Sozialer Wohnungsbau in Paris
Jean-Christophe Quinton und Charles Rosenfeld haben in Paris einen Sozialwohnungsbau errichtet, der anspornt.
Text: Landes, Josepha, Berlin
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Die Kalksandsteine der Fassade wurden im Carrière de Vassens geschlagen und in Nanterre anhand digitaler Vorlagen zugeschnitten.
Foto: Florent Michel
Die Kalksandsteine der Fassade wurden im Carrière de Vassens geschlagen und in Nanterre anhand digitaler Vorlagen zugeschnitten.
Foto: Florent Michel
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Die Fassade greift Motive des Fin de Siècle auf, wie sie die Nachbarbebauung aufweist.
Foto: Florent Michel
Die Fassade greift Motive des Fin de Siècle auf, wie sie die Nachbarbebauung aufweist.
Foto: Florent Michel
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Mag der Neubau auf den ersten Blick gewagt expressiv scheinen, stellt er de facto doch eine Reduktion der umgebenden Formsprache dar.
Foto: Florent Michel
Mag der Neubau auf den ersten Blick gewagt expressiv scheinen, stellt er de facto doch eine Reduktion der umgebenden Formsprache dar.
Foto: Florent Michel
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Die Wohnungen spannen jeweils zwischen Hof- und Straßenseite.
Foto: Florent Michel
Die Wohnungen spannen jeweils zwischen Hof- und Straßenseite.
Foto: Florent Michel
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Das Vis-à-vis wird über die aufgefächerte Front zum Teil des Wohnraums.
Foto: Florent Michel
Das Vis-à-vis wird über die aufgefächerte Front zum Teil des Wohnraums.
Foto: Florent Michel
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Teilweise gehören alle drei Fensterachsen zu einem Raum; auf einigen Geschossen sind sie auf zwei oder drei Räume verteilt.
Foto: Florent Michel
Teilweise gehören alle drei Fensterachsen zu einem Raum; auf einigen Geschossen sind sie auf zwei oder drei Räume verteilt.
Foto: Florent Michel
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Das Gebäude ist exzellent detailliert.
Foto: Florent Michel
Das Gebäude ist exzellent detailliert.
Foto: Florent Michel
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Die Gestaltung der Geländer und Gitter orientiert sich an den verspielter Vorlagen typischer Pariser „Immeubles“ (Mehrparteienhäuser).
Foto: Florent Michel
Die Gestaltung der Geländer und Gitter orientiert sich an den verspielter Vorlagen typischer Pariser „Immeubles“ (Mehrparteienhäuser).
Foto: Florent Michel
Der Lückenfüller im Quartier du Luxembourg legt gestalterisch und ökonomisch die Latteso hoch, dass es dauern dürfte, sie zu reißen. Ein wenig Doping ist im Spiel.
Welch schönes Haus. Es steht in fußläufiger Entfernung zum Jardin du Luxembourg, im 6. Arrondissement von Paris. Seine Fassade schwingt sich über drei Bögen in die Rue Jean-Bart. Zur Linken ein Kindergarten, zur Rechten das nächste Wohngebäude. Dieses Haus ist ein Sonderling und zugleich keiner. Entworfen und durch die Ausführung begleitet haben es Quinton Architecte; es besticht durch Perfektion.
Ein Zimmer zum Hof, ein Zimmer zur Straße – dieses Spannungsfeld, erklärt Jean-Christophe Quinton, habe die Grundrissentwicklung bestimmt. Das Haus ist stolz auf seine Zimmer; es ist ein traditionelles Haus, gedacht nicht im „plan libre“, sondern in Raumfolgen, mit Bezügen von einer „Kammer“ zur nächsten und in ihrer Durchlässigkeit regulierbaren Achsen zwischen Vorn und Hinten. Die Straße wird, wie auch der Hof, zu einem zusätzlichen, gemeinsamen Zimmer der Bewohner des Hauses und der Nachbargebäude. Diese Grundidee ist ausgesprochen poetisch, in Anbetracht der Gemengelage: Das 6. Arrondissement hat den Ruf als Literatenviertel. Seine Straßenzüge mit schmalen Bordsteinen und tiefgezogenen Mansarden taugen vorzüglich zum Imaginieren aufstrebender, ergo bettelarmer Schriftstellerleben – Sozialromantik, für die Paris ohnehin aufs Vortrefflichste taugt, und deren Ausbeutung es meistert. Heute leben im 6. vor allem jene, die „es geschafft“ haben. Es dominiert Wohneigentum – wie in Paris ohnehin; in Paris sollte man generell irgendwas geschafft haben.
Das Bauvorhaben 12 Rue Jean-Bart schipperte in steifem Gegenwind, denn das schöne Haus ist ein Sozialwohnungsbau, ein Projekt der Régie Immobilier de la Ville de Paris (RIVP). Für den zu 3000 Euro gebauten Quadratmeter zahlen die Mieter zwischen fünf und zwölf Euro. In den acht Einheiten des Hauses – vom Studio mit 27 Quadratmetern bis zum T3, einer Dreiraumwohnung mit 67 Quadratmetern – wohnen Menschen, die zuvor nicht in Paris gelebt haben, und deren Lebensumstände von Amts wegen als passgenau für die Hausgemeinschaft angesehen wurden: zum Beispiel ein Student oder eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Kind.
Jedes Wohngeschoss verfügt über ein ans rückwärtig gelegene, von Glasbausteinen ummantelte Treppenhaus angedocktes „Palier“. Im Wortsinn ein Podest, dient dieses Palier als abgeschlossener, durch eine Tür mit Glaseinsatz gut belichteter Vorraum. Zwischen Treppe und Wohnräumen angeordnet, erfüllt er laut dem Architekten die Funktion eines Vestibüls.
Außer auf Etage sechs mit zwei Studios, fasst jedes Geschoss nur eine Wohnung. In Fortsetzung von Treppenhaus und Palier vermittelt jeweils (mit Ausnahme einer Studioeinheit) ein Salon zum Straßenblick. Da das Haus nach oben hin zurückspringt, verringert sich die Wohnfläche von 67 Quadratmetern in der ersten Etage (eine Dreiraumwohnung) auf 38 Quadratmeter im „Penthouse“. Über den Rücksprüngen befinden sich schmale, die gesamte Hausbreite nutzende Balkone.
Die Tiefenstaffelung des Gebäudes im Verlauf seiner Höhenentwicklung trägt erheblich zur bereits durch die Wellen in Fassaden-Längsrichtung angelegten Eleganz bei. Zudem ergänzt sie weitere vom Nachbargebäude aufgenommene Charakteristika, die für Pariser Häuserfronten typisch sind. So erinnern etwa die reduziert gestalteten Brüstungen an die Fin de Siècle-Gitter, wie sie die bodenhohen Fenster der bourgeoisen Belle Etage abschirmen und verzieren – und weiter oben auch als schmale Borten auf dem Gesims die kleinbürgerlichen Fenster, die auf Meterhöhe ansetzen.
Herausragend ist jedoch zweifellos das Spiel der Architekten mit den Fassadenblöcken aus Naturstein. Sie sind einer Betonkonstruktion vorgesetzt und hochpräzise gefügt. Der aus einem Steinbruch nordöstlich von Compiègne bezogene Kalkstein wurde auf Grundlage digitaler Vorlagen in Nanterre zugeschnitten und handwerklich nachbearbeitet. Abgesehen von einer Handvoll Sondersteinen, wiederholen sich die Maße der Zuschnittstücke in jeder vierten Lage.
Sonderformen finden sich etwa den Eingang flankierend. Um die baurechtlich vorgeschriebene Flucht einzuhalten, lösen sich die mittleren Grate der drei Schwünge im Erdgeschoss jeweils auf. Einen Zwang verwandeln die Architekten zu ihren Gunsten. Die so entstehenden engen Kurven links und rechts des Portals setzen einen klaren, mittigen Schwerpunkt auf Straßenniveau. Selbst die Hausanschlusskästen, die in einem Grünton, der aus der Pariser Farbpalette gespeist ist, präsent in diesen Nischen untergebracht sind, treten geradezu augenschmeichelnd auf.
Sowieso, erklärt Quinton: „Die Form löst ein Problem“. In den Schwüngen erkannten er und sein Team die Möglichkeit, den Unterschied von zwanzig Zentimetern zu überbrücken, der zwischen der Front von linkem und rechtem Nachbarn klafft. Die Wellenkämme vermitteln so selbstverständlich, wie sich auch ein zweites Ansinnen des Entwurfs bestätigt: Ein Haus zu entwickeln, das zugleich auffällt und mit der Umgebung verschmilzt. Mit der Demontage des Bauzauns sei alles Murren im Umkreis verstummt – es wäre nicht das erste Selbstlob, das Beweise schuldig bleibt, doch hier rückt die Behauptung in den Bereich des Möglichen.
Quinton arbeitete eng mit Charles Rosenfeld zusammen, der Name des Projektpartners ist in einen Stein rechts der Haustür eingraviert. Wie schlüssig traditionelle und moderne Bauform, Programmierung und Ausführung bei diesem Stadthaus ineinandergreifen, ist – besonders, was die Fassade betrifft – auch dessen Verdienst. Ob nun mit dem Haus 12 Rue Jean-Bart die „Architektur neu erfunden wurde“ (eine Träumerei des Meister Quinton), ein Schritt über die Post- und die Post-Post-Moderne hinaus, hin zu einer wiedergefundenen Verortung des Bauens, begründet wurde, die das Potenzial birgt, Nachahmer zu finden – darauf ließe sich zumindest hoffen.
Fakten
Architekten
Jean-Christophe Quinton und Charles Rosenfeld, Paris
Adresse
12 Rue Jean Bart, 75006 Paris, Frankreich
aus
Bauwelt 3.2023
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