Obdachlosenunterkünfte in Gent
Die elf kleinen Reihenhäuschen für obdachlose Menschen sind das Ergebnis einer Ideenkonkurrenz für junge Architektinnen. „Housing First“ – so die Devise des von der Stadt Gent geförderten Programms.
Text: Geipel, Kaye, Berlin
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Knapp 100.000 Euro hat jedes der Häuschen gekostet. Kleine gestalterische Unterbrechungen in der Fassade machen die einzelnen Einheiten in der Reihe unterscheidbar.
Foto: Stijn Bollaert
Knapp 100.000 Euro hat jedes der Häuschen gekostet. Kleine gestalterische Unterbrechungen in der Fassade machen die einzelnen Einheiten in der Reihe unterscheidbar.
Foto: Stijn Bollaert
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In der Mitte der Anlage gibt es eine besondere Öffnung: Hier hat der Verwalter seine Räume, die Bewohnerinnen können um praktische Hilfe bitten.
Foto: Stijn Bollaert
In der Mitte der Anlage gibt es eine besondere Öffnung: Hier hat der Verwalter seine Räume, die Bewohnerinnen können um praktische Hilfe bitten.
Foto: Stijn Bollaert
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Der hellgrün lasierte Betonboden mag ungemütlich erscheinen, ...
Foto: Stijn Bollaert
Der hellgrün lasierte Betonboden mag ungemütlich erscheinen, ...
Foto: Stijn Bollaert
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... Putzen gehört aber zu den am meist gehassten Tätigkeiten unter den Bewohnern.
Foto: Stijn Bollaert
... Putzen gehört aber zu den am meist gehassten Tätigkeiten unter den Bewohnern.
Foto: Stijn Bollaert
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Dafür gibt es eine Fußbodenheizung.
Foto: Stijn Bollaert
Dafür gibt es eine Fußbodenheizung.
Foto: Stijn Bollaert
Räumliche Distanz zwischen den Bewohnern wird in dieser Wohnform unterstützt und das „Zusammensein“ minimiert. Dennoch gelingt dem belgischen Beispiel eine unmerkliche Brücke zwischen seinen vulnerablen Anwohnern.
„Skæve boliger til skæve eksistenser“ heißt der Slogan für diese Wohnform auf Dänisch. Zu übersetzen etwa als: „Besondere Häuser für besondere Menschen“. Das Konzept der besonderen Häuser wurde
vor vielen Jahren in Dänemark entwickelt. Auch die Niederlande setzen es seit 20 Jahren um. Angesprochen sind obdachlose Menschen die, selbst wenn es ihnen manchmal gelingt, eine Sozialwohnung zu bekommen, häufig in Konflikt mit ihren neuen Nachbarn geraten und dann wieder auf der Straße landen.
„Skæve boliger“ will diese Unangepassten nicht integrieren, sondern ihnen eine spezielle, abgesonderte Form des Wohnens bieten. „Housing First“, lautet die zugrundeliegende Idee, sich erst einmal langsam an „normale“ Wohnverhältnisse zu gewöhnen. Ganz ohne Regeln geht es auch nicht. Eine davon lautet: keine Drogen. Ein Drogenersatzprogramm, etwa mit Methadon, wird aber angeboten.
Ausschreibung für junge Architekten
Die flämische Stadt Gent hat, initiert von ihrem Stadtarchitekten Peter Vanden Abeele, solche skæve boliger, in Flandern „Robust Houses“ genannt, als Pilotprojekt für obdachlose Menschen gebaut. Das Verfahren war ambitioniert. Am Anfang stand die Suche nach einem städtischen Grundstück, das etwas abseits steht, aber nicht von der Stadtstruktur abgehängt ist. Es brauchte entsprechende Mittel im Haushalt. Ein kleiner Architekturwettbewerb unter Einbindung eines städtischen Trägers war zu organisieren. Und schließlich bestand während des Umsetzungsprozesses Kontakt zu einem Kreis möglicher Bewohnerinnen, für die solch ein Programm in Frage kommen würde.
Als ich die eben fertiggestellte Siedlung am Rand von Gent mit dem Bus erreiche, empfängt mich der Architekt Jan Baes vor den noch leeren Wohnungen. Die Bewohner ziehen erst in einigen Wochen ein, die Adresse wird aus Diskretionsgründen nicht kommuniziert. Jan Baes und sein Büro AE-architecten gewannen vor gut drei Jahren die Ideenkonkurrenz, die der Stadtarchitekt für junge Architektinnen ausgeschrieben hatte. Baes erläutert noch auf der Straße die Grundprinzipien des hier umgesetzten Entwurfskonzepts.
Ich muss angesichts der fast brutal schmucklosen Reihe kleiner Maisonette-Häuser, jedes umgeben von einer blickdichten Mauer, erst einmal schlucken. Richtig wohnlich wirken sie nicht. Vor allem muss ich an diesem Vormittag liebgewordene Vorstellungsbilder ad acta legen, die ich über Community Wohnen, Care Architecture und großzügig gezeichnete Bewohnertreffpunk-te im Kopf habe.
Zusammenleben vermeiden
Die elf Minihäuser, zwei davon sind rollstuhlgerecht und als Flachbau ausgebildet, wurden so entworfen, dass sie gesellschaftliches Zusammentreffen nicht fördern, sondern vermeiden. Das begann bei der Planung des Eingangs. Während man im Geschosswohnungsbau üblicherweise darauf bedacht ist, im Erdgeschoss Treffpunkte zu schaffen, hat hier jedes der Häuser einen abgrenzenden Rücksprung. „Der Eingang ist so angelegt“, sagt Jan Baes, „dass die Bewohner ihre Unterkunft erreichen können, ohne mit den Nachbarn zu sprechen. Es muss für sie möglich sein, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen.“
Die Architektur arbeitet im Sinne des „low stimulus“. Möglichst wenig Aufregung soll von au-ßen in den Tagesablauf der Bewohnerinnen getragen werden, es sei denn dieser Stimulus wird gewünscht. „Die verschiedenen Anforderun-gen des Konzepts waren räumlich nicht einfach umzusetzen“, so Baes. „Eine gewisse soziale Kontrolle sollte es zum Beispiel geben. Nicht dass sich die Bewohner untereinander kontrollieren, sondern eher von Außen, so dass es schwierig ist, Drogen an die Haustür zu bringen, ohne gesehen zu werden.“
Minimum an Städtebau
AE-architecten haben den Wettbewerb mit einem minimalistischen, aber gleichwohl detail-lierten Architekturkonzept gewonnen, das auch städtebaulich überzeugt. Denn während die dä-nischen und niederländischen Vorbilder als bunte Boxen in die Landschaft verstreut sind, wo-bei deren Eingänge meist gegeneinander verdreht werden, als ob man einen Sack Legobausteine ausgeschüttet hätte, wählten AE-archi-tecten den Reihenhaus-Typus als Ausgangspunkt. Diesen Typus bearbeiteten sie so lange, bis er den Anforderungen der „Robust Houses“ entsprach. Neben den bereits erwähnten verkanteten Eingängen gibt es einen schmalen, von knapp zwei Meter hohen Mauern umgebenen Vorgartenbereich. Dazu kommen knappe, säulenartige Vorsprünge der Betonwerksteine, die die Maisonetten voneinander abgrenzen.
Die gesamte Fassade besteht aus kostengünstigen Betonwerksteinen. „Nicht gerade üblich in einem Land wie Belgien, wo man mit Ziegeln baut. Aber Herman Hertzberger hat vor vielen Jahren gezeigt, wie man das Material auch im Wohnbau einsetzen kann.“ Erst wollten die Architekten die Fassade zusätzlich weiß schlemmen. Dann diskutierten sie mit der Auftraggeberin, der städtischen Abteilung für Wohlfahrt und soziale Diens-te OCMW, das Geld besser an anderer Stelle einzusetzen: in großzügigeren Fenstern und in die Gestaltung eines gemeinsamen Vorgartens.
Das längliche Grundstück mit seiner langen Fassadenfront bot auch in freiraumplanerischer Hinsicht Vorteile. Die Architekten brachten den Landschaftskünstler Rudy Luijters ins Spiel, der seit Jahren ohne großen Aufwand ungewöhnliche Gärten realisiert. Aus gefundenen Holzstücken baute er für den Vorplatz kleine Skulpturen zum Sitzen, eine Möglichkeit zum Ausruhen im Freien.
Anders Wohnen
Bei der Besichtigung fasziniert mich die in vieler Hinsicht andere „Definition“ des Wohnens, die in diesen nicht einmal 40 Quadratmeter großen Häuschen sichtbar wird. Denn das karge, aber in vielen Details auf die Bedürfnisse der Bewohner genau zugeschnittene Reihenhaus-Ensem-ble lässt an die Standards in heutigen Wohnsiedlungen denken, die wir, weil unterlegt von Normen, für selbstverständlich halten. Das reicht von einem auf den Kinderwagen-Wendekreis zugeschnittenen Eingangsbereich im Treppenhaus zum ewiggleichen verzinkten Freiluft-Unterstand für die Fahrräder, von Laubengängen mit ihren standardisierten Breiten bis hin zu Fertigbädern.
In Gent haben die Architekten vieles neu gedacht, das meiste davon fällt kaum auf: etwa eine leichte Bodenneigung im Wohnbereich, die die Architekten nach vielen Modell-Überlegungen so ausführen konnten, dass die Bewohnerinnen zu Hause sitzen und über die Mauer blicken können, ohne selbst gesehen zu werden.
Die Einrichtung folgt den Alltagsbedürfnissen: Die Kücheneinheit fand halb unter der Treppe Platz und macht so den verfügbaren Wohnraum größer, im Obergeschoss folgt auf das Bett ein rückwärtiges Fenster, dann die Duschecke, aus deren räumlicher Begrenzung eine halbhohe Wand mit Waschtisch hervorgeht – Blick über die Brüstung hinab ins Erdgeschoss eingeschlossen.
Keine Container
Innerhalb der aktuell so erfolgreichen belgischen Architektur ist diese Hauskette ein stiller Mitspieler – kein originelles Entwurfskonzept mit surrealistischen Einschlägen zeichnet sie aus.
Stattdessen fallen mir die frühen Bauten von Álvaro Siza im portugiesischen Évora ein. Viel kleiner in der Anlage, aber ähnlich lapidar und simpel ist das Entwurfskonzept – und doch ausgestattet mit dem städtebaulichen Willen, dort wo die Stadt sich auflöst, einen urbanen Abschluss zu bilden. Ich denke aber auch an die Unbekümmertheit, mit der in Deutschland heute ausgebaute Container für alle Formen des minimalen Wohnens zum Einsatz kommen, angefangen von Migrantenunterkünften bis hin zu Studierenden-Wohnungen. Architektur ist dafür nicht notwendig, die stählerne Ready-Made-Box ist allemal billiger und passt in jeden Kontext.
Die Stadt Gent und mit ihr AE-architecten haben sich anders entschieden und Zeit genommen. Sie studierten die Vorgängerbeispiele in Dänemark und den Niederlanden und passten sie an. „In dieses Pilotprojekt ist viel Zeit und Engagement geflossen, um für eine vulnerable Bevölkerungsgruppe die Wohnungsfrage noch einmal neu zu denken.“ Der Aufwand hat sich gelohnt.
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