Nach dem Ausnahmezustand
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Nach dem Ausnahmezustand
Text: Geipel, Kaye, Berlin
Was geschieht mit dem Bild der Stadt, wenn von heute auf morgen nur noch die Hälfte der Menschen auf der Straße unterwegs ist? Die Autorin Lily Scherlis hat Pieter Bruegels legendäre „Kinderspiele“ auf unserem Titelbild manipuliert und viele Bewohner herausgepixelt. Wir sehen sofort, dass etwas nicht stimmt. Und wir sehen auch, wie sehr wir die Fülle der öffentlichen Räume für selbstverständlich, ja für das gelungene Leben selbst halten. Die 1,5-Meter-Regel, die Maskenpflicht und die Vorgaben für Versammlungen ändern die gewohnte Nutzung des Stadtraums von Grund auf. Öffentliche Räume und mit ihnen die Verletzlichkeit der städtischen Infrastrukturen stehen im Zentrum der Auswirkungen der Krise. Wir haben den Projektteil in diesem Heft einer Reihe von Städten gewidmet, die in vorderster Linie der Covid-19-Pandemie standen: Wuhan, To-kio, Heinsberg, Paris, Turin und New York.
Unfreiwilliger Selbstversuch
Wie die Pandemie die gewohnte Logik der Stadtstruktur langfristig verändern wird, darüber lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Die Standards des Wohnungsbaus und die Frage nach der Dichten Stadt stehen in jedem Fall im Fokus. Wird es nach der Krise, wie ein Pressetext bestürzt vermeldet („Coronakrise stellt die Zukunft des Büroturms in Frage“), schwer werden, Hochhäuser zu bauen? Natürlich nicht. Wenn aber ökonomisch höchst erfolgreiche Typologien wie die Microwohnungen („Was wird aus Investors Lieblingskind?“), die gewachsene Quartiersstrukturen immer mehr bedrängen, etwas ins Abseits rückten, wäre dies kein Nachteil.
Welche architektonischen und städtebaulichen Maßnahmen in den nächsten Monaten mit neuer Energie auf den Weg gebracht werden könnten, dazu hat der BDA in Bayern kürzlich eine große Wunschliste zusammengetragen: Förderung regionaler Kreisläufe, Verbesserung der digitalen Infrastruktur, neue Mobilitätskonzepte auch für die Region, durchmischte Ganztagesnutzungen, Aufwertung öffentlicher Räume in Städten und Dörfern, Umnutzung bestehender Bausubstanz vor Abriss und Neubau, vollständige Dekarbonisierung im Bauwesen, um nur einige Punkte der Liste zu zitieren. Wenn man diese durchliest, fliegt einem das Herz hoch. Was für eine Chance könnte sich da bieten! Man sollte sich nicht täuschen lassen. Die städtischen und die ländlichen Räume sind zwar das große, alles umfassende Haus, in dem sich unser Leben abspielt. Aber solange die Mauern noch stehen, rangiert der Renovierungsbedarf nicht oben auf der Agenda. Die großen Nutzer der staatlichen Konjunkturprogramme, die Stützung der Wirtschaft, die Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit und die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge führen allenfalls indirekt zu einem zukunftsorientierten Umbau der Stadt.
Wenn also dieser „große unfreiwillige Selbstversuch in Sachen Zukunft der Stadt“ (Niklas Maak in der FAZ) nicht zu einem Selbstversuch in neuer Ohnmacht werden soll, braucht es praktikable Programme. Wir werden in der nächsten Stadtbauwelt unter dem Stichwort „Robust“ Lösungsmöglichkeiten zusammentragen. Auch der diesjährige Bauwelt-Kongress, der am 3. und 4. Dezember in Berlin stattfinden wird, steht unter diesem Thema. Dazu sind Sie an dieser Stelle schon herzlich eingeladen.
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