1955–1991
Das AzW arbeitet die Ära der Sowjetmoderne auf
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
1955–1991
Das AzW arbeitet die Ära der Sowjetmoderne auf
Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig
In einem mehrjährigen Unterfangen widmet sich das Architekturzentrum Wien (AzW) einem bislang unerforschten Kapitel der neueren Architekturgeschichte: der „Sowjetmoderne“ (Bauwelt 19.11). Erste Ergebnisse liegen mit einer Ausstellung und einem Kongress vor. Das AzW unterstreicht so sein Selbstverständnis als Tor des Westens zum Osten.
Das AzW-Team ist der späten Phase der Bauproduktion in den vierzehn nicht-russischen Sowjetrepubliken nachgegangen. Die beginnt nach der Machtübernahme Chruschtschows und endet mit dem Zerfall der UdSSR und dem Einzug kapitalistischer Prämissen. In seiner berühmten Rede auf der Allunionskonferenz im Dezember 1955 geißelt Chruschtschow die „Unmäßigkeit“ des Neo-Klassizismus in Architektur und Städtebau der Stalin-Ära. Die Beseitigung der Wohnungsnot mittels moderner Bautechnologie sieht er als Aufgabe der nächsten 20 Jahre. Und während sich die stalinistische Doktrin dem Westen ideologisch-moralisch überlegen fühlte, fördert Chruschtschow die selbstbewusste Konkurrenz mit dem Westen in avancierten wissenschaftlichen und technischen Disziplinen. Das kulturelle „Tauwetter“ beginnt in der Literatur, die Architektur erreicht es sichtbar in den 60ern, als jene Bauten der Sowjetmoderne entstehen, die sich heute so spektakulär darstellen lassen wie etwa in dem Fotobuch von Frédéric Chaubin (Bauwelt 9.11).
Die Wiener Ausstellung hingegen spiegelt eine sorgfältig recherchierte Datenbank wider, die die Grundlage für eine Typologisierung bildet. Die Präsentation versteht sich als Archivwerkstatt, als offenes Projekt. Jeder einzelnen Republik oder Region ist ein Schwerpunkt zugewiesen. Behandelt werden etwa das Bauen für die Industrie in Weißrussland oder die Kolchosen in Estland und der experimentelle Wohnungsbau in den Urbanisierungsgebieten Zentralasiens. Dem westlichen Betrachter weitgehend unbekannte Bauaufgaben sind zu sehen: Winterzirkusse, Pionierkolonien, Trauer- und Hochzeitspaläste für die säkularen Rituale im politisch verordneten Atheismus.
Der „19. Wiener Architekturkongress“ bot Ende November den umfassenden internationalen Austausch, bei dem man im vitalen Sprachmix aus Russisch, Englisch und Deutsch Fragen nachging, die die Schau aufwirft. Woher etwa die profunde Kenntnis internationaler Protagonisten wie Le Corbusier, Mies oder Aalto, die in einer ganzen Reihe von Bauten evident wird? Sporadisch gab es eine kommentierte russische Ausgabe der L’architecture d’aujourd’hui, wenn Themen für die innersowjetische Diskussion relevant erschienen. Weitere westliche Publikationen waren in Bibliotheken bedingt verfügbar, ihre Inhalte kursierten inoffiziell vermutlich in größerem Radius, ähnlich der Samisdat-Literatur.
Oder: Welche Rolle spielte die Architektur bei der nationalen Identitätsstiftung in den zum Teil künstlich geschaffenen Republiken am Kaukasus und in Asien? Entscheidend war ein mentaler Umbruch bei den vormals nomadischen Steppenvölkern: Die Etablierung einer städtischen Kultur mit Wohnanlagen, Bildungs- und Kulturbauten, Flughäfen und städtischen Freianlagen galt als sozialistische Errungenschaft. Im Zuge dieser Bauprogramme entwickelten sich dann unterscheidbare nationale Identitätsbilder, bis hin zu einer lokalen Moderne. Armenien beispielsweise konnte zwischen 1965 und 67 eine Gedenkstätte für die Opfer des Genozids 1915 errichten – ein Tabuthema unter Stalin – und damit seine nationale Eigenständigkeit darstellen. Der armenische Referent sah in der Weite und Offenheit dieses Memorials nachgerade das entscheidende national-referentielle Qualitätsmerkmal armenischer Architektur – und den Grund, weshalb die Bauten der sowjetmodernen Ära dort heute Akzeptanz genießen. So engagierte sich 2010 eine Bürgerbewegung in Jerewan für den Erhalt des Freiluft-Kinotheaters „Moskwa“. Mit ihren Argumenten für das spätmoderne Architekturerbe und den öffentlichen Raum verhinderten sie die Wiedererrichtung einer vormaligen Kirche an seiner Stelle – gegen das mächtige Trauma stalinistischer Religionsunterdrückung.
Dieses Beispiel scheint jedoch einzigartig zu sein. Aktuelle Bilder aus Georgien etwa zeigen die Transformation dortiger Bauten zu neo-nationalhistorisierenden Kitschfassaden. Und auch eine der Ikonen der Sowjetmoderne, die nach Karl Marx benannte Bibliothek im turkmenischen Aschgabat, 1960–75 von Abdullah Achmedov errichtet, ist nicht mehr der Sichtbetonbau internationaler Prägung. Das neue Outfit: eine Marmortapete mit orientalisierendem Gitterwerk und riesigen Reklameflächen. Den Tenor auf dem Kongress bestimmte denn auch das fehlende wissenschaftliche, institutionelle, handwerkliche und finanzielle Instrumentarium bei der nationalen Denkmalpflege. Zur Bewahrung des riesigen sozialistischen Baunachlasses bräuchte es zuallererst wohl den zivilgesellschaftlichen Willen zur tragfähigen (Nach-)Nutzung der ideologisch mitunter sperrigen Bauten – und den Verzicht auf jegliche Arroganz des global siegreichen Kapitalismus.
Die Wiener Ausstellung hingegen spiegelt eine sorgfältig recherchierte Datenbank wider, die die Grundlage für eine Typologisierung bildet. Die Präsentation versteht sich als Archivwerkstatt, als offenes Projekt. Jeder einzelnen Republik oder Region ist ein Schwerpunkt zugewiesen. Behandelt werden etwa das Bauen für die Industrie in Weißrussland oder die Kolchosen in Estland und der experimentelle Wohnungsbau in den Urbanisierungsgebieten Zentralasiens. Dem westlichen Betrachter weitgehend unbekannte Bauaufgaben sind zu sehen: Winterzirkusse, Pionierkolonien, Trauer- und Hochzeitspaläste für die säkularen Rituale im politisch verordneten Atheismus.
Der „19. Wiener Architekturkongress“ bot Ende November den umfassenden internationalen Austausch, bei dem man im vitalen Sprachmix aus Russisch, Englisch und Deutsch Fragen nachging, die die Schau aufwirft. Woher etwa die profunde Kenntnis internationaler Protagonisten wie Le Corbusier, Mies oder Aalto, die in einer ganzen Reihe von Bauten evident wird? Sporadisch gab es eine kommentierte russische Ausgabe der L’architecture d’aujourd’hui, wenn Themen für die innersowjetische Diskussion relevant erschienen. Weitere westliche Publikationen waren in Bibliotheken bedingt verfügbar, ihre Inhalte kursierten inoffiziell vermutlich in größerem Radius, ähnlich der Samisdat-Literatur.
Oder: Welche Rolle spielte die Architektur bei der nationalen Identitätsstiftung in den zum Teil künstlich geschaffenen Republiken am Kaukasus und in Asien? Entscheidend war ein mentaler Umbruch bei den vormals nomadischen Steppenvölkern: Die Etablierung einer städtischen Kultur mit Wohnanlagen, Bildungs- und Kulturbauten, Flughäfen und städtischen Freianlagen galt als sozialistische Errungenschaft. Im Zuge dieser Bauprogramme entwickelten sich dann unterscheidbare nationale Identitätsbilder, bis hin zu einer lokalen Moderne. Armenien beispielsweise konnte zwischen 1965 und 67 eine Gedenkstätte für die Opfer des Genozids 1915 errichten – ein Tabuthema unter Stalin – und damit seine nationale Eigenständigkeit darstellen. Der armenische Referent sah in der Weite und Offenheit dieses Memorials nachgerade das entscheidende national-referentielle Qualitätsmerkmal armenischer Architektur – und den Grund, weshalb die Bauten der sowjetmodernen Ära dort heute Akzeptanz genießen. So engagierte sich 2010 eine Bürgerbewegung in Jerewan für den Erhalt des Freiluft-Kinotheaters „Moskwa“. Mit ihren Argumenten für das spätmoderne Architekturerbe und den öffentlichen Raum verhinderten sie die Wiedererrichtung einer vormaligen Kirche an seiner Stelle – gegen das mächtige Trauma stalinistischer Religionsunterdrückung.
Dieses Beispiel scheint jedoch einzigartig zu sein. Aktuelle Bilder aus Georgien etwa zeigen die Transformation dortiger Bauten zu neo-nationalhistorisierenden Kitschfassaden. Und auch eine der Ikonen der Sowjetmoderne, die nach Karl Marx benannte Bibliothek im turkmenischen Aschgabat, 1960–75 von Abdullah Achmedov errichtet, ist nicht mehr der Sichtbetonbau internationaler Prägung. Das neue Outfit: eine Marmortapete mit orientalisierendem Gitterwerk und riesigen Reklameflächen. Den Tenor auf dem Kongress bestimmte denn auch das fehlende wissenschaftliche, institutionelle, handwerkliche und finanzielle Instrumentarium bei der nationalen Denkmalpflege. Zur Bewahrung des riesigen sozialistischen Baunachlasses bräuchte es zuallererst wohl den zivilgesellschaftlichen Willen zur tragfähigen (Nach-)Nutzung der ideologisch mitunter sperrigen Bauten – und den Verzicht auf jegliche Arroganz des global siegreichen Kapitalismus.
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