Das Brecht-Theater
Luk Perceval inszeniert mit „1984“ am Berliner Ensemble den inneren Konflikt der Hauptfigur in einem totalitären System. Philip Bußmanns Bühnenbild transportiert viel Tiefe mit wenigen Mitteln.
Text: Kraft,Caroline, Berlin
Das Brecht-Theater
Luk Perceval inszeniert mit „1984“ am Berliner Ensemble den inneren Konflikt der Hauptfigur in einem totalitären System. Philip Bußmanns Bühnenbild transportiert viel Tiefe mit wenigen Mitteln.
Text: Kraft,Caroline, Berlin
Die Bühne dreht sich. Wabernde Spiegelwände, eine zitternde Holzständerkonstruktion, ein lei-ses Quietschen. Diese Welt gerät regelmäßig ins Wanken. Den Stoff von George Orwells „1984“ eingermaßen kennend, ist die zwanghafte Interpretation: „Das ist Absicht! Die Konstruktion steht für das vermeintlich wacklige System!“ Denkste. „Lässt sich halt überhaupt nicht vermeiden“, kommentiert Mirko Baars, Bühnenmeister des Berliner Ensembles. Was natürlich stimmt. Die zwei Holzrahmenwände sind über vier Meter hoch und stehen in spitzem Winkel zueinander. Es gibt keine Aussteifung zwischen den beiden Bauteilen, der Bühnenboden steigt um vier Prozent an. Das ist für Inszenierungen nicht immer leicht, macht zwar die Publikums-erfahrung demokratischer, das Bühnenbild aber wackliger.
Über der Demokratie liegt in George Orwells Roman „1984“ – wie eigentlich über allem – ein grauer Schleier. Konkret lebt der Hauptprotagonist Winston Smith in einem totalitären Überwachungsstaat und ist als Mitglied in der diktatorischen „Sozialistischen Partei Englands“ ein kleines Rädchen in einer riesigen Maschinerie. An der Spitze des Staats steht die zum „Großen Bruder“ personifizierte Parteielite, alles sehend, al-les führend – „Big Brother is watching“. Dass es diesen einen mächtigen Strippenzieher nicht gibt, weiß weder die „Äußere Partei“, der Winston angehört, noch die „Proles“, das Volk. Ziel der Partei ist allein die Machtausübung als Selbstzweck. Die Welt, eingeteilt in Ozeanien, Eurasien und Ostasien, befindet sich in andauerndem Krieg. In diesem System, in dem die „Gedankenpolizei“ absoluten Gehorsam kontrolliert, schon Kinder kaltblütig das „Vaporisieren“ (das Hinrichten) politisch Andersdenkender herbeisehnen und in der Freiheit und Sklaverei durch ständige Moralverschiebung durch die Partei gleichgesetzt sind („Doppeldenk“), begeht nun dieser Winston Smith ein Kapitalverbrechen: Er beginnt, Tagebuch zu schreiben. Damit macht er sich zum Feindbild des Staatsapparats: zu einem selbstdenkenden, reflektierenden Menschen. Stark verkürzt führt diese Selbstermächtigung zur Folter, später der erfolgreichen Gehirnwäsche und letztendlich der Hinrichtung Winstons im letzten Akt des Romans.
Seit 1954 ist das Theater am Schiffbauerdamm Spielort des Berliner Ensembles, das Bertolt Brecht und Helene Weigel gründeten. In seinem prächtig-neobarocken Theatersaal wirkt das ohnehin karge Bühnenbild noch minimalistischer. Zwei verspiegelte Wände stehen da, spitz zulaufend. „Spiegel auf der Bühne – sehr mutig“ findet der Bühnenmeister. Was so ist. Alles ist einsehbar, dem Publikum entgeht nichts.
Bühnenbildner Philip Bußmann kennt Regisseur Luk Perceval seit zwanzig Jahren. In Vorgesprächen gebe Perceval Stichwörter – in diesem Fall war eines von Anfang an: „Spiegel“. Bußmann findet das für „1984“ schlüssig. Natürlich bedeutet das, dass bei Drehung der Bühne nicht mal mehr der Bühnenrand dem Publikum verborgen bleibt. Es bedeutet auch, dass der Bildschirm, der hinter den Sitzreihen im Theatersaal angebracht ist, sich permanent spiegelt. Während des Stücks läuft auf ihm der Text mit. Wie-der eine Interpretationsansatz: Der „Teleschirm“, der im Buch alle Parteimitglieder Zuhause überwacht und ihnen durchgängig Propaganda einflößt, diktiert jedes Wort. In Wahrheit ist es aber auch Unterstützing für das Ensemble. Während der Pause liest Winston aus dem Roman vor – seine Stimme wird mit Lautsprechern ins Foyer übertragen, durchgängig für alle hörbar.
Vor allem aber vervielfacht die Spiegelung natürlich, was auf der Bühne passiert. Winston, verkörpert von vier grau gekleideten, mal geduckten, mal aufbegehrenden Darstellern, kämpft mit sich und seiner Umwelt. Die innere Zerrissenheit, die Präsenz und gleichzeitig die Austauschbarkeit des kleinen grauen Männchens wirken in der Menge noch viel stärker. Ju-lia, in die Winston sich verliebt, ist hingegen pragmatisch und lebensfroh und hinterfragt zumindest über weite Teile das staatliche Kon-strukt mit mehr Überzeugung.
Dieses Konstrukt übersetzt Philip Bußmann in seine Bühnen-Architektur, indem er, wie er es gerne tut, klassische Theaterwände mit verschiedener Beplankung einsetzt. In diesem Fall ist das eine aufgedampfte Spiegelfolie mit Spion-glas-Effekt. Je nach Scheinwerfer-Ausrichtung ist das Bühnenbild also durchsichtig oder spiegelt. Das unterstützt bildlich die Momente, in denen Winston und Julia hinter das System zu blicken versuchen. Dass das Bühnenbild zwei Seiten hat, ist in dieser Inszenierung völlig logisch, notwendig sogar. Wirkt der Blick auf die Spiegelseite wie der Blick in Winstons Inneres, bedeutet die Drehung der Bühne das Raue, die Kehrseite des Systems. Der spitze hölzerne Winkel wirkt unangenehm, grenzt das Publikum scheinbar aus und ist gleichzeitig der Blick hinter die Fas-sade. Hier treffen sich Winston und Julia heimlich und werden später auch gefoltert – Liebe und Hass vor dem gleichen Hintergrund.
Seine Bühnenbilder sind für Bußmann eine intuitive Geste, sagt er. Am Anfang stehe der Besuch des Theaters, die klassische Ortsbegehung. Jede Bühne sei anders, Inszenierungen auf andere Häuser zu übertragen, schwer. Um an einemTheater inszenieren zu können, müsse er verstehen, wie es funktioniere, architektonisch wie in seinem Sozialgefüge. Das Bühnenbild müsse immer den Dialog mit dem Haus abbilden. Theaterwände baut beispielsweise jede Werkstatt auf ihre Art. Bußmann gibt in dieser Hinsichtnichts vor, das Handwerk überlässt er denen, die es ausüben. Mit physischen Modellen arbeitet er dabei mindestens seit Beginn der Coronapandemie nicht mehr, sein letztes analoges Modell ist fünf Jahre alt. Seine Ideen transportiert Bußmann mittlerweile mit CAD-Programmen – nachdem er selbst das Bühnenbild im Kopf gebaut hat. „Vielleicht nicht so eine gesunde Angewohnheit, weil es ständig arbeitet, aber wenn ich irgendwohin fahre, packe ich auch vorher in meinem Kopf den Koffer.“
Während der Entwicklungsphase eines Bühnenbilds sind filmische Umsetzungen des Stoffs oder die Inszenierungen anderer tabu, Bußmann blendet sie explizit aus. Irgendwann wache er auf und sehe das Bühnenbild vor sich. Klingt einfach, ist es sicher nicht. Architektur könne auch als Inspiration dienen, generell sagt Bußmann aber: „Ich baue keine Welten nach“ – außer dieses eine Mal, als eine Regisseurin sehr kurzfristig genau das von ihm wollte, da erfüllte sich Bußmann einen lange gehegten Wunsch und baute für die Bühne einen Autoscooter. Das war 2019 am Nationaltheater Mannheim.
In Bußmanns Ideal wären die Holzständerwände höher und länger gewesen, aber Drehbühne und eiserner Vorhang (der übrigens jeden Abend im Beisein der Feuerwehr getestet wird) machten eine Verkleinerung nötig. Für Bußmann, der, wie er sagt, mit den Bühnenbildern der 1980er Jahre sozialisiert wurde, hat Theater mit Volumen, Höhe und Größe zu tun. Aber, das sagt er ebenfalls, auch eine leere Bühne zeige Größe. „1984“ war Bußmanns erstes Engagement am Berliner Ensemble – und seiner Begeisterung nach zu urteilen vielleicht nicht das letzte.
In Percevals Inszenierung überleben Winston und Julia am Ende, nachdem sie sich zufällig begegnen. Sie wollen sich in Zukunft wiedersehen. Perceval beschreibt das im Programmheft zur Produktion als „mit dem Frühling enden, wohlwissend, dass es gerade kälter wird.“
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