Tradition und Modernität
Reformarchitektur in Lübeck
Text: Stimmann, Hans, Berlin
Tradition und Modernität
Reformarchitektur in Lübeck
Text: Stimmann, Hans, Berlin
1926 hat Thomas Mann die Architektur Lübecks mit den sieben Kirchtürmen, dem Rathaus und den Bürgerhäusern als Ausdruck einer geistigen Lebensform beschrieben. Spätestens seit dieser Zeit wurde die Form das zur Marke der Tourismuswerbung geronnene Bild der Stadt, deren Geschichte mit der Auflösung des Getreidehandels der Familie Mann 1891 zu enden schien. Dabei ist das Gegenteil richtig.
Die Stadt wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Industriestadt. Motoren dieser Entwicklung waren die Fertigstellung des Elbe-Lübeck-Kanals (1900), der Bau des Hauptbahnhofs (1904), der Ausbau und die Begradigung der Trave und die Anlage von Häfen für die neue Industrie in Dänischburg, Siems, Herrenwyk und Schlutup. Symbole dieser Industrialisierung waren die Gründung des Hochofenwerks in Herrenwyk (1905), die Ansiedlung der Villeroy & Boch keramische Werke (1906/07), der Bau eines Kraftwerks (1910/11), die Transformation des Fischerdorfs Schlutup in einen Standort der Fisch- und Holzindustrie, die Gründung von Betrieben der Dünge- und der Lebensmittelindustrie, für die exemplarisch die Schwartauer Werke genannt seien. Dazu kam die Gründung des heutigen Medizintechnikkonzerns Dräger. Man kann sich den Bruch im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Profil der Stadt und das Wachstum gar nicht dramatisch genug vorstellen.
Lübeck erlebte mit einiger Verspätung seine Gründerzeit, sichtbar geworden auch mit dem Bau neuer Vorstädte und Werksiedlungen. Dabei verlor die Altstadt nicht nur Einwohner, sie wurde zum Wohnort für die sozial Schwächeren, gewann aber gleichzeitig mit Banken, Kaufhäusern, der Reichspost, dem Gerichtsgebäude, aber auch mit zwei weiteren Gymnasien und einem Theater eine neue Bedeutung als Zentrum. Im Zusammenhang mit dieser Industrialisierung entstanden der Hauptbahnhof und ein Straßenbahnnetz mit Außenlinien in die Industrievororte sowie eine Bahnverbindung in das Seebad Travemünde.
Aus der Hansestadt mit den sieben Türmen wurde so sprachlich nach und nach das, was man nun Altstadt nannte, die allerdings ihre zentralen politischen, kulturellen und religiösen Funktionen nicht nur bewahrte, sondern ihr neue Funktionen hinzufügte. Das Besondere dieses Prozesses war allerdings, dass sich das Bild, das sich die industriegeprägte Hafenstadt von sich selbst machte, kaum veränderte. Im Gegenteil, die Dominanz der Industrie reduzierte die Selbstdarstellung der Stadt auf die Stadtinsel mit der siebentürmigen Silhouette, das Holstentor und das Ostseebad Travemünde. Das breite Spektrum der architektonischen Moderne blieb ausgeklammert; Lübeck lebte von ihrer Geschichte als vormoderne Hansestadt, als Stadt der Buddenbrooks.
Joachim Heisel unternimmt mit seinem Buch „Reformarchitektur in Lübeck“ der Jahre 1900 bis 1914 den Versuch, die Akzente zu verschieben. Er beschreibt die Transformation und das Wachstum als Industriestadt und die dabei entstandene vorbildliche Architektur der Stadt, die sich nach 1900 vom preußischen Historismus löste. Akteure waren dabei der seit 1898 für die Architektur der Stadt verantwortliche Baudirektor Johannes Baltzer und der zuerst freiberuflich und dann ab 1910 für die Stadt tätige Architekt Carl Mühlenpfordt. Unter ihrer Leitung vollzog sich die Transformation der Altstadt, es entstand u. a. die neue Industrievorstadt Kücknitz mit dem dazu gehörigen Zentrum, ein neuer Strandbahnhof in Travemünde, der mit seiner zeitlosen Eleganz ein Musterbeispiel dekorfreier Reformarchitektur darstellt. Diese den preußischen Historismus überwindende Haltung zeigte sich auch bei den großstädtischen Bauten für die Produktion und Verwaltung der Drägerwerke und für das Verwaltungsgebäude der Firma Possehl.
Besonders Berliner Architekten, Kritikern und Politikern sei die Lektüre des Buches, besser noch ein Blick auf die gebaute Form der Modernisierung der Lübecker Altstadt empfohlen. Zwar wurden hier kleinteilig parzellierte Strukturen abgerissen, aber nicht durch historisch gestaltete Gebäude ersetzt, sondern durch moderne Architektur, die sich an der Tradition orientierte. Dabei wurde nicht versucht, die vergrößerten Dimensionen z. B. der Schulen, Banken und Verwaltungsgebäude, zu kaschieren. Trotzdem fügen sich die Neubauten der frühen Moderne ohne Verwendung historischer Stilelemente in das Stadtgefüge ein. Immer ging es in der Altstadt für die Reformarchitekten nicht um Rekonstruktion, sondern um die Interpretation der Struktur im neuen Maßstab mit einfachen Baukörpern in ausgewogenen Proportionen. Exemplarisch dafür sei der Bau der Ernestinenschule genannt. Hier entstand 1903/04 nach dem Abriss einer Stadtresidenz ein Meisterwerk der Reformarchitektur, das die Reihung der drei abgerissenen Giebel aufnimmt und durch zwei Giebel einer Schule ersetzt. Ebenfalls in diesen Jahren wurde auf dem Gelände des St. Johannis-Klosters das Johanneum errichtet. Hier entstand zusammen mit der Hauptfeuerwache eine Art „Reform-Gymnasium“ in der Nachfolge der „Höheren Bürgerschule“. Zu den ehemaligen Schülern gehörte auch Willy Brandt, der hier, umgeben von den traditionellen Formen der Handelsstadt, bis zum Abitur 1932 erstmals versuchte, aus der geschlossenen Welt der Industriekultur hinauszufinden.
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