Kunstzentrum FRAC Nord-Pas de Calais
Inmitten eines nicht mehr genutzten und nahezu freigeräumten Hafenareals der Stadt an der belgischen Grenze wurde von Lacaton & Vassal eine alte Werfthalle saniert und ergänzt. Sie dient als regionales Zentrum für zeitgenössische Kunst. Wird die in diesem kleinen Ort allzu groß erscheinende Einrichtung sogar internationale Bedeutung erlangen?
Text: Kabisch, Wolfgang, Paris
Beim Blick in die Wettbewerbsausschreibung von 2009 scheint die Aufgabe einfach: Für das regionale Zentrum für zeitgenössische Kunst (FRAC) der Region Nord – Pas de Calais im nordfranzösischen Dünkirchen soll eine riesige Werfthalle umgebaut werden. Sie steht mitten im Niemandsland eines ehemaligen Hafengebiets, ohne besondere Bezüge zur Umgebung. Die Industrieanlagen ringsrum hatte man bereits nach der Schließung der Werft in den neunziger Jahren abgerissen. Nicht einmal ein Kran durfte stehenbleiben.
Die Betonskelettkonstruktion des „AP2“ – einer zur Vorfertigung großer Schiffsteile genutzten Halle aus dem Jahr 1949 – war solide und ließ technisch vieles zu. Das Innere des 75 Meter langen, 24 Meter breiten und 30 Meter hohen Kolosses bot dem Raumprogramm genügend Platz. Die finanziellen Bedingungen waren annehmbar. Doch das FRAC sieht heute völlig anders aus als ursprünglich gedacht.
Besser im Doppel
Als sich das Pariser Büro Lacaton & Vassal an die Entwurfsarbeit für Dünkirchen machte, stellte sich schnell heraus, dass man drauf und dran war, einen kompletten Neubau in alter Hülle zu planen. Nichts wäre mehr von der Verwandtschaft zur Turbinenhalle der Londoner „Tate Modern“ geblieben, die den Architekten sicherlich vorschwebte. Weder von der Atmosphäre noch von den Nutzungsmöglichkeiten, noch hätte es freien Ausblick auf das nahe Meer gegeben, stattdessen einen mit Ausstellungsräumen, Büros, Lagern und Technik vollgestopften Multifunktionsbau, teurer als ein Neubau.
Warum dann nicht einen „Zwilling“ vorschlagen? Gleiche Außenmaße, gleiches Volumen, eine neue Konstruktion, an die alte angelehnt. Mit einer gemeinsamen Erschließung in der Mitte. Das alles bei gleichen Kosten durch die Verwendung von vorproduzierten Industrieelementen. Mit dieser Idee gewannen Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal den Wettbewerb. Fünf Monate nach der Eröffnung ist zu hören, dass die Einrichtung bereits eine breite überregionale Resonanz erfährt.
Zur Vorgeschichte: 1982 regte der damalige französische Kulturminister Jacques Lang die Gründung regionaler Fonds an, mit deren Mitteln zeitgenössische Kunst angekauft werden sollte. Die Sammlungen waren als dezentrales Förderungs- und Kulturvermittlungsprogramm gedacht. Man gab ihnen den Namen Fonds Régional d’Art Contemporain (FRAC). Das Prinzip funktioniert bis heute. Die Kunst wird an Institutionen ausgeliehen oder am Standort selbst ausgestellt. Dazu haben mehrere Zentren nach Wettbewerben inzwischen bemerkenswerte Neubauten erhalten: Bretagne (in Rennes, Odile Decq, 2012), Provence-Alpes-Côte-d’Azur (in Marseille, Kengo Kuma, 2013/
Bauwelt Heft 23.2013), Franche-Comté, (in Besançon, Kengo Kuma, 2013/
Heft 23.2013), Centre (in Orléans, Jakob & Mac Farlane, 2013/
Heft 37.2013). Darüber hinaus sind geplant: Aquitaine (in Bordeaux, BIG Bjarke Ingels Group, Eröffnung 2015) und Basse-Normandie (in Caen, Rudy Ricciotti).
Für kaum einen der anderen Standorte ist die erwünschte Signalwirkung jedoch so wichtig wie für Dünkirchen. Nicht nur die Werft ist verschwunden, der gesamte Hafen spielt wirtschaftlich keine Rolle mehr. Man hatte hier jahrzehntelang ausschließlich auf Schwerindustrie gesetzt. Neue wirtschaftliche Perspektiven gibt es kaum. Und um die noch immer von den Folgen der Kriegszerstörungen gezeichnete Stadt machen die Touristen einen Bogen.
In den neunziger Jahren wurde Richard Rogers mit der Erarbeitung eines großflächigen Entwicklungsplans mit dem Namen „Neptun“ beauftragt. Damals träumte man immer noch davon, die 100.000-Einwohner-Grenze zu überschreiten. Das hätte mehr Steuern und Subventionen bedeutet. Heute verliert die Stadt kontinuierlich Einwohner. Vor gut zehn Jahren suchte sich Dünkirchen drei Investoren, die einen eigenen Planungswettbewerb für den Norden der Stadt („Le Grand Large“) mit dem Hafen und der Universität auslobten. Den Wettbewerb gewann Nicolas Michelin (ANMA). Er schlug behutsame Eingriffe vor. Doch es war nicht mehr viel zu retten. Die Investoren forderten 1200 Wohnungen, 220 davon sind bisher gebaut und verkauft worden. Viel mehr werden auch nicht benötigt.
Nach mehreren Mandaten hat man bei den letzten Wahlen den sozialistischen Bürgermeister abgewählt. Der sozialdemokratische Nachfolger gilt als Realist. Glaubt man der neuen Mehrheit, so wird in Dünkirchen das jahrhundertealte Think -Big demnächst von Pragmatismus abgelöst werden.
Der Neubau
Mit der Entscheidung, sich von den engen Vorgaben freizumachen, hat das Büro Lacaton & Vassal das entscheidende Zeichen gesetzt. Es geht um Flexibilität. Da kein Mensch weiß, wie sich Dünkirchen in den nächsten Jahren entwickeln wird, muss man für alle Möglichkeiten gewappnet sein: Das FRAC ist ein extrem flexibles Gebäude. Im Neubau liegen die Sichtbeton-Deckenscheiben auf Rasterstützen. Es existieren keine tragenden Wände. Eine zweifache Außenhaut aus transparenten Polycarbonatplatten und einer aufblasbaren doppelwandigen Kunststoff-Folie funktioniert als Klimaschleuse. Sie garantiert zusätzlich einen freien, leicht gefilterten Ausblick auf die Umgebung und das Meer. Einfacher kann man sich eine solche Konstruktion, eine offene Struktur in einem „Gewächshaus“ mit sechs Geschossen und 9000 Quadratmetern Nutzfläche, kaum vorstellen.
Neben den großzügigen Ausstellungsbereichen nehmen die Lager und Archive für die inzwischen auf 1500 Kunstwerke angewachsene Sammlung den Hauptteil des Neubaus ein. Satzungsbedingt werden pro Jahr immerhin gut 800 Kunstwerke an Institutionen der Region ausgeliehen. Die Verbindung zu der 1000 Quadratmeter großen Werfthalle befindet sich im Erdgeschoss. Ein Café dient als Puffer. Das Ganze hat nicht mehr als die bei der Planung vorgesehenen 15 Millionen Euro gekostet!
Im ersten Obergeschoss trifft man auf die „interne Straße“. Sie verläuft zwischen den Zwillingsbauten und verbindet sie gleichzeitig miteinander. Sie soll einmal mit einer Passerelle aus dem Gebäude heraus verlängert werden. Dann könnte man vom benachbarten Stadtteil Malo-les-Bains über das Wasser hinweg ins FRAC gelangen. „Le futur commence ici“ (Die Zukunft beginnt hier) heißt es beschwörend im Titel der Eröffnungsausstellung. Direktorin Hilde Teerlinck zeigt einen Teil der FRAC-Sammlung. Gute zeitgenössische Kunst! Die lässt aber erahnen, dass es auf Dauer mit dem Rückgriff auf den eigenen Bestand nicht getan sein wird. So große Flächen wollen bespielt werden. Die Architektur dominiert nicht, sie treibt die Kunst sozusagen vor sich her.
Will man dem von den Architekten manifestierten Anspruch genügen, muss man sich auch auf den Ort und dessen Geschichte beziehen. Doch die Anhaltspunkte fehlen, sind zerstört, vergessen, verdrängt. Nicht nur die glorreiche Zeit des Großschiffbaus, nicht nur die heftigen Arbeitskämpfe der neunziger Jahre, auch die Aktion „Dynamo“, bei der 1940 mehr als 130.000 englische und französische Soldaten in letzter Minute vor den anrückenden Deutschen nach England evakuiert worden sind, ist untrennbar mit Dünkirchen verbunden. Es geht also um nicht weniger als um die Identität der Stadt. Da eröffnet die Kultur ein weites Feld. Bisher wird das Angebot der Grenzregion vornehmlich von Belgiern und Niederländern genutzt. Damit die Bewohner angesprochen werden, kann man in Dünkirchen durchaus noch mehr kleine Wunder wie diesen markanten Eingriff von Lacaton & Vassal gebrauchen.
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