Bauwelt

Denken und Machen

Vor einhundert Jahren, am 13. Mai 1922, wurde Otl Aicher in Ulm geboren. Unser Autor, der Aichers letztes Buch einge­leitet hat, erinnert sich an seine Begegnungen mit dem wichtigsten deutschen Gestalter im 20. Jahrhundert.

Text: Jean Stock, Wolfgang, München

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Otl Aicher im Atelier, 1953. Er war Mitgründer der Hochschule für Gestaltung Ulm und Entwerfer einer Weltsprache der Zeichen.
Foto: Florian Aicher/HfG-Archiv Museum Ulm

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Otl Aicher im Atelier, 1953. Er war Mitgründer der Hochschule für Gestaltung Ulm und Entwerfer einer Weltsprache der Zeichen.

Foto: Florian Aicher/HfG-Archiv Museum Ulm


Denken und Machen

Vor einhundert Jahren, am 13. Mai 1922, wurde Otl Aicher in Ulm geboren. Unser Autor, der Aichers letztes Buch einge­leitet hat, erinnert sich an seine Begegnungen mit dem wichtigsten deutschen Gestalter im 20. Jahrhundert.

Text: Jean Stock, Wolfgang, München

Durch glückliche Umstände erhielt ich im Jahr 1990 den Auftrag, zu Otl Aichers Buch „Die Welt als Entwurf“ die Einführung zu schreiben – dass es sein letztes werden würde, konnte damals niemand erahnen. Es war für mich eine große Freude, nun endlich den von mir lange verehrten Gestalter persönlich kennen zu lernen. Seine Leistungen waren ja bereits legendär: als Mitgründer der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG), als Entwerfer von Büchern, Plakaten und Ausstellungen sowie von Erscheinungsbildern für Unternehmen wie Braun und die Lufthansa, vor allem als Gestaltungsbeauftragter für die Olympiade 1972 in München mit der Familie der neuartigen Piktogramme, die seither als Weltsprache der Zeichen gilt. Bewusst war mir auch der politische, scharf antimilitaristische Kopf, der aus dem Kreis der „Weißen Rose“ kam und Inge Scholl geheiratet hatte.
Den Namen Aicher hörte ich bereits als Knabe im Haus meiner Münchner Großeltern Anna und Wilhelm Hoegner, die – als aktive Sozialdemokraten ebenfalls Nazi-Verfolgte – seit den 1950er Jahren unmittelbare Nachbarn von Robert Scholl und seiner Frau waren, den Eltern der ermordeten Geschwister. Bei ihnen war ich als Gymnasiast auch öfters zu Gast und erhielt ab und zu eine Ausgabe der HfG-Zeitschrift „ulm“ ihres Schwiegersohns, darunter das Heft 8/9 mit dem von mir sofort angestrichenen Aufsatz von Tomás Maldonado: Ist das Bauhaus aktuell?

Ehrfurcht vor dem Meister

Die erste Begegnung mit Otl Aicher brachte mich freilich in Schwierigkeiten. Nicht allein deshalb, weil ich mich mit einem ganzen Stapel von geistreichen bis polemischen Texten zu Architektur und Design aus seiner Feder auseinander zu setzen hatte. Es war auch Aicher selbst, der mir Probleme bereitete. Da saßen wir beide in seinem Münchner Appartement – er sagte nicht viel, da ja seine Texte vorlägen, und ich wagte kaum eine kritische Frage zu stellen, weil mir der Nimbus des berühmten Mannes als übermächtig erschien. Natürlich bemerkte er meine Scheu, und als schließlich meine Ehrfurcht vor seinen Leistungen zu einer Schreibblockade mit mehreren Terminüberschreitungen führte, meinte er nur: Das wird schon. Tatsächlich kam die Einführung zustande, und er war sichtlich so zufrieden, dass der Text mit nur wenigen Änderungen ins Buch kam. Immerhin durfte er in normaler Schreibung erscheinen, denn Aicher knüpfte in einem Punkt an das Bauhaus an, das er ansonsten ablehnte: in seinem unbeirrbaren Glauben an die Richtigkeit der Kleinschreibung.
Was mir an seiner Position gar nicht einleuchten wollte, war seine ebenso harte wie grundsätzliche Ablehnung von freier Kunst. Da hatte ich mich mehr als zwei Jahrzehnte lang mit Kunst als einer besonderen Wahrnehmungs- und Erkenntnisform von Welt beschäftigt – und nun sollte ich mich apodiktisch davon überzeugen lassen, dass bildende Kunst im Kern eine Flucht vor der „bewältigung des wirklichen“ bedeute? Aicher hatte ja geschrieben: „alles konkrete, alles wirkliche hat ästhetische relationen. die kunst als reine ästhetik läuft sogar gefahr, von den ästhetischen nöten der wirklichen welt abzulenken.“

Wertschätzung des Alltags

Und doch gab es eine Brücke zwischen uns. Das war das Beharren auf dem Wert des so genannten Alltags. Als Angehöriger der 1968er-Generation hatte ich von Siegfried Kracauer gelernt, dass alltägliche Erscheinungen oftmals interessanter seien als hoch künstlerische Schöpfungen. Hinzu kamen Aichers Kategorien des Brauchens und des Machens, die mir sympathisch waren, weil mich im Spektrum der Kultur von Anfang an gerade die Architektur fasziniert hatte. Auch wenn mir seine dogmatische Frontstellung gegen „reine kunst“ missfiel, da konnte ich mitgehen: Design heißt, Denken und Machen aufeinander zu beziehen. Ästhetik ohne Ethik tendiert zur Täuschung. Es geht um das Produkt als Ganzes, nicht allein um seine äußere Form. Das Kriterium des Gebrauchs schließt auch die sozialen und ökologischen Wirkungen ein.
Nachdem „Die Welt als Entwurf“ erschienen war, ließ ich mich von Aicher gern zu einem neuen Buchprojekt verpflichten. „Bauen mit Glas“ hieß es und Auftraggeber war das Unternehmen Glasbau Seele, das ein neues Erscheinungsbild wünschte. Doch wie in früheren Fällen bestand Aicher darauf, dass die Firma zunächst ein „vorstellungsbild“ von sich selber in Gestalt eines Buches entwickeln sollte. Dieses Projekt blieb leider unvollendet, denn am 1. September 1991 starb Otl Aicher nach einem tragischen Verkehrsunfall.
Eine Äußerung von Aicher hat meine weitere Arbeit als Publizist und Galerieleiter sicherlich geprägt. Es ist ein Zitat, das ich gern und häufig verwende: „die vom menschen geschaffene zivilisation frisst sich selber auf. warum? weil wir uns dem höheren zugewandt und die alltäglichkeit sich selbst überlassen haben. das alltägliche ist ein bis heute negativer begriff. wer aber die sorge um das alltägliche, das, was geschieht, aufgibt, gibt das leben auf, gibt die welt auf.“ Im Rückblick darf ich deshalb sagen, dass dieser eigensinnige, ja knorrige Mann zu meinen Lehrmeistern zählt.

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