Bauwelt

Surreales, Melancholie und eine Prise Ironie

Der Krieg in der Ukraine zieht nach sich, was schon von anderen Kriegen bekannt ist: die Plünderung von Museen durch die Besatzer. Der Ingenieur und Fotograf Sergiy Lebedynsyy brachte Werke der Charkiwer Schule in Sicherheit und nun im Kunstmuseum Wolfsburg an die Wände.

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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Boris Mikhailov, aus der Serie „Yesterday’s Sandwich“, Ende der 1960er- bis 1970er-Jahre, Überlagerung von Farbdias, 100 × 150 cm
Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Courtesy der Künstler und Barbara Weiss Gallery

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Boris Mikhailov, aus der Serie „Yesterday’s Sandwich“, Ende der 1960er- bis 1970er-Jahre, Überlagerung von Farbdias, 100 × 150 cm

Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Courtesy der Künstler und Barbara Weiss Gallery


Surreales, Melancholie und eine Prise Ironie

Der Krieg in der Ukraine zieht nach sich, was schon von anderen Kriegen bekannt ist: die Plünderung von Museen durch die Besatzer. Der Ingenieur und Fotograf Sergiy Lebedynsyy brachte Werke der Charkiwer Schule in Sicherheit und nun im Kunstmuseum Wolfsburg an die Wände.

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Jeder Krieg bedroht auch Kulturgüter. Das zeigte sich etwa nach der ukrainischen Rückeroberung Chersons im November 2022: Die russischen Besatzer hinterließen viele Museen zerstört und geplündert. Dieses Los wollte Sergiy Lebedynskyy dem fotohistorischen Erbe seiner Geburtsstadt Charkiw ersparen. Die dortige informelle Schule der Fotografie zählt seit den 1960er-Jahren zu einer experimentierfreudigen wie auch sowjetkritischen Spielart der Lichtbildnerei. Lebedynskyy, 2013 an der BTU Cottbus als Ingenieur promoviert, lebt und arbeitet seit rund zehn Jahren in Wolfsburg. Er fotografiert als Teil der Charkiwer Schule. Seit fünf Jahren sieht er seine Aufgabe zudem in deren Erforschung sowie der Bewahrung ihrer Werke. Wäre alles planmäßig verlaufen, hätte Ende 2022 das dieser Schule gewidmete MOKSOP Museum in der ostukrainischen Metropole eröffnet – als erstes Museum für Fotografie in diesem großen Land.
Stattdessen entschied sich Lebedynskyy wenige Wochen nach Kriegsbeginn, rund 5000 Fotografien und über 70.000 Negative (zusammen fast 2000 Kilogramm Material) aus Charkiw nach Deutschland und Österreich zu evakuieren – als Rückfracht in den Transportern humanitärer Hilfe. Das Kunstmuseum Wolfsburg bot mit seinem Depot professionelle Hilfe an. Nun ließ Museumsdirektor Andreas Beitin Sergiy Lebedynskyy die erste institutionelle Ausstellung zur Charkiwer Schule in Deutschland kuratieren, die einen Überblick über die Arbeit von 40 Fotokünstlerinnen aus vier Generationen gibt. In zahlreichen, auch konkurrierenden Gruppen formiert, wurden sie zu einem lokalen, eigenständigen „Phänomen“, erklärt Lebedynskyy.
Dieses ästhetische Kollektiv macht statt des plakativen Aufbegehrens die feine Verschiebung der Blickwinkel, der Sujets zu seiner Methode oder die Verfremdung fotografischer Techniken wie konventioneller Aufgaben. Die Bilder sind oft dunkel in der Stimmung, melancholisch im Ausdruck. Technisch reichen sie von der handwerklichen Collage – die osteuropäische Traditionslinie surrealistischer Fotografie – über die bewusste Fehlbelichtung, den Einsatz abgelaufenen, analogen Materials aus Sowjetzeiten bis zur nachträglichen Kolorierung. Und stets blitzt eine Prise Ironie durch, die wohl subtilste Waffe gegen jegliche Form staatlicher Regulierung.
Oft begann die Arbeit der Künstler mit bezahlten Aufträgen, so der Reproduktion, Retusche und dem Einfärben alter Fotografien gemäß Kundenwunsch, sogenannte Luriki. Daraus entwickelten sich eigene Bilder. Viktor und Sergiy Kochetov etwa, Vater und Sohn, zogen Schwarz-Weiß-Aufnahmen trostloser postsowjetischer Agrarlandschaften heran – und griffen dann zum Farbpinsel, um nur die typischen Kopftücher der Bäuerinnen intensiv rot zu färben. Bald aber sahen sie keine Menschen mehr in ihrem Sucher, sondern nur noch Luriki – lebende Luriki, wie sie schreiben.
Meister dieser Bildfindung ist der mittlerweile 85-jährige Boris Mikhailov. Er ist als einer der wenigen der Charkiwer Schule international bekannt, erhielt 2015 den Kaiserring Goslar. Seine „Sots Arts“, stark kolorierte Aufnahmen aus den sowjetischen 1970ern etwa, kippen ins Karikaturenhafte. Oder seine Projektion je zwei übereinandergelegter Farbdias: „Yesterday’s Sandwich“. Sie sind die materialisierte Uneindeutigkeit, der humorvolle Bildkommentar zu einer widerständigen Kulturtechnik, nämlich der, zwischen den Zeilen zu lesen.

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