Das Scheitern des Metabolismus
Der Nakagin-Kapselturm, das bekannteste Gebäude des japanischen Metabolismus, soll abgerissen werden.
Text: Meyer, Ulf, Berlin
Das Scheitern des Metabolismus
Der Nakagin-Kapselturm, das bekannteste Gebäude des japanischen Metabolismus, soll abgerissen werden.
Text: Meyer, Ulf, Berlin
Der Nakagin Capsule Tower in Tokio von Kisho Kurokawa (1934–2007) ist das berühmteste Gebäude der 1970er-Jahre in Japan. Der Zwillingsturm drückt die Vision einer dynamischen, zyklischen Stadtentwicklung und Architektur aus, die sich ständig verändern und wachsen kann. Er ist auch Ausdruck eines Zeitgeistes, zu dem die Raumfahrtbegeisterung genauso gehört wie die Liebe der modernen Architekten und Architektinnen zur industriellen Vorfertigung. 140 vorfabrizierte Raummodule sind an zwei Treppenhauskernen aus Beton aufgehängt. Die Module wurden komplett ausgestattet auf die Baustelle transportiert, per Kran eingehoben und mit nur vier Bolzen mit dem in situ gegossenen Betonkern verschraubt. Jede der 3,8 x 2,3 Meter großen Wohnkapseln aus Stahl hat ein rundes Bullaugen-Fenster, Bett, Stereoanlage, Minibar sowie eine WC- und Duschzelle. Der Kapselturm wurde in nur dreißig Tagen gebaut und sofort zum Wahrzeichender Ginza, des noblen Einkaufsviertels im Osten von Tokio. Obwohl es nur zwei Typen von Kapseln gibt, führt die um je ein Viertelgeschoss gegeneinander in die Höhe springende Splitlevel-Anordnung zu einem Ausdruck der Fassade, der an einen Bienenkorb oder Weintrauben an der Rebe erinnert.
Kurokawa ließ die Wohnzellen 1972 herstellen. Die Module wurden so konzipiert, dass sie einfach ausgewechselt werden können, wie Zellen eines sich ständig erneuernden Organismus. Die Vision des Architekten war, dass die Kapseln alle 25 Jahre ersetzt werden würden. Ursprünglich waren sie als „Heimatbasis“ für weit entfernt lebende Angestellte genutzt worden, die in der Innenstadt übernachten müssen, wenn sie den letzten Zug verpasst haben oder betrunken aus dem Izakaya kommen. Tatsächlich sind die Wohnkapseln das Vorbild der „Kapselhotels“, die bis heute in vielen japanischen Städten als preiswerte, sargähnliche Unterkünfte für „Salary Men“ und Stadtstreuner dienen.
Der Kapselturm gilt als gebauter Höhepunkt des Metabolismus. Im Zuge dieser Architekturströmung, zu deren Vorreitern auch Architekten wie Kiyonori Kikutake (1928–2011) und Fumihiko Maki zählten, ließen sich in Tokio Studierende in den 1960er-Jahren von der Idee der „Megastrukturen“ und dem scheinbar unaufhörlichen Wirtschaftswachstum beeinflussen. Der Nakagin Capsule Tower verkörpert die Ideale dieser „Stoffwechsel“-Baukunst exemplarisch. Er ist zugleich ein Welterfolg und Flop. Zuletzt hat Charlie Koolhaas in ihrem Buch „Metabolism Trip“ eine ernüchternde Bestandsaufnahme der verbliebenen metabolistischen Gebäude fotografisch dokumentiert. Die Tochter von Rem Koolhaas hat die Werke der „einzigen wirkungsmächtigen nicht-westlichen Avantgarde-Bewegung der modernen Architektur“, wie Historiker den Metabolismus heute klassifizieren, in verschiedenen Aggregatzuständen des Verfalls, der Überformung, aber auch der fortgesetzten Nutzung festgehalten.
Damals sollte der futuristische Turm ein Modell für das Wohnen und Arbeiten der Zukunft sein, inzwischen ist er in desolatem Zustand. Architekten und Architektinnen – nicht nur der japanischen Nachkriegs-Wirtschafts-Boom-Jahre – überschätzen oft das Bedürfnis der Nutzer und Nutzerinnen, Gebäude zu erweitern und zu erneuern. Die Eigentümerin des Kapselturms, die japanische Investmentgesellschaft CTB CK, hat nie eine Änderung oder Ergänzung erwirkt.
Im Herbst dieses Jahres soll der Nakagin-Kapselturm abgerissen werden – trotz seiner Bedeutung für die Geschichte der japanischen Moderne und weltweiter Proteste. Schon seit 2007 ist der Turm vom Abriss bedroht, doch die Finanzkrise hatte einen Aufschub begründet. Im vergangenen Jahr hatte sich die Besitzerin dazu entschieden, zu verkaufen. Ihr Turm soll durch einen schnöden Allerweltsneubau ersetzt werden. In Japan gibt es keine funktionierende Denkmalpflege der Moderne, die Stadt Tokio frisst sich beständig selbst auf. Freunde der DoCoMoMo, die es auch in Japan zahlreich gibt, mögen im Karree springen, aber die ephemere Baukultur in Fernost geht auch über den Verlust ihrer Meilensteine gänzlich unsentimental hinweg.
Tatsuyuki Maeda vom „Nakagin Capsule Tower Preservation and Rehabilitation Project“ betont, dass noch nicht alle Kapselbewohner eine Übereinkunft mit der Besitzerin gefunden haben. Etwa dreißig der Bewohner und Bewohnerinnen hat der Turm noch. Aber der Wert des Grundstücks hat sich vervielfacht und ein höherer Neubau verspricht mehr Gewinn. Der Kauf des Grundstücks und die Instandsetzung würden 76 Millionen Euro beanspruchen und die will bisher niemand aufbringen. Mittels Crowdfunding wird Geld gesammelt. Wer 30.000 Yen oder mehr spendet, dessen Name wird auf einer Plakette auf einer der Kapseln verewigt. Vor dem Abriss will Maeda deshalb einige Kapseln abmontieren und aufarbeiten lassen. Für die Rettung der Kapseln konnte das Team das Architekturbüro von Kurokawa als Partner gewinnen. Es hofft, die Hälfte der Kapseln bewahren zu können und ihnen als Studentenbuden oder Touristenunterkunft ein neues Leben zu ermöglichen, aber natürlich ist eine einzelne Kapsel ein schwacher Abglanz. Ein Modul ist bereits im Museum of Modern Art in Saitama gelandet.
Ein Trost ist, dass mit dem „Shizuoka Presse- und Mediengebäude“ von Kenzo Tange (1968) fußläufig von Kurokawas Meisterwerk ein Gebäude erhalten und in gutem Zustand ist, das die Prinzipien des Metabolismus ebenso schön illustriert wie der Kapselturm. Am Rande der Ginza kragen seine Bürozellen aus einem großen Kreiszylinder in der Mitte aus, der mit braunen Aluminium-Tafeln verkleidet ist. Leerstellen repräsentieren die Erweiterbarkeit des Medien-Towers. Das Gebäude ist zu einem Wahrzeichen für Reisende geworden, die von Westen nach Tokio kommen, da es direkt neben einer Hochautobahn und den erhöhten Gleisen der Tokaido-Linie steht, über die im Minutentakt Shinkansen-Schnellzüge gleiten.
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