Von menschlichen Suchmaschinen, Immunitätsmauern und Kleingärtnertagebüchern
Als ob die Großkunstschauen in Kassel und Athen (und in Venedig) nicht reichen würden: Gleichzeitig läuft in Westfalen auch noch die „Skulptur Projekte Münster“, die alle zehn Jahre veranstaltet wird
Text: Homann-Saadat, Shirin, Berlin
Von menschlichen Suchmaschinen, Immunitätsmauern und Kleingärtnertagebüchern
Als ob die Großkunstschauen in Kassel und Athen (und in Venedig) nicht reichen würden: Gleichzeitig läuft in Westfalen auch noch die „Skulptur Projekte Münster“, die alle zehn Jahre veranstaltet wird
Text: Homann-Saadat, Shirin, Berlin
Münster hat mehr als 50 Kleingartenkolonien, 300.000 Einwohner, eine Universität, ein Oberverwaltungsgericht, eine Immunitätsmauer und viele Fahrräder. Im Friedenssaal des historischen Rathauses fanden zwischen 1643 und 1648 die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden statt, und so steht dieser Raum für die Geburtsstunde des Völkerrechts. Im Rahmen der „Skulptur Projekte Münster 2017“ beherbergt der Friedensaal derzeit Leaking Territories, inklusive der flüchtigsten und deshalb vielleicht vernünftigsten Suchmaschine der Welt: Es ist die menschliche Suchmaschine der Künstlerin Alexandra Pirici und ihrer singenden Tänzerinnen. Menschen direkt in die Augen zu schauen und ihnen dabei eine Frage zu stellen, statt Flatscreens zu streicheln, ist inzwischen wieder avantgardistisch.
Alexandra Pirici in Münster und Anne Imhof, die auf der Kunstbiennale in Venedig gerade mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, haben etwas gemeinsam: Sie sind Künstlerinnen, die Situationen schaffen, sich dabei entziehen und durch ihre präzisen Choreografien opulente Strenge verbreiten. Ihre Arbeiten können weder gekauft noch gesammelt werden. Neu ist das nicht, trotz des herrschenden Hypes performativer Kunst. Aber es ist interessant und auf intelligente Art unverschämt. Etwas schade ist, dass Leaking Territories primär mit der Geschichte des Friedensaals arbeitet, weniger mit seiner Architektur. Der Raum bleibt nur Kontext und somit Bühne, statt Material der Arbeit.
Verlässt man das Rathaus, steht man im Stadtkern, der im Zweiten Weltkrieg zerstört und in den 50er Jahren auf Drängen der Bevölkerung rekonstruiert wurde. Im Vergleich zu anderen deutschen Städten hat Münster eine niedrige Bebauung, also einen hohen Anteil von Einfamilienhäusern und Villen. 2011 führte die Stadt eine Zweitwohnsitzsteuer ein. Münster ist schön und liegt in der von Streusiedlungen und Einzelhöfen geprägten Westfälischen Tieflandsbucht. Man sagt, die Lebenserwartung der Münsteraner sei eine der höchsten in deutschen Städten. Man sagt auch, dass die „Skulptur Projekte“ die langlebige Bevölkerung vor einigen Jahrzehnten noch in Rage gebracht hat. Heute ist die Stadt längst stolz auf ihre Kunst und die im zehnjährigen Turnus stattfindende Kunstausstellung.
Angekaufte Arbeiten prägen den Stadtraum, 35 neue Arbeiten gesellen sich bis zum 1. Oktober hinzu: mehr Kunst als Kleingartenvereine, was sowohl von den Einwohnern und Besuchern, als auch von den beteiligten Künstlern registriert wird. Einer von ihnen, Cerith Wyn Evans, entschloss sich deshalb, Münster keine neue Skulptur hinzuzufügen. Er verzog sich in eine brutalistische Kirche und veränderte dort mit einem Klimagerät die Temperatur der Kirchenglocke und damit ihren Klang. Skulpturflucht als künstlerische Maßnahme. Der Gedanke, man müsse der Stadt eher etwas nehmen, als etwas hinzufügen, ergibt Sinn. Was macht also ein Mensch, der zu viel Kunst in den eigenen vier Wänden hat? Er baut an oder zieht um.
Deshalb bitten die „Skulptur Projekte“ in diesem Jahr die Stadt Marl um räumliche Hilfe. In der Medizin nennt man so etwas raumgreifend. Als Kurator denkt man hingegen an den Tausch von Kunstwerken, an das Begleitprogramm und wirbt mit dem Kontrast der Städte. Was Athen für Kassel, ist Marl für Münster. So stützt eine Großveranstaltung den umstrittenen Trend der anderen, und Menschen mit Geld können wieder ohne schlechtes Gewissen nach Griechenland reisen. Kollektive Vergrößerung des eigenen CO2-Fußabdrucks durch Vielfliegerei im Namen der Kunst. Früher folgte die Gentrifizierung den Künstlern, heute projizieren Kuratoren „bespielbare Orte“ nach vorn. Künstler müssen sie nur noch befliegen, bestäuben und wieder verlassen, wie bestell- und versendbare Bienen landwirtschaftlicher Monokulturen.
Doch zurück zu den Münsteraner Kleingärten und der Immunitätsmauer. Eine Immunitätsmauer ist eine vielschichtige architektonische Angelegenheit. In Münster diente sie als dreidimensionale Vertragsgrenze zwischen dem Rechtsbereich der Kirche und dem der Bürgerstadt. Damals, um 1270, also im Mittelalter, teilte sich der Kontinent in zahlreiche Herrschaftsgebiete. Man war mit Kreuzzügen beschäftigt, und der christlichen Mehrheit war es auch innerhalb des eigenen Territoriums wichtig, sich von Andersgläubigen abzusetzen.
Siebenhundert Jahre später platzierte Daniel Buren im Rahmen der Skulptur Projekte 1987 eines seiner 4 Tore just an der Stelle, wo einst die Münsteraner Immunitätsmauer Kirche und Gemeinde trennte. Mitte 2016 entschloss sich die Stadt Münster Burens rot-weißes – mithin an einen Bauzaun erinnerndes – Tor permanent in der Domgasse aufzustellen. Für Zeiten, in denen Wahlprogramme mit Kürzungen des Kulturetats werben, Zäune und Mauern abermals politische und soziale Probleme lösen, und Kulturschutzgesetze die „Abwanderung deutschen Kulturbesitzes verhindern,“ also in unseren Zeiten, zeigt Münster kulturpolitisch Kante, und Burens Tor gewinnt, ohne weiteres Zutun des Künstlers, an Aktualität.
Etwas weiter nördlich, hinter der lauschigen Promenade, liegt der zurzeit ungewöhnlich stark frequentierte Kleingartenverein Mühlenfeld. Ernsthafte Kunst unterscheidet sich nicht sonderlich von ernsthaften Menschen: Sie weist über sich selbst hinaus. Während Burens Arbeit im mehr oder minder öffentlichen Raum auf die Vergangenheit Münsters verweist, lud Jeremy Deller 2007 für Speak to the earth and it will tell you (2007–2017) Münsters Kleingartenkolonien dazu ein, zehn Jahre lang botanische, klimatische, sowie gesellschaftliche und politische Daten zu protokollieren. Das Ergebnis dieser Langzeitstudie wird nun präsentiert. Wo? In einer Hütte des Kleingartenvereins Mühlenfeld. Kleingärtnertagebücher als künstlerisches Produkt bzw. „Folk Art Archive“. Deller liebt Folk Art, und die Münsteraner Kleingärtner lieben Deller.
Cornelia Wächter, eine der engagierten Gärtnerinnen, betonte im Gespräch mit der Autorin dieses Textes, dass die Arbeit an „Jeremys Grüner Bibel“ den Kleingärtnern neue Würde verleiht. Sie beschrieb, wie ihre Kinder im Laufe des zehnjährigen Protokollierens nicht nur älter wurden, sondern ein Umweltbewusstsein entwickelten, von dem Politiker, die sich mit Klimaschutz und Landwirtschaft beschäftigen, nur träumen können. Sie sprach über die Notwendigkeit von Stadtgemüse und pachtbaren Ackerflächen, wie Kuratoren über den Genius Loci oder den Geist eines Projekts sprechen. Einer ihrer Söhne ist inzwischen Steinmetz und hat für Deller ein Denkmal gemeißelt, völlig unkuratiert, Standort: Kleingartenverein Mühlenfeld bzw. Skulptur Projekte 2017.
Den Goldenen Löwen Münsters, wenn es ihn denn gäbe, würde die Autorin jedoch an Gerard Byrne verleihen, der auf subtilste Weise mit öffentlichem und privatem Raum spielt. In Our Time ist das begehbare Radiostudio einer vergangenen Ära, samt Radiosprecher, Wetterbericht und Oldies, die noch gar keine Oldies sind. Schritt für Schritt hinterfragt Byrnes Erzählung unseren Hunger nach Aktualität und Fakten und erklärt nebenbei, nur durch Wetterberichte, dass ganz Amerika im Nebel liegt. Seine filmische Inszenierung funktioniert so gut, dass die Besucher der Arbeit auf sanfte Art zu Mitarbeitern des Tonstudios werden. Wer genau hinschaut bemerkt, dass sich in den Sequenzen, in denen die Kamera Mitarbeiter der Radiostation beim Auf-und Abbau filmt, auch die Besuchergruppe im Raum bewegt und lichtet.
Die exzellente Bildqualität der Arbeit sowie die Nahaufnahmen von Gesichtern, Gitarren und Tonstudioequipment zeugen von einem Sinn fürs Detail, den Menschen haben, wenn sie von der großen Liebe ihres Lebens sprechen. Das Unheimliche und gleichzeitig Humorvolle der Arbeit bündelt sich in der Kaffeetasse des Radiosprechers, deren Schriftzug warnt: „Don’t mess with Texas.“ Auch die Wahl des Ortes für seine Installation zeugt von Byrnes Feinsinn. Es ist der öffentliche Klavierraum in der Stadtbibliothek, die vom Architektenteam Bolles & Wilson entworfen wurde. Byrne nimmt der Bevölkerung somit für die Dauer der Skulptur Projekte ein öffentliches Kleinod – aber schenkt ihnen für kurze Zeit ein neues.
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