Bauwelt

Ich liebe die Städte und durchstreife sie

Jean-Louis Cohen 1949–2023

Text: Geipel, Kaye, Berlin

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Foto: eSel.at

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Ich liebe die Städte und durchstreife sie

Jean-Louis Cohen 1949–2023

Text: Geipel, Kaye, Berlin

Jean-Louis Cohen war, wie vielleicht kein anderer Architekturhistoriker, ständig unterwegs. Seine bullige, vorwärts geneigte Gestalt tauchte meist überraschend auf, bereit, liegen gebliebene Diskussionsstränge auf- und in die Debatte einzugreifen. Er verkörperte selbst eine Enzyklopädie der Architektur der Moderne und er setzte sein Wissen verschwenderisch ein. Der Polyglott und Vielreisende galt als einer der weltweit erfolgreichsten Ausstellungskuratoren für die vielfältigen Prägungen der modernen Architektur des 20. Jahrhunderts und spannte den Bogen vom „american dream“ europäischer Architekten, über die Nachwirkungen des russischen Konstruktivismus hin zu den kolonialen Architekturen Frankreichs und Europas. Cohen war ein unermüd­licher Autor, ein Berater staatlicher Institutionen, einer der besten Kenner Le Corbusiers, ein Propagandist wissenschaftlicher Architekturforschung, ein Netzwerkebauer und ein Städteliebhaber.
Zum ersten Mal bin ich diesem französischen Intellektuellen par excellence Anfang der 80er-Jahre als Student in Paris begegnet. Damals lehrte er die „Italianità“, den Italienbezug der französischen Architekten als Neubeginn der Architektur nach 1968, die nach der sozialen Frage eben auch die der Stadtgeschichte und mit den Bauten und Schriften von Aldo Rossi, Vittorio Gregotti und Carlo Aymonino die Bedeutung der urbanen Form wiederentdeckten. Den formalen Dogmatismus eines historisierenden Städtebaus, der mit dieser Italianità in Deutschland bald verknüpft war, hat er vermieden. Er sprach von einem „aller et retour“ einem Hin und Her der Konzepte.
Diesen Wechselwirkungen widmete er seine ganze Aufmerksamkeit. Jenseits nationaler Architekturgeschichtsschreibung „im Vergleich“ zu forschen war eines seiner Prinzipien. Er untermauerte diese Vergleiche zwischen Städten und Ländern durch eine Methodik, die er poststrukturalistisch begründete, aber auch ganz eigen als „histoires croisées “ als überkreuzte Geschichten verstand, denen er noch ein großes Buch widmen wollte.
Seine Vorträge an vielen Unis der Welt waren ein Ereignis. Einerseits wegen der Fülle an unbekannten Materialien, die er parat hatte, aber auch wegen der Art, mit der er die Architektur im Spannungsfeld von Gesellschaft und Politik veran­kerte – er sah die Architektur als intellektuelles Abenteuer. Zwischen 2013 und 2021 hat er als erster überhaupt am legendären Collège de France in Paris Architektur und Städtebau unterrichtet. Gab es für ihn so etwas wie eine „europäische Stadt“? Ja, aber nie in der Figur der vor-industriellen Stadt eines Maurice Culot. Die Rede von einem festen Kanon ihrer urbanen Formen hielt er für lächerlich. Die europäischen Städte verändern sich ständig, und, nach seiner einprägsamen Formulierung, „sie betrachten sich in dieser Veränderung gegenseitig“. Folglich analysierte er mit Vorliebe Städtepaare und entwickelte daraus große Ausstellungen. Angefangen von der legendären, ko-kuratierten Ausstellung Paris-Berlin 1989 am Centre Beaubourg behandelte er die Paare Paris und London, New York und Paris, Chicago und Moskau, Paris und Algier, Los Angeles und Casablanca. Sprach er von diesen Wechselbeziehungen und einer „inter-urbanité“, dehnte er mit französischem Akzent die Silben des Englischen „Trans-urban“ bis das Hin- und Her-Fließen der Einflüsse förmlich im Raum stand.
Als er 2014 unter dem Titel „Modernity, Promise or Menace?“ den französischen Pavillon der Biennale in Venedig kuratierte, stellte er die Krisen und die Errungenschaften der Moderne scharf nebeneinander – keine französische Jubelschau. Dem Gesamtkurator Koolhaas warf er vor, die Fakten für dessen Konzept einer 100-jährigen Technikgeschichte zumindest zurechtzubiegen. Er selbst betrachtete jede Ausstellung als eine Art Exerzitium. Eine seiner rätselhaft-schönen Auskünfte lautete, Ausstellungen seien auch eine Art Therapie für ihn. Die 2014 zuerst in Straßburg, dann in Frankfurt im DAM gezeigte und zusammen mit Hartmut Frank kuratierte Schau der „Interférences“, der Wechselbeziehungen der Architektur zwischen Frankreich und Deutschland von 1800 bis 2000 gehört zu den wichtigsten Ausstellungen des deutsch-französischen Verhältnisses überhaupt. Bereits 2010 erhielt er den Schelling-Preis für Architekturtheorie.
Für die Pariser Großinstitution „Cité de l’Archi­tecture“ im Palais de Chaillot entwickelte er ab 1998 das Grundkonzept des nationalen Architekturmuseums. Die Sache ging damals nicht glücklich aus. Er wurde nach fünf Jahren, also noch vor der Eröffnung 2007, entlassen. Sicher ist, dass sich die Cité internationaler ausgerichtet hätte, hätte er sie bis zur Eröffnung begleitet.
Geboren wurde er 1949 in einfachen Pariser Wohnverhältnissen im Quartier Buttes-aux-Cailles in einem politisch aktiven Elternhaus. Aufenthalte in Ferienlagern in der DDR und in Moskau haben früh sein Interesse für die Architektur jenseits des Eisernen Vorhangs geprägt. Er hinterlässt ein Bündel unvollendeter Projekte. Dazu zählt eine Ausstellung zur Architektur in Frankreich unter dem Vichy-Regime und das Großvorhaben eines auf acht Bände angelegten „Catalogue raisonné“ der Zeichnungen von Frank Gehry. Ein erster Band ist erschienen. Er selbst sagte einmal, er wolle, bis er 100 ist, weiterschreiben und -arbeiten. Dazu ist es nicht gekommen. In der Ardèche, neben Paris, New York und Rotterdam einer seiner Wohnorte, ist er an den Folgen eines allergischen Schocks gestorben. Er wird auf vielen Bühnen fehlen, mit seiner Kenntnis, seinen langfristigen Projekten und seiner Präsenz. Dass da plötzlich einer aufsteht im Publikum und anschaulich eingreift in die Debatte über die Entwicklung der Stadt, gemäß seiner Devise: J’aime les villes et les fréquente, avant de les étudier – Ich liebe die Städte und durchstreife sie, bevor ich sie studiere.

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