Wohnhaus Latapie in Floirac
Das Haus, das Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal 1993 für eine Familie mit zwei Kindern in Floirac bei Bordeaux errichteten, wirkt im Rückblick wie ein Schaubild für ihre späteren Arbeiten, vor allem die großen Transformationsprojekte, mit denen die diesjährigen Pritzker-Preisträger bekannt geworden sind.
Text: Ruby, Ilka, Berlin
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Das Haus Latapie besteht aus zwei Schichten: Das kompakte Holzvolumen mit den Wohnräumen wird von einer größeren Stahlkonstruktion geschützt.
Foto: Philippe Ruault
Das Haus Latapie besteht aus zwei Schichten: Das kompakte Holzvolumen mit den Wohnräumen wird von einer größeren Stahlkonstruktion geschützt.
Foto: Philippe Ruault
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Sie ist zur Straße hin mit Faserzementplatten verkleidet, ...
Foto: Philippe Ruault
Sie ist zur Straße hin mit Faserzementplatten verkleidet, ...
Foto: Philippe Ruault
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... die sich nach Bedarf ganz unterschiedlich öffnen lassen.
Foto: Philippe Ruault
... die sich nach Bedarf ganz unterschiedlich öffnen lassen.
Foto: Philippe Ruault
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Das Prinzip Extra-Raum: Auf der Gartenseite ist die Stahlkonstruktion mit Polycarbonatplatten verkleidet.
Foto: Philippe Ruault
Das Prinzip Extra-Raum: Auf der Gartenseite ist die Stahlkonstruktion mit Polycarbonatplatten verkleidet.
Foto: Philippe Ruault
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Der riesige Wintergarten ...
Foto: Philippe Ruault
Der riesige Wintergarten ...
Foto: Philippe Ruault
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... verdoppelt das Volumen des „eigentlichen“ Hauses.
Foto: Philippe Ruault
... verdoppelt das Volumen des „eigentlichen“ Hauses.
Foto: Philippe Ruault
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Modell der ersten Entwurfsversion des Hauses.
Foto: Lacaton & Vassal
Modell der ersten Entwurfsversion des Hauses.
Foto: Lacaton & Vassal
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Die Familie Latapie eignete sich den Wintergarten sehr bald als Hauptaufenthaltsraum des Hauses an.
Foto: Lacaton & Vassal
Die Familie Latapie eignete sich den Wintergarten sehr bald als Hauptaufenthaltsraum des Hauses an.
Foto: Lacaton & Vassal
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Statt die alte Werfthalle für das Kulturzentrum FRAC in Dünkirchen aufwendig umzubauen, ...
Foto: Philippe Ruault
Statt die alte Werfthalle für das Kulturzentrum FRAC in Dünkirchen aufwendig umzubauen, ...
Foto: Philippe Ruault
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... ertüchtigten Lacaton & Vassal sie nur und stellen einen Zwilling direkt daneben (Bauwelt 19.2014)
Foto: Philippe Ruault
... ertüchtigten Lacaton & Vassal sie nur und stellen einen Zwilling direkt daneben (
Bauwelt 19.2014)
Foto: Philippe Ruault
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530 Antworten auf die Frage, was der Extra-Raum Wintergarten werden kann.
Foto: Philippe Ruault
530 Antworten auf die Frage, was der Extra-Raum Wintergarten werden kann.
Foto: Philippe Ruault
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Umbau von Sozialwohnungen aus den sechziger Jahren in der Cité du Grand Parc in Bordeaux (Bauwelt 39.2016)
Foto: Philippe Ruault
Umbau von Sozialwohnungen aus den sechziger Jahren in der Cité du Grand Parc in Bordeaux (
Bauwelt 39.2016)
Foto: Philippe Ruault
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Die üppig bemessende Erschließung als Extra-Raum für Unvorhergesehenes.
Foto: Philippe Ruault
Die üppig bemessende Erschließung als Extra-Raum für Unvorhergesehenes.
Foto: Philippe Ruault
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Ein Schlüsselmoment meiner architektonischen Sozialisation ereignete sich Mitte der neunziger Jahre. Ich blätterte durch ein spanisches Architekturmagazin zum Thema Wohnen – und plötzlich war da dieses Foto: Es zeigte einen fensterlosen Kasten aus gewellten, grauen Faserzementplatten hinter einem filigran verschnörkelten Gartenzaun. „Wow!“, dachte ich, „kann das wirklich ein Haus sein? Ist das überhaupt Architektur?“ Die Verweigerung jeglichen formalen Ausdrucks. Ein billiges Material aus dem Baumarkt. Und dann dieser ornamentale Zaun, der offensichtlich schon vorher dort gestanden hatte. War das als architektonische Polemik gedacht? Ein zynisches Statement zum Traum vom Einfamilienhaus? Ich war geschockt, fasziniert und ziemlich aufgeregt. Ich blätterte um zu weiteren Fotos und Zeichnungen und spürte schnell, dass dieses Haus das Radikalste war, das ich seit langem gesehen hatte.
Dabei ist das realisierte Projekt bereits die zweite Version des Hauses Latapie. Der ursprüngliche Entwurf war in gewisser Weise noch radikaler. Lacaton & Vassal konnten ihn später, abgewandelt, beim Haus in Coutras und im größeren Maßstab als Reihenhaustypologie in der Cité manifeste in Mulhouse umsetzen.
Als die Familie Latapie Anne Lacaton & Jean-Philippe Vassal kontaktierte, besaß sie bereits einen Bauplatz und dazu ein Budget von 55.000 Euro für ihr Haus. Die Entscheidung, sich an ein Architekturbüro zu wenden, entsprang nicht dem Wunsch, einen auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Entwurf zu bekommen. Vielmehr hatte die Familie zuvor bereits bei verschiedenen Hausanbietern nach einem Standardprodukt gesucht. Jedoch war schnell klargeworden, dass der Zuschnitt ihres Grundstücks nicht ideal war für die Häuser, die der Markt bot. Außerdem erschienen die 65 bis 70 Quadratmeter Standard-Wohnfläche, die sie mit ihrem Budget bekommen hätten, der vierköpfigen Familie zu wenig. Lacaton & Vassal interessierten sich in den Gesprächen mit den Bauherren allerdings erstmal nicht für Anzahl oder Größe der Räume, sondern fragten sie nach ihren Wunschträumen und wollten wissen, an welchen Orten und in welchen Situationen sie am glücklichsten seien. Sie erfuhren so von den Reisen der Familie im Campingbus nach Südspanien – und dass der wichtigste Moment jeder Reise der sei, in dem die Vier Klapptisch und -stühle aus dem Bus holten und am Meer aufstellten.
Damit beschrieben die Latapies ein Verständnis von Wohnen, das die beiden Architekten bereits seit ihrer Zeit in Niger faszinierte, wo Jean-Philippe Vassal von 1980 bis 1985 als Stadtplaner arbeitete. Dort beobachteten sie, wie Nomaden nur einen Bruchteil des Tages in ihrem Zelt verbrachten. Die übrige Zeit bewohnten sie verschiedene Orte in der Umgebung des Zelts. Orte, die je nach Bedarf Schatten spendeten oder vor Wind schützten, die einen Überblick über das Gelände boten oder durch einen Hügel abgeschirmt waren. Mehr als einen Teppich, der am jeweiligen Ort ausgerollt wurde, benötigten die Nomaden dabei nicht. In Afrika verstanden Lacaton & Vassal zum ersten Mal, wie sich das Wohnen im Wechselspiel zwischen formellem und informellem Raum über die Wände des Hauses hinaus ausdehnen kann. Und dass die Freude am Wohnen ganz entscheidend davon abhängt, ob wir dabei auch sinnlich unsere Umwelt spüren können. Und seit dieser Erkenntnis beschäftigte die beiden die Frage, wie eine nomadische Wohnpraxis auch in unseren gemäßigten Breiten möglich wäre, wo das Klima einen fließenden Wechsel zwischen Innen- und Außenraum über das ganze Jahr nicht erlaubt.
Welches Klima braucht das Wohnen?
Im Entwurf, den die Architekten den Latapies als erstes vorschlugen, fanden sie zum ersten Mal eine Antwort auf diese Frage, indem sie das Wohnhaus mit einem Gebäudetyp kreuzten, der bereits in ihrer Studienzeit ihr Interesse geweckt hatte und der gewissermaßen die Umkehrung ihres Wohnverständnisses darstellt: das Gewächshaus. Während sich das nomadische Wohnen aus dem Haus in den Freiraum verlagert, wird beim Gewächshaus der Freiraum in Form von Pflanzen und Sonne ins Haus geholt. Ihre Entwurfsstrategie für das Haus Latapie setzte nicht bei der Frage an, welche Räume, das Wohnen braucht, sondern welches Klima. Vereinfacht gesagt, entwarfen sie das Haus in zwei Phasen: Im ersten Schritt entstand ein leichtes Gewächshaus, das die idealen klimatischen Bedingungen für ein entgrenztes Wohnen schafft, im zweiten Schritt wurden in diese Hülle hinein die Wohnräume platziert. So gesehen ist bereits Lacaton & Vassals erster Entwurf, obwohl er für ein unbebautes Grundstück gedacht ist, konzeptionell eine Transformation – und verweist damit auf eine Entwurfshaltung, die ihre spätere Karriere entscheidend prägen wird.
Der erste Vorschlag für das Haus Latapie sah vor, die maximal zulässige Bebauungsfläche von 12 x 9 Metern auszunutzen. Im Erdgeschoss bildeten zwei gemauerte Wandscheiben die Schmalseiten des Hauses, die Längsseiten erhielten großzügige Öffnungen aus Schiebeelementen. Auf diese Wände sollte eine 6 Meter hohe handelsübliche Gewächshauskonstruktion montiert werden, wie sie in der Landwirtschaft eingesetzt wird. Das Dach sowie zwei Wände des Gewächshauses bestanden aus einer mit Luft gefüllten doppelwandigen Kunststofffolie, die beiden anderen Wände aus transparenten gewellten PVC-Platten. Im Winter würde sich der Raum durch die Sonneneinstrahlung erwärmen und so ein angenehmes Klima schaffen, im Sommer könnten natürliche Belüftung und Verschattungselemente ein Überhitzen verhindern. In diese leichte, transparente Hülle hinein platzierten die Architekten zwei freistehende Holzvolumen, die Küche, Wohnraum, Schlafzimmer, Bad und Abstellraum enthielten. Der zwischen den Wohnboxen und der Gewächshaushülle entstehende Hybridraum zwischen Außen- und Innenraumklima, hatte das Potenzial, den Freiraum aus dem angrenzenden Garten nach innen und den Wohnraum nach außen fließen zu lassen.
Um ihre Entwurfsidee zu veranschaulichen, besuchten die Architekten mit den Bauherren botanische und landwirtschaftliche Gewächshäuser. Die Latapies waren erst überrascht – und dann begeistert, auch weil der Entwurf mit seinen 180 Quadratmetern nutzbarer Fläche ihre Erwartungen bei Weitem übertraf. Allerdings überschritt er auch ihr verfügbares Budget um circa 10.000 Euro, was zum Konflikt mit den Eltern der Bauherren führte, die aus Angst, das Projekt könne ihre Kinder finanziell ruinieren, die Architekten aufforderten, jegliche Gespräche über das Projekt einzustellen. Soweit kam es nicht. Doch Lacaton & Vassal spürten die immense Verantwortung, die man als Architekt gegenüber einem Bauherren hat. Und sie machten in der Folge die Ökonomie zu einem Leitfaden ihrer Entwürfe. Dabei geht es ihnen nicht darum, möglichst wenig Geld zu verbauen, sondern darum, das vorhandene Budget auf die beste Weise einzusetzen. Statt auf edle Materialen oder spezialisierte Bauprodukte setzen sie auf einfache industrielle Elemente, und das auf diese Weise gesparte Geld geben sie aus für zusätzlichen Raum. Mit dieser Strategie entstehen Wohnungsgrößen, wie man sie bisher im kostengünstigen oder gar sozialen Wohnungsbau nicht kannte – und die Gleichung kleines Budget gleich kleine Wohnung wird ausgehebelt.
Für das Projekt Latapie schlugen Lacaton & Vassal den Bauherren nun zwei Optionen vor. A: Sie entwickeln einen einfacheren Entwurf, der sich innerhalb des Budgets realisieren lässt, oder B: Sie unterstützen die Latapies dabei, auf dem Markt ein Standardhaus zu finden, das zu ihren Bedürfnissen und ihrem Grundstück passt. Glücklicherweise entschieden sich die Bauherren für die erste Option, das Ergebnis ist das Haus Latapie in seiner schließlich gebauten Form. Statt der komplett transparenten Klimahülle, in der die Wohnräume frei platziert werden, entwarfen die Architekten eine in zwei Hälften geteilte Stahlkonstruktion: Die zum Garten orientierte Hälfte ist mit transparentem Polycarbonat verkleidet, die zur Straße mit grauen Faserzementplatten. Hinter der opaken Hälfte versteckt sich ein Holzvolumen, das auf zwei Ebenen kompakt alle Wohnräume enthält. Die transparente Hälfte blieb leer und bildete einen doppelgeschossigen Wintergarten, mit dem sich die Wohnräume über große Fenster und Falttüren verbinden können. Auch Faserzement- und Polycarbonathülle lassen sich großzügig öffnen, so dass die Bewohner Lichteinfall, Durchlüftung, Ein -und Ausblicke ihren Bedürfnissen entsprechend regulieren können. Insgesamt entstanden 185 Quadratmeter nutzbare Fläche, circa zwei Drittel davon werden als Wohnräume genutzt, ein Drittel als Wintergarten.
Der Grundriss des neuen Entwurfs für das Haus Latapie liest sich wie ein Diagramm für die späteren Transformationsprojekte von Lacaton & Vassal im großen Maßstab wie der Tour Bois Le Prêtre in Paris oder die Cité du Grand Parc Bordeaux, bei denen die bestehenden Baukörper durch eine zusätzliche Raumschicht aus Wintergärten und Balkonen ergänzt werden. Überhaupt wird der Wintergarten zum zentralen Werkzeug ihrer Architektur. Er ermöglicht es, gleich mehrere ihrer Anliegen zu vereinen: Großzügigkeit, Durchlässigkeit und Nachhaltigkeit. Der Wintergarten fungiert als klimatischer Pufferraum zwischen den gedämmten und beheizbaren Wohnräumen und dem Außenraum. Statt das Haus mit immer dickeren Dämmschichten von der Umwelt abzuschirmen, arbeitet der Wintergarten nicht gegen, sondern mit dem Klima und reduziert durch passive Solargewinne die Energiekosten. Als ungedämmter und unbeheizter Raum kann seine Fassade von größtmöglicher Leichtigkeit und Transparenz sein.
Vollendung erst durch den Gebrauch
Im Haus Latapie wurde der Wintergarten zum zentralen Treffpunkt der Familie. Die Bauherren möblierten ihn mit einigen Erbstücken von den Großeltern und machten ihn zu ihrem neuen Wohnzimmer, in dem sie den größten Teil ihrer Zeit verbringen. Diese Art der Aneignung überraschte Lacaton & Vassal. Zwar hatten sie den Wintergarten in ihrem Entwurf als leeren Raum dargestellt, aber mit ihren Bildern von Gewächshäusern im Hinterkopf, hatten sie ihn sich immer als Gartenraum voller Pflanzen ausgemalt. Die Latapies öffneten ihnen die Augen für das utopische Potenzial dieses Raums, der Aktivitäten generieren kann, die ursprünglich weder im Raumprogramm der Bauherren noch in der Vorstellung der Architekten vorgezeichnet waren.
In diesem Sinne war das Haus Latapie für Lacaton & Vassal die Initiationserfahrung einer Architektur, die ihre Vollendung erst im Akt des Gebrauchs durch die Benutzer erfährt – sofern das Gebäude letzteren einen entsprechenden Raum zur Aneignung bietet. Einen solchen Extra-Raum haben Lacaton & Vassal in der Folge systematisch in ihre Projekte integriert, nicht nur im Wohnungsbau. In ihrer Architekturschule in Nantes vergrößern sie die Erschließungsflächen, bis diese zu riesigen Räumen werden, die Studierenden und Lehrenden zur freien Verfügung stehen. Für das Kulturzentrum FRAC in Dünkirchen duplizieren sie das Volumen der bestehenden Werfthalle. Die Transformation in der Cité du Grand Parc Bordeaux schließlich multipliziert das Prinzip des Hauses Latapie auf beeindruckende Weise: Hier finden sich 530 Antworten auf die Frage, was der Extra-Raum werden kann.
Dieser Extra-Raum gibt der Architektur die Chance, mit ihren eigenen Konventionen zu spielen und mit alternativen Protokollen zu experimentieren. Die formale Demut der Architektur von Lacaton & Vassal ist deswegen alles andere als eine willkürliche ästhetische Reduktion. Vielmehr artikuliert sie den Respekt der Architekten vor ihren Nutzern. Es ist dieses berauschende und dennoch unerhört beiläufige Gefühl von Freiheit, das ihre vom Leben durchfluteten Gebäude so besonders machen. Für mich liegt Lacaton & Vassals vielleicht folgenreichster Beitrag zur Architektur darin, dass sie dieser Freiheit das ästhetisch Schockierende genommen haben, das ich noch bei meiner ersten Begegnung mit dem Haus Latapie verspürte, und dass wir diese Freiheit heute einfach als selbstverständlich schön und erstrebenswert empfinden können.
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