Identität durch Material
Der Architekturhistoriker Ruslan Muradow ist einer der wenigen turkmenischen Autoren, die im internationalen Kontext publizieren. In diesem Beitrag skizziert er die bauliche Vergangenheit der Stadt Aschgabat. Die prägenden Materialien einer jeweiligen Epoche nutzt er als Narrativ seiner Geschichtsschreibung.
Text: Muradow, Ruslan
Identität durch Material
Der Architekturhistoriker Ruslan Muradow ist einer der wenigen turkmenischen Autoren, die im internationalen Kontext publizieren. In diesem Beitrag skizziert er die bauliche Vergangenheit der Stadt Aschgabat. Die prägenden Materialien einer jeweiligen Epoche nutzt er als Narrativ seiner Geschichtsschreibung.
Text: Muradow, Ruslan
Die Chronik des modernen Aschgabats umfasst etwas mehr als zweihundert Jahre. Lässt man die archäologischen Stätten außer Acht, so kann man die kontinuierliche Entwicklung von einer kleinen turkmenischen Siedlung zur Hauptstadt des Landes in fünf Perioden einteilen. Der Ausgangspunkt ist das Jahr 1811: die erste Erwähnung des Namens in einer persischen Chronik. Die nächsten Meilensteine sind 1881 (russische Eroberung), 1921 (Errichtung der Sowjetmacht), 1948 (Zerstörung durch ein starkes Erdbeben) und 1991 (Ausrufung eines unabhängigen Staates). Jeder Zeitabschnitt ist mit bestimmten ty-pischen Qualitäten der Stadtplanung und Architektur verbunden. Und jede Periode kann durch einen gemeinsamen Namen beschrieben werden, der mit dem charakteristischsten Baumaterial verbunden ist: die Lehmstadt, Ziegelstadt, Gipsstadt, Betonstadt und Marmorstadt.
Diese Bezeichnungen sind sehr konventionell. In der Lehmstadt vor der russischen Invasion gab es neben den traditionellen Jurten mit Holzpfählen und Filzteppichen vor allem Wohngebäude aus ungebranntem Ziegel. In der Ziegelstadt, die die russischen Militärs zu bauen begannen, war in der Regel nur die Verkleidung aus Ziegeln, und die tragenden Wände waren aus demselben Lehm gebaut wie vorher. In der Stuckstadt, die in der schwierigen Zeit der wirtschaftlichen Zerstörung nach dem Ende des Bürgerkriegs ab 1920 aufgebaut wurde, entstanden mit Stuck verkleidete Holzbauten. Darüber hinaus begann die aktive Nutzung von Metallkonstruktionen im Industriebau.
Nach dem Erdbeben von 1948, dem bis zu 200.000 Menschen zum Opfer fielen, bauten die Aufbauhelfer massenhaft Leichtbauhütten in Holzrahmenbauweise. Aber schon 1951 begann der Bau von erdbebensicheren Gebäuden in monolithischer Stahlbetonbauweise und weitere zehn Jahre später – nach der vollständigen Entstalinisierung der Turkmenischen SSR – begann die Ära der Sowjetmoderne. Die Betonkonstruktion als Großtafel oder Skelett löste den Ziegelstein als dominantes Material ab. Gleichzeitig wurde der gebrannte Ziegelstein weiterhin als Wandfüller verwendet. Lehm und Holz verschwanden dagegen völlig vom Baumarkt in der Hauptstadt. Als Turkmenistan 1991 seine Souveränität erlangte, begann der Siegeszug des weißen Marmors. Er wurde zur Hauptmarke der Architektur in Aschgabat, hinter der sich jedoch dieselbe monolithische Stahlbetonkonstruktion mit Ziegelausfachung verbirgt.
Die Identifikation mit Lehm, Ziegel, Gips, Beton und Marmor ist zu einer Art Charakteristik der Stadt geworden. Daran kann man sowohl die Einzigartigkeit der Stadt als auch ihre Typologie erkennen, wenn man sie etwa mit anderen zentralasiatischen Hauptstädten vergleichen. Taschkent, Duschanbe oder Bischkek mögen heute nicht so viel Marmor aufweisen, aber sie alle haben einen sehr ähnlichen Weg von verwinkelten Straßenlabyrinthen zwischen fensterlosen Lehmwänden zu geordneten Stadtgrundrissen nach europäischem Vorbild zurückgelegt.
Stadt ohne Denkmäler
Im Gegensatz zu vielen anderen Großstädten in Zentralasien gibt es in Aschgabat keine historischen Denkmäler. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass die turkmenische Hauptstadt gemeinhin als junge Stadt wahrgenommen wird. Zu Sowjetzeiten wurde als offizielles Gründungsdatum das Jahr 1881 genannt, was nur teilweise stimmt, da es sich auf die Errichtung des kolonialen Teils bezieht, aber die Existenz eines viel älteren Stadtteils außer Acht lässt. Nach den archäologischen Funden zu urteilen, gehörten die Siedlungen, die dem Gebiet entsprechen, das später als Aschgabat bekannt wurde, bereits Ende des 1. Jahrtausends v. Chr. zum Einzugsbereich der Seidenstraße.
Das einzige erhaltene Zeugnis aus dieser Zeit war bis vor wenigen Jahren ein kleiner Hügel im Zentrum der Hauptstadt, der in der Umgangssprache einfach Gorka genannt wird. Er erhob sich als amorphe Masse zwischen dem heutigen Zentralplatz (Garashsizliq-Platz) und der Görogly köçesi (ehemals SchewtschenkoStraße) und barg in seiner Massivität Spuren der antiken Kultur sowie des frühen und entwickelten Mittelalters. Dieses vielschichtige archäologische Denkmal ist nie vollständig erforscht worden. Beim Wiederaufbau des Stadtzentrums nach dem Erdbeben 1948 wurde der Hügel weitgehend abgetragen, und der verbliebene Rest wurde 1997 vollständig abgerissen. Fünfzehn Jahre später entstand an seiner Stelle das Gebäude der turkmenischen Regierung.
Bei Ausgrabungen am Fuße von Gorka fanden Archäologen parthische Keramik (3. Jh. v. Chr. bis 3. Jh. n. Chr.), die die Existenz einer befestigten Siedlung der Arschakiden-Dynastie vermuten lässt. Dabei handelt es sich um das berühmte Nisa, dessen Ruinen heute die wertvollste bauhistorische Attraktion in der Umgebung von Aschgabat sind und 2007 in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen wurden.
Die nächste chronologische archäologische Schicht von Gorka stammt aus der Zeit nach der arabischen Eroberung und der Einführung des Islam. Aus dem 10. Jahrhundert sind die verbrannten Reste eines Gebäudes bei Grabungen freigelegt worden. Diese Burg war das Zentrum eines von Feldern umgebenen Dorfes und wurde, wie alle anderen Siedlungen des mittelalterlichen Turkmenistans von mongolischen Eroberern im frühen 13. Jahrhundert zerstört. Für die Folgezeit gibt es wieder eine große Wissenslücke. Nur in den oberen Schichten fanden die Ausgräber Keramik des späten Mittelalters. Aber auf Spuren von Gebäuden stießen sie nicht. Daraus lässt sich schließen, dass es hier im 16. bis 18. Jahrhundert höchstwahrscheinlich ein persisches Nomaden- oder Militärlager gab. 1881 schließlich wurde ein russischer Außenposten, eine Art Kreml errichtet, um den herum sich die heutige Stadt zu formieren begann. Das verschwundene Gorka kann als dessen Kern als historisches Zentrum bezeichnet werden.
Neben Gorka haben Archäologen in der Stadt und ihrer unmittelbaren Umgebung mehr als hundert ähnliche, oft noch ältere Stätten entdeckt. Die meisten von ihnen sind im Zuge der modernen Bebauung verschwunden. Nur am südwestlichen Stadtrand, einen Kilometer vom Denkmal der Verfassung entfernt, erhebt sich noch die archaische Siedlung Akdepe. Ihre Struktur geht auf die Jungsteinzeit zurück. Dort befinden sich die Ruinen der Seyit Jamal ad-Din-Moschee, die die Timuriden Mitte des 15. Jahrhunderts errichteten. Obwohl die Moschee dem Erdbeben zum Opfer fiel, haben historische Fotografien ihr Erbe bewahrt. Das Hauptmerkmal dieses Denkmals war das für Zentralasien einzigartige Bild über dem Bogen des zentralen Portals: zwei sich windende Drachen, die sich in einer heraldischen Komposition gegenüberstehen – ein Motiv, das mit der chinesischen Ikonographie in Verbindung gebracht wird, aber in der islamischen Kunst bereits im 13. und 14. Jahrhundert nachzuweisen ist.
Die zeitliche Lücke zwischen den Siedlungen und der heutigen Stadt ist so groß, dass man nicht von einer städtischen Kontinuität oder funktionalen Zusammenhängen sprechen kann. Eine solche Verbindung lässt sich erst ab dem frühen 19. Jahrhundert nachweisen, als Aschgabat gegründet wurde. Seitdem hat sich die Stadt immer wieder neuen politischen Verhältnissen angepasst.
Aus dem Russischen von Dmitrij Chmelnizki
0 Kommentare