Bauwelt

Was das Virus über Architektur im Anthropozän und die Resilienz von Stadtstrukturen lehrt

Die Covid-19-Pandemie führt uns wie unter einem Brennglas die Probleme vor Augen, die es im Anthropozän zu lösen gilt. Architektur, Infrastruktur und Stadtplanung spielen dabei eine ausschlaggebende Rolle.

Text: Stumm, Alexander, Berlin

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    Fortschreiten der Entwaldung in Bolivien von 1975 bis 2015. Dieses Gebiet liegt östlich von Santa Cruz de la Sierra in einem Gebiet des tropischen Trockenwaldes. 1975 Fotos: World History Archive/ Alamy Stock Foto

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    Fortschreiten der Entwaldung in Bolivien von 1975 bis 2015. Dieses Gebiet liegt östlich von Santa Cruz de la Sierra in einem Gebiet des tropischen Trockenwaldes. 1975

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    Satellitenbild von Bränden im Regenwald des Amazonasbeckens im August 2019
    Foto: TommoT/Alamy Stock Foto

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    Verbrannt für die Viehzucht: Amazonas-Regenwald in Paragominas in Brasilien
    Foto: Dylan Garcia Travel Images/Alamy Stock Foto

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    Verbrannt für die Viehzucht: Amazonas-Regenwald in Paragominas in Brasilien

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Was das Virus über Architektur im Anthropozän und die Resilienz von Stadtstrukturen lehrt

Die Covid-19-Pandemie führt uns wie unter einem Brennglas die Probleme vor Augen, die es im Anthropozän zu lösen gilt. Architektur, Infrastruktur und Stadtplanung spielen dabei eine ausschlaggebende Rolle.

Text: Stumm, Alexander, Berlin

Die überwältigende Mehrheit der in den letzten fünfzig Jahren neu auftretenden Krankheiten haben sich vom Tier auf den Menschen übertragen. Das Henipavirus sprang in Malaysia von Flughunden auf Schweine über, die wiederum Menschen infizierten. In Australien führte die zunehmende Suburbanisierung dazu, dass Flughunde den Hendra-Virus über Pferde auf den Menschen übertrugen. Die Wanderdrossel erhielt den zweifelhaf­ten Ruhm eines Superspreader, weil es das von Moskitos übertragene West-Nil-Virus verbreitete. Da der Singvogel landwirtschaftliche Felder als Ha­bitat bevorzugt, konnte sich die ursprünglich in Afrika aufgetretene Krankheit in den Vereinigten Staaten besonders gut verbreiten.
Beim neuartigen Coronavirus geht man derzeit vom Huanan Seafood Market in Wuhan als Epizentrum aus. Angeschlossen daran ist der Wildtiermarkt, in dem exotische Tiere lebend in engen Käfigen übereinandergestapelt feilgeboten wurden. Diese Tiere dienten als Übertragungsvek­toren von Covid-19, das wohl ursprünglich von Fledermäusen abstammt. Dazu kommen AIDS, Ebola, SARS, Vogelgrippe, Schweinegrippe – die Lis-
te der vom Tier übertragenen Krankheiten lässt sich fortsetzen.

Architektur als Vektor

Diese Entwicklung ist Folge des menschlichen Eindringens in immer abgelegenere Bereiche des Planeten. Das Eindringen wurzelt auf drei Faktoren: erstens die Ausweisung neuer Bebauungsgebiete für den ansteigenden Wohnbedarf; zweitens die für die Nahrungsmittelproduktion ausgelegte Landwirtschaft in Monokulturen; drittens die tiefe Durchdringung der Natur auf der Suche nach wertvollen Ressourcen aus wirtschaftlichen Gründen. Nun ließe sich einwenden, dass seit jeher Krankheiten die Wälder und die Tierwelt verlassen und ihren Weg in die Städte gefunden haben – Pest und Malaria sind zwei Beispiele dafür. Doch die neu auftreten­-den Krankheiten haben sich im letzten halben Jahrhundert vervierfacht.
Die Pandemie ist das Resultat verschiedener Entwicklungen, die mit Fragen der Architektur, der Infrastruktur und der Stadtplanung verflochten sind. Dies betrifft die Infektionswahrscheinlichkeit genauso wie die weltweite Ausbreitung des Virus über Flugreisen und Handelsnetzwerke. Die Pandemie ist keine Naturkatastrophe, sondern findet sich ursächlich in menschlichen Aktivitäten. Der Mensch greift gravierend in alle Bereiche der Natur ein, sodass eine neue erdgeschichtliche Epoche in aller Munde ist: das Anthropozän. Als Nachfolger des Holozäns bezeichnet das Anthropozän die Zeit, in welcher sich der Mensch auf planetarem Maßstab in das Erdsystem eingeschrieben hat. Der Anstieg von Kohlenstoffdioxid, Distickstoffmonoxid und Methan in der Atmosphäre, die zunehmende Oberflächentemperatur und die Versäuerung der Meere sind nur einige Folgeerscheinungen. Die traditionelle Unterscheidung von Natur und Kultur muss als hinfällig betrachtet werden. Der Mensch kann weder als „außerhalb“ der Natur, noch als ein gleichberechtigter Teil von ihr betrachtet werden.
Der Begriff Anthropozän verunklärt allerdings dessen Entwicklungsgeschichte. Nicht „der Mensch“ ist dafür verantwortlich, sondern ein auf ka­pitalistischen Prinzipien basierendes System von Kolonialismus, Industria-lisierung und neoliberaler Marktwirtschaft.

Leben und Sterben lassen

Ein Stützpfeiler des kapitalistischen Systems ist der Extraktivismus. Für ihn sind funktionierende Infrastrukturen unerlässlich. Im brasilianischen Amazonasbecken beispielsweise gab es 1975 29.400 Kilometer Straßen, dreißig Jahre später waren sie auf 268.900 Kilometer angewachsen. Sie dienen der wirtschaftlichen Erschließung des Gebiets, oder wie es Keller Easterling formuliert: „Straßen – üblicherweise konnotiert mit Zugang und Möglichkeiten – sind Katalysatoren dieser Entwicklung. Im Amazonasgebiet gleichen sie den Überträgern einer Epidemie.“1 Infrastrukturen können ganze Landstriche anstecken, sie fungieren als Vektoren der profitorientierten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Planeten. Was Easterling hier im übertragenen Sinne meint, besitzt einen ganz unzweideutigen Zusammenhang: Studien zeigen, dass im Amazonasgebiet eine Zunahme der Abholzung um etwa vier Prozent die Inzidenz von Malaria um fast fünfzig Prozent erhöhte, weil Moskitos, die die Krankheit übertragen, in den abgeholzten Gebieten mit viel Licht und Wasser eine ideale Brutstätte finden. Eine intakte Natur besitzt also eigene Schutzfunktionen, die durch unachtsame menschliche Eingriffe geschwächt werden. Ein Verständnis für ebendiese Schutzfunktionen ist der Schlüssel zur Vorher­sage und Verhinderung der nächsten Pandemie.
Es mag verlockend sein, alle Folgen des Anthropozäns der Macht spezifischer Akteure, die zur schieren Selbstbereicherung um jeden Preis Raubbau an der Erde begehen, anzulasten. Dies ist aber nur eine Seite der Medaille. Dem Historiker Dipesh Chakrabarty zufolge dürfen wir nicht nur von einer zielgerichteten Macht (power) menschlichen Handelns ausgehen, sondern auch von einer nicht-intentionalen Kraft (force).2 Die Pandemie führt uns diese These klar vor Augen. Der Mensch ist Träger eines Virus, oftmals ohne es zu wissen; seine Interaktionen mit der Umwelt tragen unabsichtlich zur Verbreitung bei. Covid-19 ist ein Nebeneffekt mensch­lichen Handelns, Ursache und Wirkung verwischt durch Latenzperioden, die Unberechenbarkeit und scheinbar grenzenlose Resilienz der Natur. Dies macht die Pandemie zur passenden Metapher für das Anthropozän.
Das Zauberwort im Anthropozän ist Skalierung. Die individuelle Handlung mag kaum ins Gewicht fallen, die millionenfache Vervielfältigung aber ist verheerend. Damit berühren wir einen heiklen Punkt: das Bevölkerungswachstum. Es hat fast 300.000 Jahre gedauert, bis die Menschheit die Zählmarke von einer Milliarde erreicht hat. Seit 1918, also innerhalb von gerade einmal einem Jahrhundert, sind weitere sechs Milliarden dazugekommen. Die Zahl der Menschen im Jahr 2100 wird einer aktuellen Prognose der Vereinten Nationen zufolge über elf Milliarden betragen. Zwischen 1950 und 2100 wird sich die menschliche Weltbevölkerung um neun Milliarden vergrößert haben.
Dieser Umstand ist der primäre Grund für die Entstehung von Megacities und urbanen Ballungsräumen, der zunehmenden Suburbanisierung und des Urban Sprawl, aber auch der ständigen Ausweitung landschaftlicher Nutzflächen. Die Öko-Post-Humanistin Donna Haraway bringt das Thema, bei dem man zuerst unweigerlich an biopolitische Programme der Geburtenkontrolle in autoritären Systemen denken muss, auf die linkspo­litische Agenda: „Wird die Brisanz des unglaublichen Bevölkerungswachstums seit 1950 weiter ausgeblendet, könnte dies in so etwas abgleiten wie die Ignoranz mancher Christen gegenüber dem Klimawandel, weil er ins Mark des eigenen Glaubens trifft. Die brennende Frage muss sein, wie wir uns mit dieser Brisanz und Dringlichkeit befassen.“3

Solidarität und Kooperation

Auch wenn das Virus auf Geschlecht, Ethnie und soziale Stellung keine Rücksicht nimmt, ist es kein Gleichmacher. Frank Snowden bemerkt in seinem gerade erschienenen Buch „Epidemics and Society. From the Black Death to the Present“: „Krankheiten befallen Gesellschaften nicht auf willkürliche und chaotische Weise. Sie sind geordnete Ereignisse, denn Mikroben dehnen sich selektiv aus und verbreiten sich, um ökologische Nischen zu erforschen, die der Mensch geschaffen hat. Diese Nischen zeigen sehr deutlich, wer wir sind – ob wir uns zum Beispiel in der industriellen Revolution tatsächlich darum gekümmert haben, was mit den Arbeitern und Armen geschah und in welchem Zustand die schwächsten Menschen lebten.“4
Das Virus macht nicht alle Menschen gleich, denn finanziell weniger begüterte Gruppen leiden stärker und sterben öfter. Die Folgen der auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich, globalem Norden und globalem Süden, werden in der Pandemie offensichtlich. Gleichzeitig stellt das Virus nahezu den ganzen Planeten vor dieselben Herausforderungen.
Glücklicherweise decken sich die Auslöser des Virus mit denen des Klimawandels, der – ebenfalls als Phänomen des Anthropozäns – die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts darstellt. Um Lösungen zu entwickeln, ist Solidarität von der nachbarschaftlichen bis zur globalen Ebene notwendig. In der Nachbarschaft erschöpft sich Solidarität nach dem Ausnahmezustand nicht im Social Distancing, sondern gerade in der Stärkung der sozialen Netzwerke. Architektur muss dafür die Strukturen schaffen. Auf der globalen Ebene braucht es funktionierende Institutionen und Protokolle, die das zwischenstaatliche Miteinander regeln. Das Virus schert sich nicht um willkürlich gezogene Staatsgrenzen. Grenzschließungen sind kurzsichtig und führen auf einen Irrweg. (Nationale) Alleingänge schwächen auch alle anderen Parteien. Deshalb braucht es eine globale Zusammenarbeit. Was optimistisch stimmen mag: Der volkswirtschaftliche Nutzen von Solidarität und Kooperation wird immer höher als ihre Kosten.
Architektur kann man im Sinne Chakrabartys beides zuschreiben: Machtund Kraft. Daraus folgt: Sie muss erstens ihre Macht ökologisch und sozio-ökonomisch sinnvoll einsetzen. Zweitens ist es für Architektinnen und Architekten keine Option mehr, sich bewusst mit den Nebeneffekten des Bauens auseinanderzusetzen – es ist ein Imperativ.
1 Easterling, Keller (2014): „The Geopolitics of Substraction“, in: Marc Angélil; Rainer Hehl (Hg.): Empower! Essays on the Political + Economy + Political Ecology of Urban Form,
vol. 3, S. 60–81, hier S. 75 (Übersetzung der Autor)
2 Chaktrabarthy, Dipesh (2018): „Anthropocene Time“, in: History and Theory 57 (1),
S. 5–32
3 Haraway, Donna J. (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthulu-zän, Frankfurt a. M.
4 Snowden, Frank (2019): Epidemics and Society. From the Black Death to the Present, New Haven

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