Wohn- und Geschäftshaus in Berlin
Eine schmuckfreie Fassade bietet heute keinen Anlass mehr, sich zu echauffieren, den Städter reizt mehr der Bruch mit dem Kontext. Es bedarf des bewussten Blicks, um der rar gewordenen Selbstverständlichkeit des Hauses von Flacke Otto Architekten in Berlin-Mitte gewahr zu werden.
Text: Kasiske, Michael, Berlin
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Der Alfred-Döblin-Platz liegt an der Grenze von Mitte und Kreuzberg; seine Westseite ist Mauerbrache.
Foto: Architekten
Der Alfred-Döblin-Platz liegt an der Grenze von Mitte und Kreuzberg; seine Westseite ist Mauerbrache.
Foto: Architekten
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Ein breiter Pflanztrog über dem Erdgeschoss trennt Sockel und Wohnungen.
Foto : Architekten
Ein breiter Pflanztrog über dem Erdgeschoss trennt Sockel und Wohnungen.
Foto : Architekten
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Das Café
Foto: Lydia Tirri
Das Café
Foto: Lydia Tirri
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Tief zurückgesetzt liegen der Eingang zu den Wohnungen und der ins geplante Café.
Foto: Lydia Tirri
Tief zurückgesetzt liegen der Eingang zu den Wohnungen und der ins geplante Café.
Foto: Lydia Tirri
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Eine filigrane Brüstung schafft grüne Balkone und ermöglicht, ...
Foto: Lydia Tirri
Eine filigrane Brüstung schafft grüne Balkone und ermöglicht, ...
Foto: Lydia Tirri
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...Schatten und Sichtschutz spendende Vorhänge anzubringen.
Foto: Lydia Tirri
...Schatten und Sichtschutz spendende Vorhänge anzubringen.
Foto: Lydia Tirri
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Im Treppenhaus schafft eine Installation aus LED-Röhrenleuchten eine Folge unterschiedlicher Lichträume.
Foto: Architekten
Im Treppenhaus schafft eine Installation aus LED-Röhrenleuchten eine Folge unterschiedlicher Lichträume.
Foto: Architekten
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Die schräge Abpendelung der Leuchten vermeidet harte Schlagschatten.
Foto: Lydia Tirri
Die schräge Abpendelung der Leuchten vermeidet harte Schlagschatten.
Foto: Lydia Tirri
Ein Schelm, bei dem nicht das Haus am Michaelerplatz von Adolf Loos aufblinkt. Ähnlich wie weiland 1911 in Wien kann der städtebauliche Kontext in Berlin an der Grenze der Bezirke Mitte und Kreuzberg als heterogen bezeichnet werden. Wobei die Mauer ihre Spuren hinterlassen hat: Am kleinen Alfred-Döblin-Platz am nördlichen Ende der Luckauer Straße charakterisieren Gründerzeitblockrand und die Kirche St. Michael, 1964 nach Entwürfen von Rudolf Schwarz und Hans Schaefers ausgeführt, das einstige West-Berlin; versprengt stehende Altbauten im Blockinnenbereich, dreigeschossige Zeilen aus den 1950er Jahren sowie in den letzten zwei Dekaden errich-teter Wohnungsbau auf dem ehemaligen Grenzgebiet kennzeichnen den Ostteil. Insbesondere am nahen Engelbecken wird die Atmosphäre dominiert von Häusern, die den früheren, durch Krieg, Wiederaufbau und Teilung zwischenzeitlich stark überformten Stadtraum zwar wiederentstehen ließen, architektonisch jedoch vollkommen belanglos sind – ja, der innerstädtischen und geschichtlichen Situation teilweise mit erschreckend hilfloser Gestaltung begegnen.
Zurück zu Loos: während der vom Wiener Gemeinderat angehalten wurde, seine „augenbrauenlosen“ Fensteröffnungen „durch Blumenkörbe in Bronze zu dekorieren“, mussten die Berliner Architektinnen Ulrike Flacke und Nina Otto lediglich von dem Wunsch Abstand nehmen, die Fassadenbegrünung am Bürgersteig zu verwurzeln; das Bezirksamt Mitte fürchtete wohl, für Pflanzen auf öffentlichem Grund dereinst verantwortlich zu sein. Die Architektinnen schoben kurzerhand das Erdreich hoch vor die Brüstung des ersten Obergeschosses, so dass nunmehr ein voluminös wirkender Pflanzenbalkon die Trennung zwischen Öffentlich und Privat unübersehbar markiert.
Als Vorbild für die Lochfassade dienten die denkmalgeschützten Altbauten auf der Kreuzberger Seite, wie das schräg gegenüber liegende Beamtenwohnhaus, das Stadtbaurat Hermann Blankenstein 1888 zusammen mit der nicht mehr existierenden Markthalle VII errichten ließ. Flacke und Otto wollten, ganz im Sinne der Stadtplanung des Bezirks, die Straßenansicht nicht auflösen, anders als die Entwerfenden der unmittelbar anschließenden Häusern, welche zuweilen die Anmutung von Regalen haben.
Einem großstädtischen Geschäftshaus entsprechend, gliedern sich Vorder- und Rückseite in Sockel-, Normal- und Attikageschosse. Neben dem mittig eingeschnittenen Eingang befindet sich auf der einen Seite eine ebenfalls von Flacke und Otte entworfene Kaffeebar, deren noch ausstehende Eröffnung ein großer Gewinn für den Alfred-Döblin-Platz wäre; auf der anderen Seite –über der Durchfahrt – ein „Entresol“, für das die Geschossdecke zum ersten Obergeschoss angehoben wurde, um Kopfhöhe zu erlangen. Gemeinsam mit dem Bauherrn waren sich die Architektinnen einig, kein Wohnen im Erdgeschoss zuzulassen, was beim vorhandenen Straßenleben unausweichlich auf stets geschlossene Vorhänge oder Abklebungen mit Folien hinausgelaufen wäre.
Insgesamt war der Eigentümer den Architektinnen zugetan, schließlich beruhte der Auftrag auf seiner Begeisterung für eine monolithische Treppe aus Terrazzo in einem anderen Bauvorhaben der beiden. Wie wichtig ihm ein Haus war, das auch den Maßstäben von morgen genügt, lässt sich am ursprünglichen Wunsch nach einem reinen Holzbau ablesen. Der wäre nach der seinerzeit geltenden Bauordnung lediglich dreigeschossig möglich gewesen, wozu der Bauherr, nicht aber die Genehmigungsbehörde bereit war. Der Wunsch nach leicht recycelbaren, erdölfreien Materialien blieb jedoch. Im realisierten Massivbau mussten alle Baustoffe, vom Kalksandstein über Schaum-glasschotter als Dämmung bis hin zu mineralischen Farben, von einer in Bauökologie spezialisierten Bauingenieurin bewertet und freigegeben werden.
Dem Wunsch, der Stadt das bebaute Grün nicht zuletzt zur Bindung von Feinstaub zurückzugeben, kommt das Haus auf vielfältige Weise nach. Neben dem Pflanzenbalkon gibt es im Attikageschoss vorn und hinten ebenfalls breite Pflanztröge, auf den rückwärtigen, filigran konstruierten Balkonen eine dünne Substratschicht und auf der Dachterrasse eine rund 60 Zentimeter dicke Erdschicht, die das Wachsen kleiner Bäume ermöglicht.
Nun prägt die weiße Front mit den durch die Gewände überhöhten Fensteröffnungen den Alfred-Döblin-Platz, insbesondere durch ihre rätselhaft erscheinenden Proportionen. Die drei mittleren „amerikanischen“ Schiebefenster sind den Wohnräumen vorbehalten. Die äußeren schmalen Fenster können für Küchen und Bäder genutzt werden; sie schlagen nach außen auf und dienen als Rettungswege. Ihre Profile gewinnen die statische Festigkeit in der Tiefe und wirken deshalb äußerlich überraschend schmal. Die kleinen runden Felder im Attikageschoss sind übrigens keine Halterungen, sondern Vogelnistplätze aus Leichtbeton – eines der Details, die der Bauherr einbrachte.
Hinter dem Fensterband im ersten Obergeschoss, gleichsam ein hohes Mezzanin, befinden sich Büros, darüber insgesamt sieben Wohnungen und zwei Gästeapartments; den Abschluss bildet ein Dachgarten für alle Bewohner. Die Erschließung erfolgt über einen zentral gelegenen Treppenraum, dessen ockergelb gestrichener Aufzugsturm durch den verglasten Eingang auf die Straße schimmert. Der barrierefreie Zugang zur Kaffeebar befindet sich in der Durchfahrt und ist nur über eine Klingel benutzbar. Hier wäre ein gemeinsamer Eingang aller Besucher wünschenswert gewesen, auch um die Wohnungen stufenlos erschließen zu können.
Obgleich das Haus in seiner Ausgestaltung ungewöhnlich ist, sind die einzelnen Komponenten sehr vertraut. Insofern könnte dem Haus folgender nach wie vor aktuellem Merksatz aus Loos’ Text „Meine Bauschule“ eingeschrieben sein: „An die stelle der auf unseren hochschulen gelehrten bauweise, die teils aus der adaptierung vergangener baustile auf unsere lebensbedürfnisse besteht, teils auf das suchen nach einem neuen stil gerichtet ist, will ich meine lehre setzen: die tradition.“
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