Kinder der Moderne
Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden
Text: Kasiske, Michael, Berlin
Kinder der Moderne
Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden
Text: Kasiske, Michael, Berlin
„Ich hatte nicht erwartet, dass Sie ein so subjektives Interesse haben würden“, resümiert Ernst Tugendhat. Den Prominentesten der „Kinder der Moderne“ überraschte das Verlangen von Julia Jamrozik und Coryn Kempster nach Details der Kindheit in dem Haus, das Ludwig Mies van der Rohe 1930 für seine Familie in Brünn errichtet hatte. Das kanadische Architektenpaar, zum Zeitpunkt der Gespräche 2015 selbst Eltern eines einjährigen Sohnes, widmete sich während einer Europareise dem Aufwachsen in moderner Architektur und hat nun seine Erkenntnisse vorgelegt.
Methodisch findet „oral history“ Anwendung, jene Form der Gesichtsschreibung, die als primäre Quelle auf Zeitzeugen zurückgreift, die im Unterschied zum Interview frei erzählen sollen. Diesen Raum nimmt sich Gisèle Moreau, die seit ihrem 10. Lebensjahr in der Unité d’Habitation in Marseille wohnt und aus verschiedenen Lebensabschnitten berichten kann. Ihre frühen Erinnerungen sind bestimmt von der Hausgemeinschaft, die sich auf der Dachterrasse und in der nicht mehr vorhandenen Geschäftszone traf, im Kontrast zur familiären Maisonette, in der man sich trotz der räumlichen Enge wie in einem Einfamilienhaus fühle. Diese Idee mache Le Corbusier für die Gegenwart wertvoll, befindet Moreau, und die Aneignung funktioniert: Die Enkel spielen in den Hausfluren, was ihr und ihren Kindern noch verboten war. Die Begeisterung für die Unité hat den Architekten gleichsam zu einem Teil der Persönlichkeit Moreaus werden lassen.
Eine solche Vereinnahmung steht bei Rolf Fassbaender nicht zu vermuten, denn er hat von J. J. P. Oud wohl erst viel später gehört. Zwei Jahre warer alt, als die Eltern 1927 in das von dem niederländischen Architekten entworfene Reihenhaus in der Stuttgarter Siedlung am Weissenhof zogen, vierzehn, als er es verließ. Beim Rundgang durch einen baugleichen Typus erinnert sich Fassbaender eindrucksvoll an architektonische Einzelheiten wie die Durchreiche „als Nabel zur Küche“, die Einbauschränke oder den kleinen Austritt, auf dem er im Sommer unter freiem Sternenhimmel nächtigte. Auch die moderne Siedlung als selbstverständlicher Spielort wird lebendig.
Im ähnlichen Altersabschnitt wie Fassbaender bewohnte Helga Zumpfe das nach ihren Eltern benannte Haus Schminke in Löbau. Begeistert erinnert sie sich an den Garten mit zwei Teichen und einem Spielbereich, wie überhaupt das „für uns Kinder immer offene und überall zugängliche“ Haus und eben das „Leben in dieser Weiträumigkeit“ prägten. Während die Schlafräume im Obergeschoss klein dimensioniert waren, gingen unten die verschiedenen Wohnbereiche in-einander über, wobei das offene Spielzimmer zentral gelegen war. Darüber hinaus beschreibt sie ihre „dicke Freundschaft“ mit dem Architekten Hans Scharoun, der während des Hausbaus zum Freund der Familie geworden war.
Tugendhat trägt am wenigsten von den vier Zeitzeugen bei. Als renommierter Philosoph immer nach dem Wohnort seiner ersten Lebensjahre gefragt zu werden, mag Anlass für die abwehrende Haltung auch gegenüber dem materiellen Pomp des Elternhauses sein. Vielleicht blieb deswegen Naheliegendes außen vor, etwa wie er den Unterschied zum großelterlichen Stadtpalais im Jugendstil auf dem gleichen Grundstück empfunden hat, oder weitergehend, ob sich die Freiheit des Denkens in weniger offenen Räumen hätte entwickeln können.
Auch wenn das Buch Übersprunghandlungen wie Fotos des eigenen Kindes in der besuchten Architektur enthält und die Gespräche zuweilen seicht werden, ist das Bemühen anzuerkennen, das Richtungweisende moderner Architektur ausKindersicht zu extrahieren und mittels Plänen und Fotos zu illustrieren. In dieser Zusammenschau hat der subjektive Ansatz einen Reiz, und nolens volens wirft das Buch die Frage auf, wa-rum heute der überwiegende Wohnungsbau so unattraktiv und frei von Ideen für ein anregendes Zuhause ist.
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