Bauwelt

Parag Khanna im Gespräch: die 15-Minuten-Stadt im Spiegel globaler Veränderungen

Die 15-Minuten-Stadt ist zu einem Begriff mit weltweiter Verwendung geworden. Das aber birgt die Gefahr der Vereinfachung. Wir sprachen mit Parag Khanna, Autor und Strategieberater, der sich mit globalen Wanderungsbewegungen im Zeichen der Klimakrise auseinandersetzt: Welche Erfahrungen lassen sich übertragen und wo liegen die Grenzen einer solchen Betrachtungsweise?

Text: Geipel, Kaye, Berlin

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    „Los Angeles wird vermutlich ebenfalls schrumpfen, die Leute verlassen Los Angeles.“ Im Bild rechts unten „Second Home Office“ von Selgascano.
    Foto: Iwan Baan

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    „Los Angeles wird vermutlich ebenfalls schrumpfen, die Leute verlassen Los Angeles.“ Im Bild rechts unten „Second Home Office“ von Selgascano.

    Foto: Iwan Baan

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    Mobiles Wohnen jenseits von Flüchtlingsunterkünften: Zeltstadt des Kumbh Mela Festes, das alle zwölf Jahre stattfindet.
    Foto: Iwan Baan (Aus der Serie „52 Wochen, 52 Städte“)

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    Mobiles Wohnen jenseits von Flüchtlingsunterkünften: Zeltstadt des Kumbh Mela Festes, das alle zwölf Jahre stattfindet.

    Foto: Iwan Baan (Aus der Serie „52 Wochen, 52 Städte“)

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    Karte der Klima-Nischen: In den dunkelroten Regionen steigen die durchschnittlichen Tagestemperaturen bis 2070 auf über 30°C, womit diese kaum noch bewohnbar sein werden.
    Karte: FutureMap, Singapur

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    Karte der Klima-Nischen: In den dunkelroten Regionen steigen die durchschnittlichen Tagestemperaturen bis 2070 auf über 30°C, womit diese kaum noch bewohnbar sein werden.

    Karte: FutureMap, Singapur

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    Karte ursprünglicher Migrationsbewegungen: Sie zeigt die Wanderungsverläufe ausgehend von Afrika vor 100.000 Jahren auf alle Kontinente. Vor allem Küsten und Flussufer wurden besiedelt. Wie sehen entsprechende Karten in 100, in 1000 Jahren aus?
    Karte: FutureMap, Singapur

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    Karte ursprünglicher Migrationsbewegungen: Sie zeigt die Wanderungsverläufe ausgehend von Afrika vor 100.000 Jahren auf alle Kontinente. Vor allem Küsten und Flussufer wurden besiedelt. Wie sehen entsprechende Karten in 100, in 1000 Jahren aus?

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    Megacities-Karte: Mehr als die Hälfte der heutigen Bevölkerung lebt in solchen Agglomerationen, Tendenz steigend, vor allem in Asien.
    Karte: FutureMap, Singapur

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    Megacities-Karte: Mehr als die Hälfte der heutigen Bevölkerung lebt in solchen Agglomerationen, Tendenz steigend, vor allem in Asien.

    Karte: FutureMap, Singapur

Parag Khanna im Gespräch: die 15-Minuten-Stadt im Spiegel globaler Veränderungen

Die 15-Minuten-Stadt ist zu einem Begriff mit weltweiter Verwendung geworden. Das aber birgt die Gefahr der Vereinfachung. Wir sprachen mit Parag Khanna, Autor und Strategieberater, der sich mit globalen Wanderungsbewegungen im Zeichen der Klimakrise auseinandersetzt: Welche Erfahrungen lassen sich übertragen und wo liegen die Grenzen einer solchen Betrachtungsweise?

Text: Geipel, Kaye, Berlin

In Ihrem 2016 erschienenen Buch „Connectography“ analysieren Sie die Beziehungen und Abhängigkeiten großer Stadtregionen auf der ganzen Welt. Eine der zentralen Aussagen lautet: „Statt in Nationen und Grenzen leben wir heute in einer Welt der Infrastrukturstädte und der Lieferketten.“ Welche Rolle spielen dabei die urbanen Infrastrukturen?
Das Wichtigste ist, dass man versteht, dass all diese räumlichen Strukturen aufeinander aufgebaut sind und sich nicht gegenseitig aufheben. Zum Beispiel fußen nationale Grenzen häufig auf Territorien, die einst von Stämmen, von ethnischen Gruppen, kontrolliert wurden. Auf einer nächsten Ebene haben wir dann die Nation. Neben diesen Territorien mit ihren Grenzen gibt es die grenzüberschreitenden Geographien der In­frastruktur. Das kann die Verkehrsinfrastruktur sein, die Energie- oder die Kommunikationsinfrastruktur. Die meisten Infrastrukturen passen in diese grenzüberschreitende Kategorie. Ein Beispiel: auf dem Energiesektor hat Deutschland seinen Ausstieg aus der Atomenergie erklärt. Auf er anderen Seite importiert Deutschland nach wie vor Atomstrom aus Frankreich.
Es ist deshalb wenig sinnvoll, sich allein auf nationale Energiesysteme zu konzentrieren. Man kann solche Systeme nur beschreiben, wenn man die Infrastruktur-Geographien über die Grenzen hinweg betrachtet. Genauso wenig wie es möglich ist, eine einzelne Volkswirtschaft zu verstehen, ohne ihre „Konnektivität“ zu den direkten und weiter entfernten Nachbarn in Rechnung zu stellen. Fast der gesamte Welthandel wird zwischen Ländern abgewickelt, die keine gemeinsame Grenze haben. Handel erfordert Konnek­tivität. Wie können wir volkswirtschaftliche Werte berechnen, wenn wir uns nicht bemühen, diese Verbindungen einzubeziehen?
– Städte wichtiger als Länder –
Wenn es um Städte geht, dann gibt es eine Reihe von Faktoren, die wir uns genauer ansehen sollten. Dazu zählen die geographische Größe, die Anzahl der Menschen, die Wirtschaftskraft und die Dichte. Viele Städte sind in Bezug auf diese Faktoren gewichtiger als ihre Länder.
Nehmen wir etwa die Greater Bay Area in Südchina, die wir früher das Perlflussdelta nannten, mit Guangzhou, Shenzhen, Hongkong und weiteren Städten. Sie haben zusammen ein Bruttoinlandsprodukt, das größer ist als das von In­donesien oder Argentinien. Wenn Hongkong verschwinden würde, würde die Welt die Auswirkungen mehr spüren, als wenn es Argentinien nicht mehr gäbe.
Ich will hier nicht vereinfachend argumentieren, sondern nur auf diesen Umstand hinweisen, der seine Folgen hat. Man könnte von der „Schwerkraft“ solcher Stadtregionen sprechen. São Paulo etwa ist nicht die Hauptstadt von Brasilien, aber die größte und wichtigste Stadt in ganz Südamerika. Die Leitung der wichtigsten Kapital-, Handels- und Investitionsflüsse für den ganzen Kontinent liegt in den Händen dieser Stadt.
Und wie bedeutsam sind dabei noch die gebauten, die physischen Infrastrukturen? Verlieren Sie im Zuge der Digitalisierung immer mehr an Bedeutung?
Nein. Die physischen Strukturen und ihre kontinuierliche Verbesserung sind schon deshalb wichtig, weil wir heute eine so große Weltbevölkerung haben. Ein großer Teil davon ist unterversorgt, was ein qualitätvolles Umfeld betrifft. Viele Menschen haben weder Strom noch ein Dach über dem Kopf. Es ist oft festgestellt worden, dass bezahlbarer Wohnraum und eine sta­bile Stromversorgung neben sauberem Wasser die weltweit wichtigsten Ressourcen sind. Brauchen wir also mehr Wasserentsalzungsanlagen, brauchen wir mehr nachhaltigen und erschwinglichen Wohnraum, brauchen wir mehr erneuerbare Energien, Solar- und Windkraftanlagen für die Menschen, egal wo sie leben? Unbedingt!
– Weniger fliegen
Wir können darüber hinaus überlegen, welche weiteren Infrastrukturen ebenfalls wichtig sind. Brauchen wir mehr Eisenbahnen oder mehr Flughäfen? Das hängt von den jeweiligen Ländern und ihren Bedingungen ab. In Deutschland etwa sagen die Grünen, wir sollten weniger fliegen. Wenn unser Ziel zum Beispiel nur vier Stunden entfernt liegt, sei es besser mit dem Zug zu fahren. Das ist in diesem Fall ein sinnvoller Vorschlag. In Amerika würde das nicht funktionieren, weil Amerika kein gutes Zugsystem hat.
Ich zum Beispiel lebe in Singapur auf einer kleinen Insel. Wenn Sie von dort aus verreisen, müssen Sie ein Flugzeug nehmen. Die Logik der Grünen in Deutschland funktioniert also nicht überall. Andererseits ist es äußerst wichtig, die vor Ort erprobten, qualitätvollen Infrastrukturen zu verbessern und weiterzuentwickeln. In meinem Buch „Move“ behandle ich auch das Thema mobiler Infrastrukturen. Eine Weltgemeinschaft, deren Bevölkerung mehr und mehr in Bewegung ist, braucht auch Einrichtungen für mobiles Wohnen, dazu passende Transportmittel und vielleicht sogar mobile Städte, um die Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen.
Sie untersuchen die Mechanismen, mit denen große Metropolregionen sich erneuern, und sprechen von einem systematischen „Remapping“ ihrer Qualitäten, das diese Städte betreiben. Wie funktioniert dieses „Sich-immer-wieder-neu-auf-die-Landkarte-Setzen“?

Über welche Metropolregion wollen wir sprechen?
Etwa Paris. Die französische Hauptstadt verdeutlicht beispielhaft die Konflikte bei der politischen Steuerung großer Metropolregionen, wie wir sie in ganz Europa beobachten können. Seit Jahrzehnten versucht Paris, von der Zen­trumsfixierung ein Stück wegzukommen und die Außenbereiche mit einer besseren Infrastruktur auszustatten, um die Lebensbedingungen der Menschen in der Peripherie zu verbessern. Doch die Abstimmung mit 500 verschiedenen Gemeinden mit ihren Einzelinteressen ist wenig erfolgreich, viele Initiativen verliefen im Sand. Ähnliche Probleme, wenn auch in kleinerem Maßstab, lassen sich in München oder Berlin beobachten, wo die Planung des metropolitanen Großraums („Grand Berlin“) jüngst verstärkt in den Fokus rückt. Wie können sich diese Städte „remappen“, sprich ihre Infrastrukturen neu ordnen?
In der Vergangenheit haben viele Leute gesagt, die Lösung sei ein besseres Verkehrsnetz, das den Menschen in den Außenbezirken einen schnelleren Zugang ins Zentrum der Stadt ermöglicht. Als ob das Geschäftsviertel in der Innenstadt die Spitze der wirtschaftlichen Leistung darstellt und jeder dorthin zur Arbeit gehen sollte, um einen höheren Lohn zu erhalten! Das ist für mich eine wenig zeitgemäße Sichtweise. Sie kollidiert mit zwei Realitäten: Erstens setzen sich heute die Möglichkeiten des Homeoffice und der Fernarbeit durch. Mehr Menschen werden künftig eine Arbeit verrichten, die nicht in der physischen Dienstleistungswirtschaft liegt, weil vieles digitalisiert werden kann. Das heißt aber auch, dass Arbeitnehmer, die wissensbasierte Dienstleistungen erbringen, weniger Zeit damit zubringen sollten, quer durch die Stadt in ein Büro zu fahren, um dann abends wieder nach Hause zu pendeln. Die ausgefallenen Beispiele kennen wir alle: Ich kann auf einer kleinen Insel wohnen und mehr verdienen als jemand, der mitten in Paris lebt, vorausgesetzt, dass dort das WLAN funktioniert.
Der zweite Punkt lautet, dass die Logik der zentrumsfixierten Verkehrserschließung mit der Idee einer 15-Minuten-Stadt kollidiert. Es ist einfach nicht fair, wenn Leute aus abgelegenen Vororten ins Zentrum zum Arbeiten fahren müssen. Die Arbeitsplätze sollten dort sein, wo die Leute leben. Es sollte digitale Arbeitsplätze geben, es sollte Co-Working-Spaces geben, es sollte gute Schulen geben, es sollte gute Krankenhäuser geben. Wenn man als Arzt arbeitet, sollte man ein gutes Arztgehalt in der Nachbarschaft bekommen. Wenn Sie wollen, dass sich die 15-Minuten-Stadt durchsetzt, und Sie aus Paris oder London eine Ansammlung von zwanzig Mikro-15-Minuten Städten machen wollen, in denen man sich zu Fuß bewegen kann: dann müssen sie die Aktivitäten und die wirtschaftlichen Möglichkeiten dorthin verteilen, wo die Menschen sind. Das ist eine wichtige Zielsetzung.
Sind die politischen und ökonomischen Beharrungskräfte, die solche vorbildlichen, dezen­tralen Konzepte verhindern, die Sie für die Peripherien der Städte skizzieren, nicht viel zu hoch?
Schon. Aber wenn man eine 15-Minuten-Stadt im Sinne der Gerechtigkeit haben will, kann es nicht eine 15-Minuten-Stadt nur für die Leute sein, die in Berlin in der Nähe des Ku’damms oder in der Nähe des Hackeschen Marktes wohnen. Eine 15-Minuten-Stadt bedeutet, dass es viele 15-Minuten-Städte von guter Qualität für jeden Bezirk geben muss, für jeden Stadtteil, für jeden Kiez, für jedes Arrondissement. Ansonsten schafft man nur noch mehr Ungleichheit.
Ich bin ja für eine durchgängige gute Infrastruktur. Aber mich besorgt, dass wir Milliarden von Dollar für eine Infrastruktur an Orten ausgeben, an denen sich die Menschen vielleicht bald nicht mehr aufhalten. Wir können nicht in einer utopischen Welt leben, in der es überall eine smarte Stadt, eine High-Tech City, gibt. Auch für Ostdeutschland muss man sich diese Frage genau ansehen. Lohnt es sich, überall die gleiche Infrastruktur vorzuhalten? Menschen mögen aus ganz unterschiedlichen Gründen abwandern. Der Klimawandel wird ein wichtiger Grund sein. Asien gibt jedes Jahr Billionen von Dollar für die Infrastruktur aus, und man baut Städte in Küstengebieten, wo der Meeresspiegel steigt. Das ist unsinnig.
Sicherlich ein interessanter Punkt. Aber Sie wissen auch, dass gerade in Deutschland die Bundesländer ihre eigene Rolle spielen und jedes Land seine Interessen und die seiner Bevölkerung vertritt. Es ist kaum möglich, solche Fragen von oben herab zu lösen.
Wenn ich in Ihrem Buch sehe, dass in den Darstellungen von beispielhaft gut vernetzten, globalen Megastädten das Ruhrgebiet ver­treten ist, nicht aber Berlin, Leipzig, Hamburg oder die Autostadtregionen München und Stuttgart, frage ich mich, wie Sie zu Ihrer Auswahl an Städten kommen?
Wenn ich Megastädte kartiere, dann gibt es in Deutschland nur das Ruhrgebiet. Wenn man es als ein urbanes Konglomerat um Essen, Köln, Frankfurt herum versteht, dann kann man dieses Gebiet als urbane Agglomeration, als Ballungsraum ansehen, der mit den weltweiten Megastädten konkurriert. Berlin hingegen ist geradezu winzig. Berlin hat heute die gleiche Einwohnerzahl wie vor 100 Jahren, auch wenn es gerade versucht, größer zu werden. Das bedeutet keine Wertung, es ist eine Feststellung.
Nehmen Sie etwa Australien. Das Land ist fünfzig Mal großer als die indonesische Insel Java, hat aber nur ein Fünftel so viel Einwohner. Java ist heute die beliebteste Insel auf dem Planeten: 150 Millionen Menschen leben auf diesem kleinen Flecken Erde. Ich benutze gerne Analogien aus der Physik. Schwerkraft zählt mehr als Größe. Auch Singapur, wo ich wohne und arbeite, ist nicht besonders groß, im Gegenteil, es ist eine sehr kleine Insel. Dort wohnen fünf Millionen Menschen, also etwas mehr als in Berlin. Aber es hat ein BIP von 600 Milliarden Dollar. 75 Prozent aller Investitionen, die in die ganze umliegende Region fließen, werden hier erwirtschaftet. Und es hat die vielleicht am besten vernetzte Wirtschaft der Welt.
Wie langfristig stabil sind diese globalen, urbanen Gravitationszentren, die Sie vergleichen? Werden es in zehn Jahren mehr oder weniger die gleichen Agglomerationen wie heute sein?
Nein. In einer Reihe von Fällen mag das zutreffen. Aber einige Orte werden an Macht und Einfluss zulegen, andere werden schrumpfen. Tokio schrumpft, Hongkong wird vermutlich ebenfalls kleiner werden. Ähnliches gilt für Los Angeles, die Stadt wird vermutlich ebenfalls schrumpfen. Die Leute verlassen Los Angeles. Umweltfaktoren, demographische und viele andere Faktoren können sich darauf auswirken, ob ein Ort in zehn Jahren noch auf einer solchen Landkarte zu finden sein wird oder nicht. Die Demographie spielt eine immer wichtigere Rolle.
Das zentrale Argument in meinem Buch „Move“ lautet: Wir erreichen jetzt ein Bevölkerungsplateau von neun Milliarden Menschen. Anstelle der aktuellen Situation, in der wir eine ständig wachsende Bevölkerung haben, kommen wir in Kürze zu einer Nullsummen-Bevölkerungsdynamik. Dort, wo ein Land Menschen verliert, gewinnt ein anderes welche dazu. Deswegen stelle ich folgende Prognose: Wenn man sich die Migration junger Menschen genauer anschaut, wird sich daraus ableiten lassen, welche Städte und welche Länder künftig die Gewinner und welche die Verlierer sein werden.
Wenn wir über den Begriff einer 15-Minuten-Stadt im weltweiten Kontext sprechen, dann ist zu beobachten, dass stabile Stadtstruk­turen noch aus anderen Gründen ihre einstige Basis verlieren. Verantwortlich ist die Mittelschicht, die in den wissensbasierten Dienstleistungsberufen arbeitet. Sie wird immer mobiler. Egal, ob sie in einem international ope­rierenden Unternehmen tätig sind, oder in der globalen Universitäts- und Wissensindustrie: Diese gut ausgebildeten Leute brauchen eigentlich keine festen Standorte mehr. Heimat kann überall sein. Wie wird sich diese individuelle Flexibilität auf die Struktur der Städte auswirken?
Das hängt davon ab, um welchen Teil der Welt es sich handelt. Es gibt Menschen, die, weil sie im Homeoffice arbeiten können und nicht die hohen Mietpreise in San Francisco zahlen wollen, nach Colorado ziehen. Oder sie ziehen nach Montana. Dort kostet der Lebensunterhalt nur ein Viertel von dem in der Bay Area. In diesem Sinne werden Städte vielleicht degradiert, sie verlieren ihre Talente, sie verlieren einige ihrer wichtigsten Einwohner. Das liegt aber auch daran, dass es sich um Länder handelt, in denen man die gleiche oder eine bessere Lebensqualität auch außerhalb der Stadt haben kann.
– Lebensqualität in den Städten und auf dem Land
Nehmen Sie auf der anderen Seite Asien, wo heute die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt: Dort ist die Lebensqualität in den Städten einfach viel höher. Sie können Ihren Job als Softwareprogrammierer in Ho-Chi-Minh-Stadt ausüben oder auf einer Farm im Umland. Auf dem Bauernhof gibt es aber kein schnelles Internet, keine guten Krankenhäuser in der Nähe und vielleicht noch nicht einmal gutes Essen. Also wird man in Asien lieber in der Stadt als auf einem Bauernhof leben.
Das bezieht sich auf die erwähnte gut situierte, mobile Mittelschicht, die in wissensbasierten Berufen tätig ist. Auf der anderen Seite der Skala gibt es Menschen, denen diese Chancen nicht zur Verfügung stehen, die weder umziehen können noch wollen. Dazu zählt auch die „alte“ meist industriebasierte Mittelschicht, die nicht über diese soziale Mobilität verfügt, die sich abgehängt fühlt und die Globalisierung für ihre Situation verantwortlich macht.
Sprechen wir jetzt über Individuen und deren Grad an sozialer Mobilität und Konnektivität?
Ja.
Wenn wir versuchen, Populismus, Antiglobalisierung und den politischen Backlash zu erklären, die heute in vielen Ländern zu beobachten sind, dann bin ich sehr skeptisch, dass die Globali­sie­rung dafür verantwortlich gemacht werden kann. Die Schuld liegt fast immer auf nationaler Ebene. Man sollte die Regierungen in die Verantwortung nehmen, die nicht genug ausgeben, um die Menschen, die weniger qualifiziert sind, auf eine sich wandelnde Wirtschaft vorzubereiten.
Die Anti-Globalisierungs-Bewegung hat aus meiner Sicht Unrecht, wohingegen die Occupy-Wallstreet-Bewegung Recht hat. Wenn Sie gegen die Globalisierung sind, dann sind Sie vermutlich auch der Auffassung, dass wir keine Internet-Technologien verbreiten sollten, dass wir kein gentechnisch verändertes Saatgut brauchen und keine hochgezüchteten Pflanzen, und dass wir in anderen, weit entfernten Ländern nicht investieren sollten. Das alles gehört zur Globalisierung. Darauf zu verzichten, wäre nicht nur falsch. Es wäre unfair, hegemonial, und es wäre naiv.
Occupy Wallstreet hingegen hat gesagt, ja, es gibt Wachstumschancen, es gibt ein Wachstum des Wohlstands. Aber dieser Wohlstand wird in vielen Ländern weder geteilt noch gerecht verteilt. Die Occupy-Wallstreet-Bewegung war auch in London, in Berlin, in Moskau, in Hongkong so wirkungsvoll, weil sie folgendes angeprangert hat: Ihr Regierungen in den großen Städten kümmert euch nicht um die Umverteilung des im Land durch die Globalisierung entstandenen Wohlstands! Die Fehler liegen in der Korruption, in kurzsichtiger Planung und in schlechter Regierungsführung. Der Fehler liegt nicht in der weltweiten Konnektivität. Aber heute gibt es ein konventionelles Narrativ, das diesen globalen Kräften gerne die Schuld gibt.
Bleiben wir noch einen Moment bei der Frage der Individuen und ihrer subjektiven Wahrnehmung. Die Globalisierung macht ja etwas mit den Menschen. Das hat die Pandemie deutlich gezeigt. Es gibt Rückwirkungen des globalen Handels, über die wir uns bewusst sein müssen. Ist es wirklich nötig, die Produktion immer dorthin auszulagern, wo es billiger ist? Einfaches Beispiel sind die FFP2-Masken, die in China produziert und um den halben Globus transportiert wurden und in Europa lange Mangelware waren.
Was sollten wir sinnvollerweise vor Ort selbst tun? Was ist Ihr Ratschlag für die lokalen Bedingungen, unter denen sich kleinere und größere Städte entwickeln? Auch der Begriff der 15-Minuten-Stadt fällt ja in das Kapitel einer wiederentdeckten Autonomie des Lokalen. Wieviel lokale Verankerung ist notwendig, wenn wir das Modell der globalen Konnektivität nicht überstrapazieren wollen?
Ich denke, ein Teil der Lösung besteht darin, dass wir zwischen essentiellen und nicht-essentiellen Dienstleistungen genau unterscheiden. Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass zwischen lebenswichtigen und weniger wichtigen Dienstleistungen zu unterscheiden ist. Eine weltweite Diskussion kam in Gang. Während des Lockdowns fiel die Antwort auf diese Frage in verschiedenen Ländern oft auch unterschiedlich aus: Sanitäter, Friseure und Ärztinnen sind essentiell. Aber zur Massage, ins Fitnessstudio oder ins Kino und Theater zu gehen, gehört am einen Ort dazu, am anderen nicht. Das ist eine wichtige Debatte: Lebensmittel und Lebensmittelgeschäfte sind essentiell, Diskotheken und Karaoke-Bars sind es nicht.
– Pandemie und die Definition lebenswichtiger Dienstleistungen –
Wir haben diese Unterscheidung vor der Pandemie so nicht vor Augen gehabt. Und dann mussten wir feststellen, dass Menschen, die in diesen lebenswichtigen Dienstleistungen arbeiten, Krankenschwestern und andere Mitarbeiter im Gesundheitssektor zum Beispiel, schlecht bezahlt werden. Das ist auch ein Lernprozess. Wenn man über die urbanen Geographien der Zukunft nachdenkt, gerade auch über die 15-Minuten-Städte, geht es dann primär um nicht-wesentliche Dienstleistungen? Nein!
Es sollte aber um Orte gehen, an denen Leute angemessen bezahlt werden, wenn sie sich um Menschen in ihrer Gemeinschaft kümmern und füreinander arbeiten. Egal, ob sie jetzt als Ärztinnen arbeiten oder als Lehrer, ob sie in der Logistik, in der Lebensmittelindustrie oder in der Landwirtschaft tätig sind oder ob sie Solaranlagen installieren und damit wichtige Infrastruktur schaffen. Das sind alles Arbeiten, die es uns erlauben, eine nachhaltige, moderne Zivilisation zu errichten. Wie entschädigen wir die Menschen angemessen? Wenn wir heute wieder damit anfangen, über Orte nachzudenken, die so strukturiert sind, dass sie die wesentlichen Dienstleistungen zur Verfügung stellen, dann wird es sich nicht mehr um bloße Satelliten handeln, die keine urbane Seele haben.
– Attraktive Städte der zweiten Reihe
Wenn wir heute von einer idealen Stadt sprechen wollen, dann hat sie vermutlich nicht die Größe von Chongqing in China. Sie könnte kleiner sein. Schauen wir uns etwa in Europa das Ranking der lebenswerten Städte an, dann sind es meist Städte „in der zweiten Reihe“, die vorne liegen. Alles Beispiele, wo man die ganze Stadt als eine Art 15-Minuten-Stadt betrachten könnte. Ich denke an Montreux, eine Kleinstadt in der Schweiz, oder an kleine bis mittelgroße niederländische oder belgische Städte wie Antwerpen. Junge Leute ziehen heute in diese kleineren Städte, weil sie erschwinglich sind, weil man dort nicht das Gefühl hat, dass man am Rand stehen und das Zentrum nie erreichen wird. Selbst im heutigen Amerika, das so ungleiche Lebensbedingungen aufweist, gibt es eine reale Chance, alte Struk­turen zu ändern – wegen der Reaktion auf die Pandemie. Los Angeles und New York sind gute Beispiele.
– Nicht mehr in New York leben wollen
Seit vielen Generationen sagen sich junge Leute in Amerika: Ich muss es in New York schaffen. Ich muss hat arbeiten und irrelevante Dinge tun, nur um eine Menge Geld zu verdienen, damit ich nach New York gehen kann. Aber es gibt Hoffnung, denn diese materialistische Haltung ist rückläufig. Heute sagen die jungen Luete: Ich will nicht in New York leben. Ich will nicht in Los Angeles leben. Ich will nicht 75 Prozent meines Einkommens für Miete ausgeben, um in einem kleinen Schuhkarton zu leben. Wenn wir die digitale Konnektivität stärken, wenn wir uns darauf konzentrieren, Menschen zu befähigen, zu inves­tieren und die Infrastruktur eines Landes zu erneuern, dann wird es wieder attraktiv sein, in Detroit, in Cleveland oder in Idaho zu leben. Und viele jungen Amerikaner tun das inzwischen von sich aus. Es gibt einen starken Wunsch, nicht mehr nach den alten Hierarchien zu leben. Hierarchien gibt es nicht nur auf mentaler und beruflicher Ebene. Es gibt sie immer auch im geographischen Sinn.
– Narrativ der Gleichberechtigung –

Übrigens zeigt sich hier eine Stärke des deutschen Modells. Deutschland ist in hohem Maße föderal und dezentral. Viele kleinere Länder haben nur einen lokalen Wirtschaftsmotor. Die USA hat etwa vierzig solcher geographisch für die Wirtschaft wichtigen Standorte. In Deutschland sind es etwa zehn solcher Orte mit Wirtschaftsmotoren, was angesichts seiner geringen Größe sehr gut ist.
Das erklärt im Übrigen die Dringlichkeit, mit der heute in Paris über das Konzept der 15-Minuten-Städte gesprochen wird. Paris ist die Welt. Dann kommt erst mal lange nichts. Es ist okay, wenn heute in Paris über eine Sammlung von 15-Minuten-Städten diskutiert wird. Aber damit ist noch nicht vom Rest des Landes die Rede. Nur weil Frankreichs Hauptstadt das Narrativ der Gleichberechtigung aufgreift, heißt das noch nicht, dass es damit getan ist.
Deutschland hingegen ist vielleicht nicht der Pionier des Konzepts einer 15-Minuten-Stadt. Aber es ist voraus, was die Gleichheit der Lebensbedingungen und der über das ganze Land verstreuten Entwicklungsmöglichkeiten angeht, weil es bereits dezentralisiert ist.
Eine persönliche Frage zum Schluss. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Sie mit Ihrer Tochter das große Puzzle einer Weltkarte zusammensetzen. Wie werden eigentlich die Weltkarten der nächsten Generation aussehen? Welche Details wird die Karte beinhalten, die Ihre Tochter vielleicht eines Tages mit ihren Kindern zusammenpuzzeln wird?
Ich drehe jetzt mal den Bildschirm und zeige Ihnen eine Karte, die hinter mir an der Wand des Studios hängt. Sie kommt von der NASA und bildet den „Suitability Chain Index“ ab. In den nächsten zwanzig Jahren, wenn die Temperaturen steigen, werden auf der ganzen Welt mehr Orte eine rote Färbung aufweisen. Das heißt, es wird weniger Regen geben. Diese Landstriche werden schlechter bewohnbar sein, weil die Temperatur im Durchschnitt um 3°C höher sein wird als heute. Umgekehrt werden sich die Orte, die auf dieser Karte grün sind, besser für eine Besiedelung eignen.
– Weltweite Klima-Nischen –

Wie immer bei den Karten, mit denen ich arbeite, hat auch diese keine Grenzen. Ich zeige die Geographie. Menschen wollen immer an Orten leben, die Wissenschaftler als „Klima-Nische“ bezeichnen. Das sind die Breitengrade, auf denen wir bequem überleben können. Die Klima-Nischen sind in Bewegung geraten, wir werden uns also bewegen müssen. Das ist die grundlegende Botschaft von „Move“. Meine Kinder werden irgendwann vielleicht nicht mehr in Singapur leben, weil es dort zu heiß sein wird.
Wir haben in Singapur zwar technische Lösungen, denn wir haben weltweit die meisten Klimaanlagen. Aber das ist bekanntlich nicht gut für den Planeten. Auch all die anderen Städte, die reich genug sind, um sich Klimaanlagen leisten zu können, wollen nicht die ganze Zeit in einer Blase leben. Viele Menschen werden aufgrund von klimatischen Entwicklungen, von technologischen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren umziehen müssen. Es wird eine sich ständig in Bewegung befindliche Verteilung von Menschen geben.
Unsere heutigen Karten, mit denen wir uns die Wirklichkeit erklären, sind kaum je synchronisiert. Die Ressourcen können sich an diesem Ort befinden, die Menschen aber an einem anderen Ort, während die wirtschaftlichen Möglichkeiten und die passenden klimatischen Bedingungen wiederum anderswo zu finden sind. Unsere Lebenswirklichkeiten sind nicht aufeinander abgestimmt. Wir werden in den nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahren die Ausrichtung unserer Daseinsweise auf der Erde korrigieren, oder wir werden sterben. Das ist die Herausforderung. Die Städte spielen in dieser Neuorientierung eine zentrale Rolle. Das tun sie schon wegen ihrer sozialen und physischen Infrastruktur, die sie den Menschen bieten.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der jeweilige Kontext der Städte auch den Anforderungen einer weltweiten Geographie, also der klimatischen, demographischen und wirtschaftlichen Gesamtentwicklung, entspricht. Es reicht heute nicht aus, die Städte besser zu machen, wenn sich diese am falschen Ort befinden.
Um noch auf Ihre letzte Frage zu antworten (er lacht): Ich beschäftige mich mit meinen Kindern eigentlich ständig mit Karten, die genau solche Fragen aufwerfen.
Fakten
Architekten Khanna, Parag, Singapur
aus Bauwelt 19.2021
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