Bauwelt

Menschen aus der Nachbarschaft

Das Leonhardi-Museum widmet den Alltagsaufnahmen der Fotografin Helga Paris eine Schau. Dazu gehört auch ihre Dokumentation des baulichen Verfalls der Innenstadt von Halle.

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

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    Fotoaufnahme der Großen Klausstraße in der Altstadt von Halle.
    Foto: Helga Paris

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    Fotoaufnahme der Großen Klausstraße in der Altstadt von Halle.

    Foto: Helga Paris

Menschen aus der Nachbarschaft

Das Leonhardi-Museum widmet den Alltagsaufnahmen der Fotografin Helga Paris eine Schau. Dazu gehört auch ihre Dokumentation des baulichen Verfalls der Innenstadt von Halle.

Text: Scheffler, Tanja, Dresden

Wenn man sich die Fotoserien genauer anschaut, dann entdeckt man etliche Abbildungen von Quartieren, die man in dieser Form heute gar nicht mehr vor Ort finden könnte: Einige mussten im Zuge der ostdeutschen Stadterneuerung in den 1980er-Jahren Plattenbauten weichen. Der morbide Charme der gründerzeitlichen Straßenzüge wurde nach der Wende wegsaniert. Und die düstere Atmosphäre der vernachlässigten Innenstädte ist frisch verputzten, neu gestrichenen Fassaden und roten Ziegeldächern gewichen. Diese „alten Aufnahmen“ beeindrucken als eigenständige künstlerische Arbeiten und gleichzeitig auch dokumentarische Zeitzeugnisse, die als fotografische Essays aus einer vergangenen Zeit die komplexen Geschichten der jeweiligen Orte erzählen.
Helga Paris gehört zu den bedeutendsten Fotografinnen der DDR. Sie wurde 1938 in Gollnow in Pommern (heute: Goleniów in Polen) geboren und wuchs nach dem Krieg in Zossen bei Berlin auf. Sie studierte zunächst Modegestaltung an der Fachschule für Bekleidung in Berlin und unterrichtete zeitweise Kostümkunde an einer Berufsschule. Danach war sie als Gebrauchsgrafikerin bei der DEWAG tätig und begann ab 1964, sich autodidaktisch mit dem Medium der künstlerischen Fotografie auseinanderzusetzen. Um sich auch die technischen Grundlagen anzueignen, arbeitete sie vorübergehend als Fotolaborantin mit fließendem Übergang zur freiberuflichen Tätigkeit als Fotografin. 1972 wurde sie in den Verband Bildender Künstler der DDR (VBK) aufgenommen und hatte 1978 ihre erste eigene Ausstellung an der HfBK Dresden. Ihre berufliche Herkunft kann man anhand der Fotoserie „Frauen im Bekleidungswerk VEB Treffmodelle Berlin, 1984“ nachvollziehen, die stolze Arbeiterinnen mit unterschiedlichen Kittelschürzen in den verschiedenen Bereichen des Betriebs zeigt.
Im Leonhardi-Museum ist aktuell die in den letzten Jahren weltweit tourende, für Dresden um rund 30 Künstlerporträits ergänzte Wanderausstellung „Helga Paris. Fotografie“ des Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) mit Aufnahmen aus der Zeit von 1968–1997 zu sehen. Ein dreiteiliger, in Triptychon-Form aufgebauter Dokumentarfilm von Helke Misselwitz gibt ergänzende Einblicke in das Leben und Werk der Fotografin.
Helga Paris wurde durch ihre subtilen Alltagsfotografien bekannt. Ihr Werk ist jedoch breit gefächert. Sie schuf, geschult durch die Malerei der Moderne, durch Kino und Theater, ein umfangreiches Œuvre an Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit einer großen atmosphärischen Vielfalt. Ihre ersten Motive waren meist Menschen aus ihrer Nachbarschaft in Berlin-Prenzlauer Berg, wo sie seit 1966 wohnt. Sie fotografierte aber auch Theaterinszenierungen, Personen in Kneipen, Pausenräumen und Werkhallen, Straßenszenen und Bahnhöfe. Da viele ihrer Motive nicht den offiziell erwünschten Bildkanon der DDR bedienten, sicherte sie sich ihren Lebensunterhalt lange Zeit durch die Reproduktionen von Kunstwerken für Kataloge und fotografierte parallel dazu im eigenen Auftrag zu verschiedenen Themen des städtischen Lebens.

Eine unschätzbare historische Quelle

Ihr auf den ersten Blick eher unprätentiöses Werk gewinnt, weil es neben der Atmosphäre der DDR auch viele später abgerissene Bauten und mittlerweile deutlich veränderte Stadträume zeigt, aus zeithistorischer Perspektive immer mehr an Bedeutung. Dies zeigt sich besonders deutlich an der zwischen 1983 und 1985 in Halle entstandenen Fotoserie der „Häuser und Gesichter“, die neben städtebaulichen Fehlstellen und dem Verfall der Altstadt auch die stolze Schönheit der historischen Bauten und in dieser Stadt lebenden Menschen zeigt.
Ab den frühen 1980er-Jahren veränderten sich in vielen größeren Städten der DDR einzelne, vorher jahrzehntelang vernachlässigten Altstadtbereiche durch die Errichtung von großen Neubau-Ensembles (wie dem Ost-Berliner Nikolaiviertel) und die damit einhergehenden Abrisse der historischen Bausubstanz rapide. In Helga Paris‘ Kollegenkreis tauchte daher die Idee auf, einige dieser baulichen Strukturen im eigenen Auftrag noch mal systematisch zu fotografieren, ähnlich wie bei Berenice Abbotts fotografischen Großprojekt „Changing New York“, das bis heute für Denkmalpfleger, Stadthistorikerinnen und Architekten eine unschätzbare historische Quelle ist. Da Helga Paris‘ Tochter damals in Halle studierte, entschied sie sich, diese Stadt zu dokumentieren. Dabei fing sie mit Straßenzügen mit vorbeieilenden Menschen an, entschloss sich später jedoch, ihr Projekt in separate Porträts von Häusern und Menschen zu unterteilen.
Halle gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den am besten erhaltenen deutschen Großstädten. Da viele Ressourcen des Bezirks jahrzehntelang nach Halle-Neustadt flossen, kam die Altstadt jedoch immer mehr herunter. Dadurch gab es ab den 1980er-Jahren starken Handlungsdruck, im historischen Zentrum Stadterneuerung zu betreiben. Dabei entstanden nach den Wohngebieten „Brunos Warte“ und „Alter Markt“ in dem zwischen Markt, Dom und Ring gelegenen Gebiet „Am Domplatz“ ab 1985 weitere, dem historischen Straßenverlauf annähernd folgende Wohnbauten in Großtafelbauweise mit Läden in der Erdgeschosszone, die sich durch eine differenzierte Baumassengliederung, viele Sonderelemente (verglaste Loggien, Dachterrassen mit Stahlbetonlamellen, Erker, gesprengte Giebel), verschiedene Materialien und Oberflächen auszeichnen und seit einigen Jahren als herausragende Bauten der Spätphase der DDR auch unter Denkmalschutz stehen.
Helga Paris dokumentierte hier die ruinösen, für den Abriss bereits leer gezogenen Altbauten rund um die Große Klausstraße. Auch weitere ihrer in kontrastreichem Schwarz-Weiß aufgenommenen Fotos zeigten ein desolates Bild: Die Fassaden der historischen Gebäude bröckelten, die Dächer waren teilweise bereits abgedeckt, Straßen und Plätze marode. Diese Aufnahmen passten jedoch nicht zur gewünschten Darstellung der Stadt und wurden von offizieller Seite als Kritik an der damaligen Wohnungsbaupolitik aufgefasst. Die 1986 in der Galerie Marktschlößchen geplante Ausstellung „Häuser und Gesichter. Halle 1983–1985“ wurde wenige Tage vor der Eröffnung abgesagt. Denn die Diskrepanz zwischen der offiziellen Propaganda und dem tatsächlichen Zustand der Stadt war unübersehbar. Erst 1990 konnten diese Bilder in Halle öffentlich gezeigt werden und trafen sofort den Nerv der Zeit. Sie avancierten – unter dem Titel des in mehreren Auflagen herausgebrachten Foto-Bildbandes „Diva in Grau“ (Bauwelt 15-16.2006) – zur viel zitierten Chiffre des Nachwende-Selbstverständnisses Halles, als baukulturell wertvolle historische Stadt. Zeit also, beim nächsten Besuch vor Ort mal genauer hinzuschauen.

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