Bauwelt

Hauptsache Bewegung!

Zum 50. Todestag Hans Scharouns

Text: Schirren, Matthias, Kaiserslautern

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Hans Scharoun, etwa 1968, in seiner Wohnung am Heilmannring, Charlottenburg. Im Hintergrund Lyonel Feiningers Gemälde „Marine I“.
Foto: Anno Wilms, Aka­demie der Künste, Berlin

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Hans Scharoun, etwa 1968, in seiner Wohnung am Heilmannring, Charlottenburg. Im Hintergrund Lyonel Feiningers Gemälde „Marine I“.

Foto: Anno Wilms, Aka­demie der Künste, Berlin


Hauptsache Bewegung!

Zum 50. Todestag Hans Scharouns

Text: Schirren, Matthias, Kaiserslautern

Seine letzte Wohnung kann man noch in ihrem Originalzustand besichtigen. Es ist eine Art Penthouse am Rande der Siemensstädter Ringsiedlung, deren Lageplan er zusammen mit Martin Wagner entworfen hatte, Berlins legendärem Stadtbaurat der 1920er Jahre. In den 1950ern erweiterte er sie zur Großsiedlung Charlottenburg Nord, die schließlich aber nur zum Teil nach seinen Plänen realisiert wurde. Den Ausblick von seinem dortigen Arbeitstisch strukturieren Schornsteine, an denen das Auge Halt findet wie an Bojen auf einem bewegten Meer. Der Architekt hatte auf sie Muster malen lassen, die an nautische Zeichen und Wasserstandsanzeigen erinnern. Er mag schon in Bremerhaven von ihnen fasziniert gewesen sein, wo er um 1900 im Schatten der großen Auswandererschiffe und in der Bauatmosphäre von Reeden aufwuchs. Letztere besuchte er in den 1920ern als gereifter Mann noch einmal, um sich Schiffskonstruktionspläne auszuleihen, die er im Häuserbau verwenden wollte. Kurz bevor er am Nachmittag des 25. November 1972 in der Berliner Wohnung mit dem oben beschriebenen Ausblick im Beisein seines Neffen und Mitarbeiters Peter-Fritz Hoffmeyer-Zlotnik starb, sollen seine letzten Worte „Hauptsache Bewegung“ gelautet haben.
Die Rede ist von Hans Scharoun, dem Architekten und Nachkriegsgründungspräsidenten der Akademie der Künste im Westteil Berlins, dessen Todestag sich nun zum 50. Mal gejährt hat. Wie das berühmte „mehr Licht“ von Goethe kann man Scharouns letzte Worte als Integral auf sein Leben im Allgemeinen wie auf sein Wirken als Architekt im Besonderen verstehen, auch und gerade, wenn man vom bloß biographisch bedingten Nautischen einmal absieht. Wie die Baumetaphern vieler deutscher Modernisten waren auch die Autobus- und Schiffsmetaphern einiger Bauten Scharouns in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre von Le Corbusiers Aufsatzsammlung „Ausblick auf eine neue Architektur“ angeregt, die 1925 auf Deutsch erschienen war. Noch wichtiger für Scharouns bildnerisches Denken waren vermutlich Begegnung und Auseinandersetzung des geübten Zeichners und Aquarellisten mit der Malerei der französischen Kubisten in den 1910er Jahren. In Scharouns Skizzen zündete 1919 insbesondere Lyo­nel Feiningers Formensprache, die das Bildsujet verzeitlichte, ohne es gänzlich zu sprengen. Der Titelholzschnitt „Kathedrale“ des ersten Bauhausmeisters, den Walter Gropius seinem Manifest von 1919 beigab, veranlassten „Hannes“, wie Scharoun sich im Kreise der von Bruno Taut gegründeten Gläsernen Kette nannte, zu einer bemerkenswerten Synthese: „Glashausprobleme: Raum bricht Raum. Gedanke – Feininger – Wirklichkeit“ ist die entsprechende Zeichnung unterschrieben.
Mit dem Glashaus war jener Pavillon der deutschen Glasindustrie gemeint, den Bruno Taut in weitgehender Eigenregie auf der großen Kölner Werkbundausstellung des Jahres 1914 errichtet und mit dadaistischen Sinnsprüchen seines Übervaters, des literarischen Phantasten Paul Scheerbart, hatte versehen lassen. Der Clou des Zentralbaus aus den industriell herzustellenden Materialien Glas, Beton und Eisen, dessen Einzelformen an der Wiener Architektur der Otto-Wagner-Schule orientiert waren, bestand in seiner Erschließung. Es waren durch Glasbausteine streng voneinan­der getrennte Treppenläufe, auf denen das Publikum die Stockwerke wie bei einer Achterbahnfahrt zunächst aufwärts, in einen netzartig überfangenen Glaskuppelraum, sodann abwärts, in eine Art sala terrena mit Wasserbecken, zu durchqueren hatte, stets in kreisender Bewegung um die leer belassene Mitte des Baus. Im Sockelgeschoss fand man sich neben dem rückwärtigen Ausgang vor einem groß projizierten Kaleidoskopbild wieder, das sich bewegte: Eine idée fixe Paul Scheerbarts, die dieser der zeitgenössischen Populärphilosophie entnommen hatte: das Kaleidoskop als Symbol für eine auch künstlerisch gerechtfertigte Moderne, die wie der Kosmos selbst, so die These, in ständig kreisender Bewegung von selbst das Schöne hervorbringt. Ein Bauwerk kosmischer Bewegungskunst!
Auf variierende Wiedergänger entsprechender Raumeffekte trifft man immer wieder in Scharouns Häusern. Sie wurden lediglich der jeweiligen Bauaufgabe angepasst, unter Einbeziehung aktueller Tendenzen der Kunst. Dem Wohnzimmer im Haus des Nudelfabrikanten Schminke im sächsischen Löbau, errichtet in den Jahren 1931/32, ist ein Wintergarten mit schräggestellten Scheiben angegliedert, dessen schlanke Eisensprossen das tiefstehende wandernde Sonnenlicht zu einem furiosen Licht-Raum-Spektakel wie László Moholy-Nagys Lichtrequisit für eine mechanische Büh­ne entzündete. Moholy-Nagy hatte diesen „Licht-Raum-Modulator“ kurz zuvor in der Werkbundzeitschrift Die Form publiziert. Und noch Scharouns Darmstädter Schulentwurf von 1951 enthält einen in seiner Grundrissdisposition den Berliner Philharmonieentwurf von 1957 vorwegnehmenden „kosmischen Raum“, der allein dem jahreszeitlich wechselnden Schattenspiel auf seinen Wänden gewidmet sein sollte. Dichterworte von Ludwig Uhlands Frühlingsglaube über Goethes Mailied bis hin zu Hebbels Herbsttag sollten so positioniert werden, dass sie Auf- und Abstieg der Sonne im Lauf der Jahreszeiten nachzeichnen würden. Im Zentrum sollten die zweite und vierte Strophe von Hölderlins Gedicht Lebenslauf stehen.
Angesichts der Komplexität des Entwurfes sprach der konservative Paul Bonatz in Darmstadt vom „Zerdenker“ Scharoun, worauf José Ortega y Gasset, in den 1930ern Verfasser von „Der Aufstand der Massen“, antwortete, der liebe Gott brauche den Zerdenker, damit die anderen Tiere nicht immer nur schliefen. Martin Heidegger, mit dem sich Scharoun auf dem Darmstädter Gespräch befreundete, wollte Ortega y Gassets Worte
im Rückblick als vorwiegend auf seinen, Heideggers eigenen Darmstädter Vortrag „Bauen Wohnen Denken“ bezogen sehen, der wie die Entwürfe Scharouns im technokratischen Wiederaufbaufieber der frühen Bundesrepublik ein geistespolitisch-philosophisches Zeichen zu setzen beabsichtigt hatte.
Dass Scharouns Bauen und Entwerfen dennoch nicht als bloß überdeterminiert wahrgenommen wurde und wird, verdankte sich einer Nonchalance im Umgang mit dem architektonischen Detail, wie sie so nur in seinem Werk zu finden ist. Sie ist nicht zu verwechseln mit bloßer Gleichgültigkeit – im Gegenteil! Der Kunsthistoriker und Kritiker Adolf Behne, der in der Gläsernen Kette „Ekkehard“ genannt wurde, hatte das Improvisie­-ren als Entwurfshaltung 1919 zu einer Art Theorie verdichtet. Getreu der von Taut ausgegebenen Losung „Kubismus ist, was wir uns draus machen“ hatte Behne, damals bekennender Anhänger der USPD, in den Sozialistischen Monatsheften „Die Überwindung des Tektonischen in der rus­sischen Baukunst“ gefeiert und sich damit gegen einen zentralen Begriff der deutschen Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts gewandt, der insbesondere von Peter Behrens und seinen Schülern hochgehalten wurde und bezeichnenderweise erst nach Scharoun, mit der IBA-Neu unter Josef Paul Kleihues und dem Nachwendeberlin unter Hans Stimmann, wieder zu Ehren gekommen ist.
Gegenüber der schalen, wie Behne suggerierte: ideenlos unbunten Unterjochung des Bauens unter nur halb verstandene philosophische Begriffe plädierte Behne mit Scheerbarts Dichtungen und unter Bezugnahme auf Tolstoi und auf Wassily Kandinskys Schilderungen des In­neren russisch-orthodoxer Kirchen für eine chaotisch bunte Architektur, die aus dem Nächstliegenden kosmisch Verbindliches zu schaffen in der Lage sei. „Der plastischen, konstruktiv-tektonischen Auffassung der Baukunst als Raumkunst, wie sie in Europa herrscht, steht also eine Auffassung der Baukunst gegenüber, die wir als einfache, spontane, unmittelbare Auffassung bezeichnen können. Diese formt stets das Naheliegende, und ist dennoch in Wahrheit nicht etwa chaotisch, sondern kosmisch, während die angeblich den künstlerischen Kosmos wollende Raumkunst mit ihrer plastischen Verschnürung meist schwer an der Erde haftet.“
Anders als das westliche Denken, das die Architektur mit ihrem Einheitsbegriff vom Raum nur einschränke, habe sich die östliche Architektur eine Unmittelbarkeit bewahrt, an die es anzuknüpfen gelte: „Der Künstler bildet die Wandungen, und die Wandungen bilden den Raum. Ich wüßte nicht, daß etwa Paul Scheerbart in seinen Dichtungen, die die schönste Verkündigung der höhern Baukunst sind, wesentlich von Raumformen spräche; er spricht aber viel von Backsteinmauern und lieber von Glaswandungen. Und auch darauf kommt es durchaus nicht an [,] die Wände mit einander zu verschweißen, bei der Ostwand schon an die Westwand, an die Süd- und Nordwand zu denken. Es ist ja nicht wahr, daß sie so besonders viel mit einander zu tun hätten. Sie sind alle frei, lehnen sich lose aneinander, sind aber nicht fatalistisch an einander geschmiedet. Nebeneinander und Miteinander, aber nicht Ineinander.“
Der hier beschriebenen ganz unorthodoxen Buntheit und in einem weiteren Sinne: kubistischen Brechung des Allzuernsthaften und bloß Banalen begegnet man selbst noch in den Bauten, die Scharoun für eine kleine Schar seiner nächsten Freunde und Bekannten während der Zeit des sogenannten Dritten Reiches realisierte. An ihre Diversität ließe sich in den heutigen, von neuem Imperialismus ebenso wie von Postkolonialismusdebatten und Klimakatastrophe geprägten Zeitläuften besser anknüpfen, als an die auch in der jüngsten Scharounliteratur wieder anzutreffende, unreflektierte und historisch wenig belehrte Rede vom vermeintlich bloß Organischen seiner Bauten und dem angeblich Visionären seiner Zeichnungen.
Scharouns Neffe und Mitarbeiter Peter-Fritz Hoffmeyer-Zlotnik übrigens, dem wir die Überlieferung der eingangs zitierten letzten Worte verdanken, soll, bevor er in den 1950ern bei seinem Onkel als Architekt anheuerte, Kapitän zur See gewesen sein. Das hätte sich auch der Phantast des Kinetischen, Paul Scheerbart, nicht besser ausdenken können, in dessen Dramen und Romanen Kapitäne von schwankenden Luft- oder Wassergefährten gern ihr Garn spinnen dürfen. Als literarischen Einfall würde man es mit einem Wort Bruno Tauts zurecht „kosmisch-komisch“ nennen dürfen. Bewegend wie Scharouns Leben und Werk bliebe es auch als Tatsache.
Demnächst erscheint von Matthias Schirren in dem von Sebastian Feld­husen und Lars Hopstock herausgegebenen Band „Das Bauhaus und die Landschaft“: „Zermützel und die Welt. Hans Scharouns Haus für den Kunsthändler Ferdinand Möller im Geflecht der Avantgarden.“

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