küste bis ins Hochgebirge. Vier Jahre und etliche Recherchen und Reisen später präsentieren sie nun in Buch und Ausstellung ihre 132 neuen Fundstücke, zusammengestellt in italomodern 2.
Man kann das Buch an jeder beliebigen Stelle aufschlagen, den Blick in der Ausstellung in den Räumen des aut.architektur und tirol in Innsbruck beliebig schweifen lassen, das Auge muss nicht lange suchen, bis es etwas findet, das interessant ist oder skurril oder eigenwillig oder schön. Es kann eine spezifische Form sein oder ein Detail, ein kühner Materialmix oder eine gewagte Konstruktion, die Art und Weise, wie ein Gebäude mit der Landschaft korrespondiert oder wie es losgelöst von Zeit und Ort erscheint.
Unikate haben die Brüder Feiersinger gesucht: Werner, der Bildhauer und Fotograf mit einem sehr eigenen Blick und Sinn fürs Skulpturale, und Martin, der Architekt, der akribisch Unbekanntes recherchierte. Und darüber hinaus die Grundrisse, aufs Wesentliche reduziert, neu zeichnete und schöne, klare Texte verfasste, in denen er nicht nur das Spezielle an jedem Gebäude beschreibt, sondern auch Bezüge herstellt, sowohl zwischen Bauten als auch zwischen Architekten.
Alle Gebäude sind im gleichen Hochformat aufgenommen, das unterstreicht das Anliegen der Autoren, keine Wertung abzugeben. So hat ein kleines Biwak in den Bergamasker Alpen von Mario Cereghini in der Sammlung ebenso seinen Platz gefunden wie die brutalistische Großstruktur der Universität in Urbino von Giancarlo De Carlo. Es tauchen also auch bekannte Architekten auf, meist jedoch mit weniger bekannten Gebäuden. So wie eine Kirche, die Edoardo Gellner gemeinsam mit Carlo Scarpa gebaut hat, sie weist erkennbar die Handschriften der beiden miteinander befreundeten Architekten auf. Aber den Großteil der Zusammenstellung bestreiten diejenigen, deren Namen nicht so geläufig sind. Die frühen Wohnhäuser von Sergio Jaretti und Elio Luzi finden mit einem Augenzwinkern Anleihen bei Gaudí. Dino Tamburini baute in Triest eine Kirche in Anlehnung an einen dreischiffigen Kirchenbau aus parabolischen Betonschalen, die den Dreierrhythmus aufnehmen. Filippo Monti plante als Herzstück einer Diskothek in Milano Marittima einen Kuppelraum, zusammengesetzt aus 23 Segmenten aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Ico Parisi baute 1965 ein Ferienhaus, dessen knallbunte, mit Rundungen versehene Innenräume die siebziger Jahre vorwegzunehmen scheinen.
Es ist ein Überschwang an Formen, Stilen und Typologien, wie er wohl in dieser Fülle nur in Zeiten einer blühenden Wirtschaft, wie sie Oberitalien in den Nachkriegsjahren erlebte, auftreten kann. Und es scheint, dass es die Architektur danach drängte, sich aus dem Formenkanon des Faschismus zu befreien. In der Breite der Zusammenstellung entsteht so das Bild einer Epoche, die, getragen von einem Fortschrittsglauben, extrem pluralistisch ist und mit einer Experimentierfreude aufzeigt, was in der Architektur möglich ist – gerade uns, die wir in einer zunehmend von allen möglichen Verordnungen mehr und mehr regulierten Zeit leben. Man kann ihn förmlich spüren, den Geist des Aufbruchs im Italien der Nachkriegszeit – und man fragt sich, wann italienische Architektur uns wieder einmal so zu begeistern vermag.
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