Grande Dame der ostdeutschen Fotografie
Die Fotografin Evelyn Richter im Museum der bildenden Künste Leipzig
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Grande Dame der ostdeutschen Fotografie
Die Fotografin Evelyn Richter im Museum der bildenden Künste Leipzig
Text: Schulz, Bernhard, Berlin
Zwei Jungen gehen nach Hause. Sie tragen Fahnen und streben einem vielstöckigen Plattenneubau zu, der sich in die Tiefe des Bildraums erstreckt. Links lugt eine Gründerzeitfassade ins Bild hinein. Die Straße ist teils asphaltiert, teils gepflastert, ein Flickenteppich. Der Himmel weißgrau, ohne Kontur.
Meist wird dieses Foto aus der DDR als Symbolbild der politischen Situation gesehen, werden die Fahnen einer Demonstration von Staat oder Partei zugeordnet. Doch kommen die Fahnenträger, wie genaueres Hinsehen ergab, nicht von einer politischen Kundgabe, sondern von einem Fußballspiel. Auch wurde das Foto in der DDR sehr wohl publiziert und sogar auf der offiziellen „IX. Kunstausstellung der DDR“ gezeigt.
Evelyn Richter (1930–2021), die diese berühmt gewordene Aufnahme gemacht hat, nannte sich bisweilen zwar eine „Partisanin“, doch bezog sie das auf ihre Arbeitsweise, nicht auf eine politische Grundhaltung. Als Fotografin hat sie die ganze Ära der DDR begleitet. 1950 fotografierte sie einen Bauern, der hinter dem Pflug hergeht, gezogen von einem Ochsen, den ein Bauernjunge führt. „Junkerland in Bauernhand“, diese Parole zur sogenannten Bodenreform kommt einem in den Sinn; und zugleich könnte man, aus der Distanz von Jahrzehnten heraus, womöglich an ganz andere Zeiten denken, in denen bäuerliche Schwerstarbeit glorifiziert wurde.
Einem derartigen Dilemma einer politischen Einordnung der Arbeiten Evelyn Richters entgeht, wer ihr Œuvre in den Blick nimmt, wie es jetzt im Leipziger Museum der bildenden Künste mustergültig ausgebreitet ist. Leipzig war das berufliche Lebenszentrum Richters, hier hatte sie selbst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert, bis sie 1955 aus bis heute im Halbdunkel liegenden Gründen exmatrikuliert wurde. Später kehrte sie als Lehrende an die Hochschule zurück, für ein Jahrzehnt, die 1980er Jahre über. Da war sie längst die bewunderte Grande Dame der ostdeutschen Fotografie und bis dahin ausschließlich als Freiberuflerin tätig. Stets war sie auf Veröffentlichungen angewiesen, die ihr durchaus zuteil wurden, meist in jenen Druckwerken, die eher am Rande des offiziösen Politgeklappers existierten (und von der Leserschaft begehrt wurden), wie die Frauenzeitschriften „Sibylle“ oder „Für Dich“ oder gar die Fachzeitschrift „Fotografie“. Vieles fotografierte sie dennoch nur „für die Kiste“, wie sie es nannte.
Das Bild der Fahnenträger steht nicht im Zen-trum ihres Werks, aber zugleich auch nicht am Rande. Solche sorgsam beobachteten Alltagsszenen, die sich im fertigen Bild als symbolische Darstellungen „der“ DDR lesen lassen, machen ihre Arbeitsweise aus. Nur hatte sie es nicht auf Systemkritik angelegt. Die Kritik spricht aus der Realität, die Evelyn Richter eingefangen und festgehalten hat. Und so dokumentarisch diese Bilder sind, ist ihnen doch zugleich etwas Überzeitliches inne. Immerfort scheint die Fotografin zu sagen, schaut nicht auf Möbel, Kleidung, Arbeitskittel, die sind zu-fällig in diesem einen Moment dagewesen. Schaut auf die Gesichter, die Körper, und seht, was den Menschen ausmacht, die condition
humaine.
humaine.
Das ist nicht zu hoch gegriffen, und Evelyn Richter, die im Alter von 91 Jahren in Dresden verstarb, hätte es wohl gelten lassen, ging es ihr doch immer um das Bild des Menschen. Das konnten Berühmtheiten sein wie der Komponist Paul Dessau oder der Geigenvirtuose David Oistrach, denen sie Mitte der 1970er ganze Bücher gewidmet hat, bis ins Detail um die Buchgestaltung besorgt. Oder ebenso gut Arbeiterinnen in einer Textilfabrik, an der Setzmaschine, in der Werkstatt. Die besten dieser Aufnahmen sind nicht einfach Dokumente, sie sind Denkmale der Arbeit, als der dem Menschen aufgegebenen Interaktion mit der Umwelt.
Diesem humanistischen Ansatz ist Richter seit jeher gefolgt. Den Besuch der von Edward Steichen am Museum of Modern Art eingerichteten und von da in alle Welt gesandten Ausstellung „The Family of Man“, die sie – lange vor dem Mauerbau – 1955 in West-Berlin sah, brauchte es wohl kaum, um sie auf die Spur zu bringen. Nicht minder wichtig war der Besuch der Weltjugendfestspiele in Moskau 1957, wo sie unter anderem ein Sujet für sich entdeckte, das sie lebenslang verfolgen sollte: Besucher und Besucherinnen im Museum. Zwei Wochen lang sei sie 1975 durch die Ausstellung im Dresdner Albertinum gestreift, heißt es, in der Wolfgang Mattheuers systemkritisches Bild „Die Ausgezeichnete“ hing, bis sie jenes Frauengesicht schräg vor dem Gemälde gebannt hatte, das – wenn man so will – die Wahrhaftigkeit der Kunst bezeugt.
Das Bild vor allem der Frau in der DDR, wie es sich in Richters Fotografien spiegelt, ist kein heroisches. Den Gesichtern ist ein gutes Maß Anspannung anzusehen, eher noch Sorge. Un-beschwert sind nur die Kinder. Den Kleinsten hat sie 1980 das Buch „Entwicklungswunder Mensch“ gewidmet. Größere sitzen auf einem Bahnsteig und lesen, weltentrückt. Die Zeit scheint still zu stehen, auf vielen Bildern, selbst wenn die Berliner S-Bahn darauf zu sehen ist. Der Himmel ist meist milchig. Ist es in den Städten der berüchtigte Smog, der alles Entfernte verschluckt?
Wenn es ein – unfreiwilliges – Symbolbild der DDR im Gesamtwerk von Evelyn Richter gibt, dann die Arbeit „An der Museumsinsel“ von 1972. Die Museumsbauten sind hinter dichtem Gestrüpp verborgen, die Kuppel des Berliner Doms zeichnet sich schemenhaft im Hellgrau ab, noch unrestauriert. Vater und Sohn stehen am unbefestigten Ufer. Vor ihnen gleitet ein Lastkahn auf der Spree dahin, gestochen scharf sein Name am Bug: „Traumland“. Das könnte man gar nicht erfinden.
Es ist, als ob Evelyn Richter in ihren Bildern, bei aller dokumentarischen Präzision, immer ein gutes Stück frei gelassen hätte, zum Träumen. Für die Träume der Abgebildeten wie die der Betrachtenden. Kurzum, wer eine Ahnung bekommen will von dem, was die DDR war, muss umgehend nach Leipzig fahren. Eine Sternstunde, wie nicht minder das Begleitbuch.
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