Straßenikonen
Kirsten Klingbeil hat einen sonderbaren Säulentausch beobachtet
Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin
Straßenikonen
Kirsten Klingbeil hat einen sonderbaren Säulentausch beobachtet
Text: Klingbeil, Kirsten, Berlin
Dass man von Werbung im öffentlichen Raum förmlich überrollt wird, insbesondere seit die Werbeflächen von Streamingdiensten und Sportartikelherstellern auf ganze Fassadenwände angewachsen oder zu überdimensionierten, blendenden Videotafeln mutiert sind, wirft wieder einmal die Frage auf: Wieviel Kommerzialisierung darf sein?
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte in Berlin jemand eine Idee, wie sich die Anpreisung von Waren, Veranstaltungen und Neuigkeiten bündeln ließe – und entwarf ein passendes Stadtmöbel. Mit der „Annoncier-Säule” wollte der Druckereibesitzer und Verleger Ernst Litfaß gegen das Wildplakatieren an Mauern und Hauswänden vorgehen – und nebenbei sicher auch ein bisschen Geld verdienen. Am 15. April 1855 stellte er die erste Säule in der Münzstraße auf, drei Monate später wurden weitere 100 eingeweiht. Von der Stadt bekam er das Recht für die Aufstellung, musste dafür im Gegenzug aber die neusten Nachrichten unentgeltlich auf ihnen verbreiten. Die clevere Idee von Litfaß‘ Säulen: Er garantierte seinen gewerblichen Kunden, dass ihre Plakate nicht überklebt würden. Seit über 150 Jahren gehören Litfaßsäulen, ebenso wie Sitzbänke, Mülleimer und Laternen, zum traditionellen Stadtmobiliar, werden jedoch von je her von privaten Unternehmen betrieben. Nun lenkte die berühmte Säule kürzlich mit einem aufgesprayten Hilfeschrei Aufmerksamkeit auf sich: „Rettet mich!“ Was ist passiert?
Nach knapp 15 Jahren verlor die Firma von Hans Wall – eine Erfolgsgeschichte mit Stadtmobiliar à la „vom Tellerwäscher zum Millionär“ – den Auftrag zum Betrieb der Säulen an eine Stuttgarter Firma und musste bis Ende Juni die etwa 2500 Bestandssäulen abräumen. Der neue Betreiber ersetzt 1500 davon durch eine neue, teilweise beleuchtete, weiterhin analoge Version. Weshalb dann die Aufregung?
Die Berliner Säule war ein Original – ihr Durchmesser betrug 104 Zentimeter statt der sonst in Deutschland üblichen 118. Da sich ehemaliger und künftiger Betreiber auf eine Übernahme der alten Säulen nicht einigen konnten, machen sich nun die Schwaben breit und verdrängen ein schlankes Stück Berliner Stadtgeschichte. Nur 24 Bestandssäulen wurden unter Denkmalschutz gestellt, darunter einige 100 Jahre alte Modelle.
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