Bauwelt

Das Gedächtnis der Stadt


In Mannheim gab es in den 1940er-Jahren ein von Hitler verordnetes „Bunkerbauprogramm“. Die Industriestadt war stark angriffsgefährdet. Allein zwanzig Hochbunker ließ der Bauapparat bis 1943 errichten. Die Umnutzung des größten von ihnen ist beispielhaft.


Text: Kraft, Caroline, Berlin


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    Die Fassade des Ochsenpferchbunkers erzählt von seinen verschiedenen Nutzungsperioden und -erweiterungen.
    Foto: Erkan Sezer, Arne Schumacher

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    Die Fassade des Ochsenpferchbunkers erzählt von seinen verschiedenen Nutzungsperioden und -erweiterungen.

    Foto: Erkan Sezer, Arne Schumacher

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    Der größte Hochbunker Mannheims ist Teil einer Blockbebauung im Stadtteil Neckarstadt-West.
    Foto: Erkan Sezer, Arne Schumacher

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    Der größte Hochbunker Mannheims ist Teil einer Blockbebauung im Stadtteil Neckarstadt-West.

    Foto: Erkan Sezer, Arne Schumacher

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    Die Erschließung des Bunkers erfolgt über sich gegenüberliegende Treppenhäuser.
    Grundriss EG: Schmucker und Partner

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    Die Erschließung des Bunkers erfolgt über sich gegenüberliegende Treppenhäuser.

    Grundriss EG: Schmucker und Partner

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    Durch ihre gläserne, zurückgesetzte Fassade hebt sich die Aufstockung stark vom Bestand ab.
    Grundriss 6. OG: Schmucker und Partner

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    Durch ihre gläserne, zurückgesetzte Fassade hebt sich die Aufstockung stark vom Bestand ab.

    Grundriss 6. OG: Schmucker und Partner

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    Die Inhalte des Archivs finden auf drei Magazingeschossen und zwei Ausstellungsebenen Platz.
    Schnitt: Schmucker und Partner

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    Die Inhalte des Archivs finden auf drei Magazingeschossen und zwei Ausstellungsebenen Platz.

    Schnitt: Schmucker und Partner

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    Die Dauerausstellung "Was geht mich das an?" beschäftigt sich mit der Mannheimer Stadtgesellschaft während des Nationalsozialismus.
    Foto: Kathrin Schwab

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    Die Dauerausstellung "Was geht mich das an?" beschäftigt sich mit der Mannheimer Stadtgesellschaft während des Nationalsozialismus.

    Foto: Kathrin Schwab

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    In der Dauerausstellung berichten Anwohnende der verschiedenen Stadtteile, was diese ausmacht.
    Foto: Schnepp Renou

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    In der Dauerausstellung berichten Anwohnende der verschiedenen Stadtteile, was diese ausmacht.

    Foto: Schnepp Renou

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    Bis 1966 war der Ochsenpferchbunker "übergangsweise" bewohnt.
    Foto: Marchivum

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    Bis 1966 war der Ochsenpferchbunker "übergangsweise" bewohnt.

    Foto: Marchivum

Auf dem Dach des Ochsenpferchbunkers liegt seit kurzem eine neue PV-Anlage. Thorsten Baron, der das Digitalisierungszentrum des seit 2018 hier beherbergten Mannheimer Stadtarchivs „Marchivum“ leitet, hat sich das Ass im Ärmel für den Schluss seiner Hausführung aufgehoben: Den Blick auf den Fluss, die neuen und alten Bauten der Stadt, auf Industrie, Barock und Brutalismus. Das Gründerzeit-Haus nebenan bekommt einen neuen Dachstuhl, der Schienenkran am anderen Flussufer verlagert gemächlich die bunten Container. Einige hundert Meter weiter ragt ein weiterer Hochbunker in den grauen Himmel, Attika mit halbrunden Aussparungen, schießschartenartigen Vertiefungen in der Fassade und Wasserspeiern inklusive. Er unterliegt, wie sein größerer Nachbar, einem Gestaltungskanon, der über seine Funktionalität hinausgeht.

Mannheim war als wichtiger Industriestandort in den 1940er-Jahren als einzige Stadt in Baden-Württemberg neben Stuttgart von „erster Ordnung“ und hatte ein Bunkerbauprogramm. So waren nach dem Zweiten Weltkrieg etwa achtzig Prozent des Wohnraums zerstört, die Zahl der zivilen Opfer lag aber verhältnismäßig niedrig. Insgesamt 56 Luftschutzbunker, die meisten davon unterirdisch, entstanden in Mannheim bis 1943 durch Zwangsarbeit. Die Hochbunker, an denen sich der damalige Leiter des Hochbauamtes Josef Zizler ausleben konnte – es gab, abgesehen von „Wehrcharakter“ wenig gestalterische Ansprüche an die neue Bauaufgabe – sind meist mit Gesimsen, Ecktürmen und Blendfenstern ausgestattet. Sie waren unter der wahnwitzigen Vorstellung eines deutschen Kriegssiegs geplant worden und in den Randbezirken integraler Teil der Stadtplanung. Nach Verkleidung mit Ziegelwerk und Walmdach und Entfernung von Zwischendecken, hätten sie HJ-Heime und Versammlungsstätten werden sollen.

Nicht nachdrücklich genug zu betonen: Zum Glück kam es anders. Dennoch, die Bunker prägen an vielen Stellen die Atmosphäre in der Stadt. Viele, die in Mannheim nach dem Krieg groß wurden, haben einen „Bunkerbezug“, erzählt Baron – sicher auch wegen der erneuten Präsenz der Bauten durch den Ausbau zu ABC-Schutzräumen während des Kalten Kriegs. Im Stadtteil Lindenhof beispielsweise, ist der Hochbunker im Zeilenbau das älteste erhaltene Gebäude des Stadtteils. Weitere ehemalige Schutzräume lagen neben dem Sportplatz, der Kirche, unter dem Nationaltheater, dem Schloss oder dem Paradeplatz im Stadtzentrum.

Was aber wäre eine möglichst sinnvolle Nutzung der schwer zu bezwingenden Baumassen? Waren die Mannheimer Bunker direkt nach 1945 Krankenstationen, Pilzzucht-Farmen (wegen des günstigen Klimas und gleichzeitiger Lebensmittelknappheit) oder Wohnraum, wurden sie etwas später Studierendenwohnheim, Ladengeschäft oder Hotel. Heute sind sie Requisitenlager, Rechenzentrum, Tiefgarage oder ein Luxus-Penthouse – 2023 von nur zwei Menschen bewohnt, nicht wie in der Nachkriegszeit von hunderten. Die Einheit der durch das Bunkerbauprogramm entstandenen Mannheimer Schutzräume ist inzwischen Kulturdenkmal, eine sinnvolle Nachnutzung angebracht.

Denkmalschutz verpflichtet

Nachdem der Ochsenpferchbunker, damals wie heute verwaltet durch die Wohnungsbaugesellschaft GBG, bis in die späten 1960er-Jahre als provisorischer Wohnraum diente, stand er lange leer. Die Mannheimer Bunker waren schon Hülle vieler Nutzungen. Mit Aufhebung des Zivilschutzprogramms 2009 zogen Teile des Stadtarchivs in den Ochsenpferchbunker. Seit seiner Gründung 1907 wanderten die Inhalte des Archivs von barockem Prachtbau (Altes Kaufhaus N1, Alessandro Galli da Bibiena) in Jugendstil-Bad (Herschelbad, Richard Perrey) in marodes Brutalismus-Juwel (Collini-Center, Karl Schmucker) – und schließlich nach dortigem Wasserschaden in den Bunker am anderen Flussufer.

2018 also nahm sich das in Mannheim viel beschäftigte Architekturbüro Schmucker und Partner des Projekts an. Der Vorschlag, das gesamte Archiv im Ochsenpferchbunker zusammenzuführen, mündete in lange Verhandlungen mit dem Denkmalschutzamt: Die „kastellartige Struktur“ des für einen Umbau zum HJ-Heim geplanten Baus sollte nicht verändert werden. Glücklicherweise gelang es, die Vorteile einer Umnutzung anstelle eines Neubaus herauszustellen – und auch der Umgang mit dem Bestand verdeutlicht, dass eine Unkenntlichmachung der Kubatur kein Interesse des Teams war. Die Aufstockung für Arbeitsplätze, Lese- und Veranstaltungsräume ist eine logische Konsequenz aus den Voraussetzungen des Gebäudes; Fenster für Tageslichteinfall waren aus Kosten- und Denkmalschutzgründen nicht angestrebt. Die verglaste Stahlkonstruktion auf der Dachplatte bleibt hinter den Dachkanten des Bunkers zurück, auch im Inneren sind die wenigen Eingriffe durch Farbe oder Materialität erkennbar. Die Eigenschaften des Baus waren zum Teil für die Umnutzung in ein Archiv geeignet. Das gleichmäßige Raumklima eines Bunkers ist einem Papierarchiv zuträglich, die Geschossdecken waren jedoch auf menschliche Lasten ausgelegt. So war die Platzierung der Archivregale erst nach Entfernen des Verbundestrichs möglich. Inzwischen sind sechzehn von zwanzig Regalkilometern gefüllt. Jeder der tausenden Pappkartons mit Archivmaterial wurde vorm Einräumen abgewogen; kein Regal darf ein Gewicht von zwei Tonnen überschreiten.

Seit 2018 nun befindet sich das gesamte Archiv mit Fotos, Bauakten und -plänen auf drei Magazingeschossen; zusammen mit Lesesälen, Vortragsraum, Ausstellungsflächen und einem Digitalisierungszentrum das „Marchivum“. Mit der dauerhaften stadtgeschichtlichen Ausstellung und dem NS-Dokumentationszentrum (Ausstellungsdesign von Tatwerk, Berlin) war das Projekt 2022 fertiggestellt. Die Inhalte speist der Fundus des Marchivums, womit die Relevanz eines Stadtarchivs direkt erlebbar ist. In der Schau „Was hat das mit mir zu tun?“ sind sowohl Perspektiven der Mannheimer Täter als auch der Opfer des Nazi-Regimes aufgeführt, nicht zuletzt, weil unter anderem bei Daimler-Benz polnische Zwangsarbeiter beschäftigt waren. Die Kriegsgefangenen wurden in der KZ-Außenstelle Sandhofen festgehalten, deren Gedenkstätte nun auch aus dem Gebäude heraus geleitet wird.

Aufgrund der städtebaulichen Relevanz, seiner Aufgabe und Gestaltung ist das Marchivum Teil des Bundesprogramms "Nationale Projekte des Städtebaus". Seiner Vergangenheit zum Trotz ist es kein Ungetüm, was sich da in eine Blockrandbebauung in der Mannheimer Neckarstadt-West einfügt. Es ist vielmehr ein ideeller Schutzraum: für Bildung, Erinnerung und die demokratische Gesellschaft.



Fakten
Architekten Schmucker und Partner, Mannheim
Adresse Archivplatz 1, 68169 Mannheim



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