Erbschaften
Eine Seminarreihe am Institut für Architekturbezogene Kunst der TU Braunschweig widmete sich der Erkundung des eigenen Ortes und seiner Vergangenheit. Wo einst zum baulichen Luftschutz geforscht wurde, ist ein interdisziplinärer Diskurs entstanden.
Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin
Erbschaften
Eine Seminarreihe am Institut für Architekturbezogene Kunst der TU Braunschweig widmete sich der Erkundung des eigenen Ortes und seiner Vergangenheit. Wo einst zum baulichen Luftschutz geforscht wurde, ist ein interdisziplinärer Diskurs entstanden.
Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin
Es gibt zwei diametrale Methoden, um sich einen Ort anzueignen: Entweder man packt eine neue Schicht drauf, macht alles neu, oder aber, man trägt die alten Schichten ab, schaut nach, was war. Als in Braunschweig aus dem „Institut für baulichen Luftschutz“, das zu Beginn des zweiten Weltkriegs im Querumer Forst errichtet worden war, um effiziente Bunkerbewehrung zu erproben, in den Siebzigern das „Institut für Elementares Formen“ wurde, wand der neue Leiter des Instituts, Jürgen Weber, erstere Methode an. Er ließ den Bestand nach Plänen von Zdenko Strižić umbauen. Bilder von 1972 zeigen ein hel-les Gebäude, mit fließenden Übergängen und großen Ateliers – inmitten des Walds, etwa sechs Kilometer vom innenstadtnahen Campus der TU Braunschweig entfernt. Nach Webers Emeritierung wurde es unter Azade Köker zum „Institut für Bildende Kunst“, die es schließlich umbenennt in „Institut für Architekturbezogene Kunst“. 2016 folgte die Künstlerin Folke Köbberling auf diese Professur und bringt nun die zweite Methode der Aneignung zum Einsatz: Ihre Studierenden graben in einer mehrjährigen Suchaktion die Geschichte des Ortes aus, wortwörtlich.
Braunschweiger Bewehrung
Als Köbberling ihre Professur in Braunschweig antrat, holte sie den Künstler Gergely László als wissenschaftlichen Mitarbeiter ans Institut. Zusammen mit der Kuratorin und Autorin Alice Goudsmit initiierte er die fünfteilige Seminarreihe „Erbschaften“, deren Ergebnisse nun in gebundener Form vorliegen. Ziel war es zunächst, sich über die künstlerische Forschung mit dem Ort vertraut zu machen. László beschreibt diese Art zu Arbeiten als einen zeitgenössischen Ansatz, bei dem die Grenzen zwischen Kunst und Forschung verschwimmen, bei dem künstlerische Eingriffe einen wissenschaftlichen Diskurs anregen.
Die Geschichte des Ortes nahm ihren Anfang mit Beginn des zweiten Weltkriegs, als 1939 im Querumer Forst unter der Institutsleitung von Bauingenieur Theodor Kristen das Institut für baulichen Luftschutz entstand. Mithilfe von Versuchen an Modellbunkern im Maßstab 1:5 wurde in dem abgelegenen Waldstück eine möglichst effiziente Bauweise für Bunkeranlage erprobt – die sogenannte Braunschweiger Bewehrung. Durch die Platzierung von etwa 60 Prozent des Stahls an der Unter- bzw. Innenseite des Baukörpers und eine große Maschenweite der Stahleinlage sowie eine insgesamt geringen Stahl-einsatz erzielte die Braunschweiger Bewehrung eine hohe Schutzwirkung, die andere Bauweisen nur mit größerem Stahlanteil schafften. Mittlerweile von der Natur zurückerobert, finden sich noch heute Versatzstücke im Unterholz.
Vom Finden
Nachdem den Studierenden anfangs freigestellt war, auf welche Aspekte sie sich konzentrieren, lag der Fokus im letzten Teil der Seminarreihe auf den Kriegsjahren. Im Buch heißt es: „Ursprünglich war Erbschaften V in Etappen angelegt. Erst sollte eine Strategie für das Vorgehen entwickelt und Theorien rund um das Graben im künstlerischen Kontext erläutert werden. Aber als sich die Gruppe das erste Mal zur Vorbesprechung im Ap-ril 2021 traf, entwickelten sich die Dinge schneller als erahnt. Die Gruppe ging mit Spaten und Spitzhacken in den Wald. […] Binnen einer Stunde ist die Gruppe auf einen großen Fund gestoßen: Das Fundament des ehemaligen Sprengturmes. […] Nun haben wir eine Fundstelle, die viele Fragen aufwirft [...] uns beauftragt, uns mit der Vergangenheit im Sinne einer korrekten, würdigenden und inklusiven Aufarbeitung zu beschäftigen.“ Diesen Auftrag setzten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Seminars auf sehr verschiede-ne Arten um. Zwei Studierende kam wöchentlich einen Tag zum Graben in den Wald und entdeckten eine Treppe, die in einem Raum in vier Meter Tiefe endete. Gerüchte über einen möglichen Tunnel veranlassten die Studierenden dazu, weitere Fachbereiche der Universität zu involvieren, um mit deren Techniken tiefer in die Materie vorzudringen. So half das „Institut für Geophysik und Extraterrestrische Physik“ beim Vermessen der Umgebung und das „Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt“ führte die Methode der Oral History ein, um die multiperspektivische architekturgeschichtliche Betrachtung zu eröffnen. In diesem Sinne hinterfragten zwei Studentinnen die eindimensionale historische Erzählung und fanden in Akten und Archiven Belege für Zwangsarbeit auf dem Modellgelände. Entdeckungen wie diese führen zu wei-
terer Aufarbeitung, der sich die Universität noch auf Jahre wird widmen müssen. Die Publikation vereint viele weitere Projekte, die jetzt ein umfangreiches Bild des Ortes nachzeichnen und ihn zugleich fortschreiben. Viele Fragen sind noch offen; auch die nach dem Umgang mit den Funden, die nur provisorisch gesichert wurden. Darauf, was die Funde für die Initiatoren des Suchprojekts bedeuten, antwortet Gergely László: „Das Projekt ist uns über den Kopf gewachsen. Wir haben nicht mehr die Kontrolle darüber. Es lebt. Das ist ein Traum von einem Kunstprojekt, dass es sich loslöst und ein eigenes Leben hat.“
terer Aufarbeitung, der sich die Universität noch auf Jahre wird widmen müssen. Die Publikation vereint viele weitere Projekte, die jetzt ein umfangreiches Bild des Ortes nachzeichnen und ihn zugleich fortschreiben. Viele Fragen sind noch offen; auch die nach dem Umgang mit den Funden, die nur provisorisch gesichert wurden. Darauf, was die Funde für die Initiatoren des Suchprojekts bedeuten, antwortet Gergely László: „Das Projekt ist uns über den Kopf gewachsen. Wir haben nicht mehr die Kontrolle darüber. Es lebt. Das ist ein Traum von einem Kunstprojekt, dass es sich loslöst und ein eigenes Leben hat.“
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