Wohin, wenn man mal muss?
Europas Städte bedienten das Verrichten der Notdurft immer wieder anders. Nach Jahren der Vernachlässigung öffentlicher Toiletten zeichnet sich eine Trendumkehr ab.
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Wohin, wenn man mal muss?
Europas Städte bedienten das Verrichten der Notdurft immer wieder anders. Nach Jahren der Vernachlässigung öffentlicher Toiletten zeichnet sich eine Trendumkehr ab.
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Das Leben in der Großstadt wirkt manchmal wie ein einziges Festmahl. Allerorts wird gschlemmt, geschlürft, gespachtelt. Doch während wir in geselliger Runde völlig ungeniert essen und trinken, ist der abschließende Gang unserer Nahrung, ihre Ausscheidung, in die Hinterzimmer verdammt. Das war nicht immer so. Für lange Zeit gab es in den Städten keine Trennung zwischen öffentlicher und privater Toilette: Aborte wurden gemeinschaftlich genutzt. Die Notdurft einfach auf offener Straße zu verrichten war allerdings bereits im Mittelalter wegen Seuchengefahr verboten. Im 17. und 18. Jahrhundert schritten Abtrittanbieter mit Eimern durch die Straßen und offerierten ihren Kunden die Möglichkeit, sich unter dem Sichtschutz eines Umhangs zu erleichtern.
Mit der Verlagerung der Toilette ins private Treppenhaus und in die Wohnung stieg der Bedarf an öffentlichen Toiletten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch den Ausbau der Kanalisation in Europa, stellten Städte vermehrt kleine Architekturen für Männer auf, um im Freien pinkeln zu können. Es waren primär Männer, die an Wände, in Büsche und Häuserecken urinierten. Für Frauen war es verpönt (noch mehr als für Männer), sich im öffentlichen Raum zu entblößen. Paris entwickelte ab 1830 Pisssäulen, die von Sichtblenden umgeben waren. Bekannt wurde die Stadt vor allem für das „Urinoir à trois stalles“, ein gusseisernes Konstrukt mit drei Ständen, bei dem die Urinalwand gleichzeitig als Träger der Straßenleuchte diente. In Deutschland herrschte mehr Schamgefühl: Um ungewünschte Blicke auch von oberen Geschossen angrenzender Häuser zu verhindern, wurden Anstalten teils als kleine Häuser mit Dach und Wänden konzipiert wie das bekannte gusseiserne Berliner Pissoir, das im Volksmund „Café Achteck“ genannt wurde.
Spätere Toilettenhäuser boten neben dem Urinal erstmals das Klosett an und ermöglichten damit Frauen offiziell eine Nutzung. Bettina Möllring, Professorin für Industriedesign an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel, beschäftigte sich bereits vor 20 Jahren in ihrer Dissertation (woraus die aufgeführten Erkenntnisse stammen) mit der Geschichte und Gestaltung von Toiletten. Ihrer Arbeit ist zu entnehmen, wie die Anlagen nach und nach aus dem öffentlichen Stadtbild verschwanden und an den Rand der Plätze oder des Straßenraums gedrängt wurden.
Seinen Tiefpunkt in der BRD erlebte das öffentliche WC in den 1970er und 1980er Jahren durch Sparmaßnahmen der Kommunen. Aus jener Zeit stammt auch das schlechte Image der Bedürfnisanstalten. Bemerkenswert ist auch, dass das Damenurinal trotz seiner frühen Entwicklung keine Verbreitung gefunden hat. Beim Urinieren wird bis heute ein Geschlecht benachteiligt. Die aktuelle Berliner „PeeForFree“-Bewegung setzt sich für mehr kostenfreie Toiletten in der Stadt ein, die von Menschen – vor allem Frauen – genutzt werden können, die nicht im Stehen pinkeln können oder wollen.
Gefragte Standards
Inzwischen arbeiten viele Großstädte wieder am Ausbau ihres Toilettenangebots. Dresden, Köln, Essen, Münster, Düsseldorf und viele weitere verfolgen oder erarbeiten gerade ein Toilettenkonzept. In der Regel sind die Toiletten barrierefrei, mit Wickeltischen versehen und manchmal kostenlos oder gegen eine Gebühr von 50 Cent nutzbar. Städte setzen auf die Kooperation mit Firmen wie mit der im WC-Bau erfahrenen Unternehmensgruppe Hering. In Berlin erhielt die als Außenwerber bekannte Wall GmbH den Zuschlag für die Errichtung und den Betrieb der anvisierten 366 Anlagen. Die Containeranlagen erfüllen heute übliche Anforderungen ans öffentliche WC: Barrierefreiheit, Sensor- und Audiotechnik und natürlich langlebige, einfach zu reinigende Materialien wie emaillierte Innenwände, antibakteriell beschichtete Toiletten und Urinale aus Edelstahl. Dass eine Zahlung in Berlin nur noch bargeldlos mit Karte oder App möglich ist, ist Einbruchsserien geschuldet. Auch wenn die erbeuteten Beträge gering waren, war der jeweilige Objektschaden hoch, berichtet Frauke Bank, Pressesprecherin der Wall GmbH.
Mit dem Senat führte die Firma, die die Anlagen auch reinigt, zuletzt ein Pilotprojekt durch und beließ 50 der Toiletten kostenfrei. Da Vandalismus größtenteils ausblieb, soll die Öffnung ausgewählter WCs fortgeführt werden. Das Design deutscher Bedürfnisanstalten unterscheidet sich von Stadt zu Stadt. Architektonisch einzigartige Lösungen wie sie in Tokio zu bestaunen sind bilden die Ausnahme. „Wir machen eher die Erfahrung, dass Kommunen beim Stadtmobiliar verstärkt ein universelles und flexibel einsetzbares Design nachfragen“, sagt Bank von der Wall GmbH. Paris, die Mutterstadt des Pissoirs, fand zuletzt zu ihren Wurzeln zurück: Mit seinem neuen Freiluft-Kompost-Urinal zog es jedoch Spott und Kritik auf sich.
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