Wie erreichen wir einen Nettonull-Flächenverbrauch?
In Deutschland wird weiterhin zu viel Fläche neu versiegelt – rund 55 Hektar am Tag. Bis 2030 sollen es nur noch dreißig Hektar sein, bis 2050 „nettonull“. Wie reagieren Städte und Gemeinden auf die Vorgabe? Welche Planungsinstrumente helfen zur Zielerreichung? Eine Befragung unserer Autoren unter dreihundert Kommunen in Nordrhein-Westfalen liefert Einblicke und Antworten.
Text: Jansen, Hendrik, Dortmund; Stielike, Jan Matthias, Oldenburg
Wie erreichen wir einen Nettonull-Flächenverbrauch?
In Deutschland wird weiterhin zu viel Fläche neu versiegelt – rund 55 Hektar am Tag. Bis 2030 sollen es nur noch dreißig Hektar sein, bis 2050 „nettonull“. Wie reagieren Städte und Gemeinden auf die Vorgabe? Welche Planungsinstrumente helfen zur Zielerreichung? Eine Befragung unserer Autoren unter dreihundert Kommunen in Nordrhein-Westfalen liefert Einblicke und Antworten.
Text: Jansen, Hendrik, Dortmund; Stielike, Jan Matthias, Oldenburg
Die dichte, kompakte Stadt mit hoher Nutzungsmischung und kurzen Wegen ist seit Jahrzehnten ein zentrales Ziel in der Stadtplanung. Trotz des Konsenses in der Planungswissenschaft und -praxis bleibt die Ausweitung von Siedlungs- und Verkehrsflächen in Deutschland mit 55 Hektar pro Tag (Stand 2021) weiterhin hoch. Die ökologischen und sozialen Folgen der Flächenneuinanspruchnahme sind bekannt und bereits vielfach untersucht worden. Da die insgesamt zur Verfügung stehende Fläche begrenzt und nicht vermehrbar ist, ist jeder weitere versiegelte Quadratmeter nicht nachhaltig; das Vorgehen kann daher schon unter logischen Gesichtspunkten nicht beliebig fortgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung das Ziel formuliert, die Neuinanspruchnahme in Deutschland bis 2030 auf unter dreißig Hektar pro Tag und in Übereinstimmung mit den Zielsetzungen der Europäischen Kommission bis 2050 auf nettonull zu reduzieren. Das angestrebte Ergebnis: eine Flächenkreislaufwirtschaft.
Verschiedene Herausforderungen erschweren jedoch die Umsetzung des Nettonullziels. Dazu gehören anhaltendes Bevölkerungswachstum, verstärkt unter anderem durch einen Zuzug aus dem Ausland sowie die weiter steigende Wohnfläche pro Person. Aber auch der Widerstand gegen dichte Bebauung und die mangelnde Qualität in der städtebaulichen Planung sind Hindernisse bei der Entwicklung nachhaltiger Stadtviertel und der Optimierung bestehender Quartiere. Diese Herausforderungen sind besonders in wachsenden Städten relevant. Obwohl in den letzten Jahren verstärkt auf Innenentwicklung gesetzt wurde, bleibt die Rückgabe von Flächen an Natur und Landschaft, also die Freiraumrückgewinnung, weitgehend unbeachtet. Die Rückgabe ist jedoch ein essenzieller Bestandteil einer nachhaltigen Flächenkreislaufwirtschaft und sollte in zukünfti-gen Stadtplanungsstrategien stärker berücksichtigt werden.
Wie gehen die Kommunen derzeit mit dem Thema Innentwicklung um, welche Instrumente werden eingesetzt? Und ist das Thema der Freiraumrückgewinnung bereits in der kommunalen Planungspraxis angekommen? Die Ergebnisse unserer Kommunalbefragung in Nordrhein-Westfalen mit rund 300 Rückmeldungen zeichnen ein differenziertes Bild vom Bewusstsein und Umgang mit den Themen Innenentwicklung, flächensparendes Bauen und Freiraumrückgewinnung.
Rückbau und Renaturierung oft kein Thema
Unterschiede zeigen sich besonders bei der konzeptionellen Basis und der Umsetzung von städtebaulichen Qualitäten. Dabei spielt die Stadtgröße (Klein-, Mittel-, oder Großstadt) und die Wachstums- oder Schrumpfungsdynamik eine entscheidende Rolle. Die meisten Kommunen in NRW sind durchaus mit den Strategien eines flächensparenden Bauens und der Innenentwicklung vertraut – und wenden diese auch an. Es zeigt sich jedoch vor allem in den kleinen bis mittleren Städten, dass eine konsequente Umsetzung selten gelingt und auch ein entsprechendes Monitoring fehlt. Hierbei ist auch die fehlende Akzeptanz von städtebaulicher Dichte ein Aspekt. Ebenso mangelt es oft an einem Grundkonzept für eine strukturierte Innenentwicklung. Besonders offensichtlich wird, dass für nahezu alle befragten Kommunen das Thema von Rückbau, Renaturierung und Freiraumrückgewinnung als Teil einer Flächenkreislaufwirtschaft weder konzeptionell noch operativ betrachtet oder gar umgesetzt wird. Zusätzlich ist generell ein unzureichendes Problembewusstsein und fehlende politische und gesellschaftliche Akzeptanz für höhere Bebauungsdichten zu konstatieren, was Auswirkungen auf aktuelle Wohnbauvorhaben hat.
Ein mustergültiges Instrument hat die Stadt Köln mit dem „Köln-Katalog“ entwickelt, in dem eine gesamtstädtische Typologie für kompakte, nachhaltige und lebenswerte Quartiere entwickelt worden ist. Für Mittel- und Kleinstädte fehlen derartige Strategien weitgehend, so dass bei ihnen zukünftig die konzeptionelle Basis für die Innenentwicklung gestärkt und durch ein Monitoring ergänzt werden muss. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass diese Konzepte eine integrierte Art der Innenentwicklung verfolgen, die neben der baulichen Nachverdichtung auch die Themen Freiraumentwicklung, Mobilität, Klimaschutz und Klimafolgenanpassung berücksichtigt: eine sogenannte mehrfache Innenentwicklung. Zudem zeigt sich, dass Kommunen bei der überzeugenden Vermittlung von städtebaulicher Dichte und Mischung oftmals an politischen Entscheidungsträgern scheitern. Hier braucht es in Zukunft verbindli-che Dichtevorgaben für den Innenbereich, eine Optimierung von Erschließungsflächen zu multifunktionalen Stadträumen und die funktionale, soziale Mischung in Quartieren. All diese Aspekte müssen zukünftig stärker in der Gesetzgebung, zum Beispiel dem Baugesetzbuch, geregelt werden.
Die Zubau-Rückbau-Regel
Die Umfrageergebnisse zeigen, dass nur wenige Städte und Gemeinden Erfahrungen mit Rückbau und der Freiraumrückgewinnung haben. Weni-ger als ein Viertel der Teilnehmenden hat sich praktisch mit dem Thema auseinandergesetzt und gibt an, dass die eigene Stadt oder Gemeinde in der Vergangenheit Siedlungs- oder Verkehrsflächen zurückgebaut habe. Ein Blick auf die konkreten Rückbaumaßnahmen verrät, dass es sich hierbei vielfach um das Wiedernutzbarmachen von Flächen im Sinne der Innenentwicklung handelt, nicht jedoch um Rückbau. Da aber auch zukünftig neue Flächenversiegelung notwendig sein wird, bekommt die Idee einer Zubau-Rückbau-Regel eine besondere Bedeutung. Die instrumentelle Umsetzung dieses Ansatzes kann in Anlehnung an die naturschutzrechtliche Eingriffs-Ausgleichs-Regel erfolgen. Bei dieser Regel muss ein Eingriff in Natur und Landschaft vorrangig vermieden und ein unvermeidba-rer Eingriff kompensiert werden (vgl. §§ 13 ff. BNat-SchG). Bei der Zubau-Rückbau-Regel müsste eine Flächenneuinanspruchnahme vorrangig vermieden oder – wenn nicht anders möglich – durch die Rückgabe von Flächen an Natur und Landschaft gleicher Größe an anderer Stelle kompensiert werden. Die beschriebene Lösung ließe sich dezentral und vergleichsweise unbürokratisch umsetzen.
Die Zubau-Rückbau-Regel müsste nicht nur in der kommunalen Bauleitplanung, sondern auch in den Fachplanungen zur Anwendung gebracht werden. Es bietet sich daher an, die Regel im Kontext der Eingriffs-Ausgleichs-Regel im Bundesnaturschutzgesetz zu verankern und im Baugesetzbuch auf die entsprechenden Regelungen zu verweisen. Die Zubau-Rückbau-Regel führt zum selben Ergebnis wie das gegenwärtig ebenfalls diskutierte Instrument der Flächennutzungszertifikate, indem für jede neu in Anspruch genommene Fläche an anderer Stelle eine Fläche in gleicher Größe zurückgebaut werden muss.
Bei der Zubau-Rückbau-Regel wäre anders als bei Flächennutzungszertifikaten stets ein konkreter Flächenbezug gegeben. Eine solche Verknüpfung von Flächenneuinanspruchnahme und Flächenrückgabe setzt indirekt einen starken Anreiz zugunsten der Innenentwicklung, indem betriebswirtschaftliche Nachteile der Innenentwicklung gegenüber der Außenentwicklung ausgeglichen werden. Bisher ist die Außenentwicklung aus Investorensicht günstiger als die Innenentwicklung, weil die mit der Außenentwicklung einhergehenden Kosten als Externalitäten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden: Verlust von offener Landschaft, Landwirtschaftsflächen und ökologischen Habitaten, Beeinträchtigung von Ökosystemdienstleistungen sowie steigende Kosten für Infrastrukturen und Leistungen der Daseinsvorsorge. Dafür müssen mit der Innenentwicklung einhergehende Kosten vom Vorhabenträger finanziert werden: Abrisskosten, Altlastenbeseitigung, höhere Bodenpreise, höhere Trans-aktionskosten aufgrund heterogener Eigentümerinnen- und Nutzerstrukturen. Die Verknüpfung der Außenentwicklung mit der Rückgabe von Flächen an Natur und Landschaft trägt daher maßgeblich zur Beseitigung dieser Marktverzerrungen bei.
Voraussetzungen für ein Gelingen der Flächenkreislaufwirtschaft
Die Aspekte Innenentwicklung, flächensparendes Bauen sowie Freiflächenrückgewinnung müssen als Dreiklang einer Gesamtstrategie bei der Erreichung des Nettonullziels verstanden werden. Für eine zielgerichtete Kommunikation sollte demnach zukünftig vom „Dreiklang der Flächenkreislaufwirtschaft“ gesprochen werden. Das beinhaltet auch eine politische Kommunikation von Bund und Ländern, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen – weg von der Neuinanspruchnahme hin zur Rückgabe von Flächen an Natur und Landschaft. Damit jedoch ein Konzept wie die Zubau-Rückbau-Regel tatsächlich funktionieren kann, ist es notwendig, die Strategien und Instrumente interkommunal und länderübergreifend einzusetzen und zu koordinieren. Auf die Weise kann der noch selten umgesetzte Rückbau einen Stellenwert bekommen, der auch über die Grenzen einzelner Bundesländer Relevanz hätte. So lassen sich die Baubedarfe wachsender Kommunen und die Rückbaunotwendigkeiten schrumpfender Kommunen zusammenbringen.
Außerdem müssen städtebauliche Qualitäten für alle Beteiligten verbindlicher werden. Besonders bei der Realisierung neuer oder der Transformation von Bestandsquartieren sollten städtebaulich-räumliche Qualitäten mit städtebaulichen Mindestdichten und flächeneffizienten Bautypologien bei gleichzeitiger funktionaler und sozialer Mischung sowie ökologischen und klimatischen Anforderungen vermittelt und umgesetzt werden. Ein Qualitätsindikator könnten flächeneffiziente Bautypologien sein, ebenso wie ein Nachweis über räumlich differenzierte Qualitäten, die bei jeder städtebaulichen Planung erbracht und in einem Prozess mit allen Beteiligten vermittelt werden müssen.
Der Artikel ist ein Ergebnis der Arbeitsgruppe „Perspektive Nettonull Flächenverbrauch – Innenentwicklung, Rückbau und städtebauliche Qualifizierung als Elemente einer Flächenkreislaufwirtschaft“ der Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft. An dieser Arbeitsgruppe haben neben den beiden Autoren mitgewirkt: Brigitte Adam, BBSR; Stefan Baumann, Stadt Iserlohn; Silas Eichfuss, BBSR; Sebastian Eichhorn, ILS; Theo Kötter, Universität Bonn; Natascha Rohde, Stadt Köln, Kerstin Schürholt, Stadt Bonn, Thomas Terfrüchte, TU Dortmund; Johannes Wilberz, Stadt Köln
Quellen
Deutsche Bundesregierung (2020): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Weiterentwicklung 2021 (Langfassung), Berlin
Europäische Kommission (2011): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa (KOM(2011)571 endgültig), Brüssel
Stadt Köln (2022): Köln-Katalog –Typologien für kompakte, nachhaltige und lebenswerte Quartiere, Köln
UBA [Umweltbundesamt] (2023): Siedlungs- und Verkehrsfläche. https://www.umweltbundesamt.de/daten/flaeche-boden-land-oekosysteme/flaeche/siedlungs-verkehrsflaeche. Zugriff: 7.11.2023
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