Architektur für alle
Müller-Wulckow und die Blauen Bücher in Oldenburg
Text: Höhns, Ulrich, Oldenbüttel
Architektur für alle
Müller-Wulckow und die Blauen Bücher in Oldenburg
Text: Höhns, Ulrich, Oldenbüttel
In Oldenburg ist ein Schatz aus den Anfängen der Architektur der Moderne gehoben worden, der von großer Bedeutung für das Verständnis dieser neuen Formen und ihrer bis heute fortwirkenden Verbreitung ist.
Es handelt sich um den umfangreichen Arbeitsnachlass Walter Müller-Wulckows (1886–1964), der einigen vermutlich noch als Initiator und Herausgeber von vier zwar schmalen, aber wirkungsstarken Architekturbänden bekannt ist, die von 1925 bis 1932 erschienen und die aufkommende Architekturmoderne in der damals überaus populären Reihe der „Blauen Bücher“ des Langewiesche-Verlags vorstellten. Das Spektrum umfasste „Bauten der Arbeit und des Verkehrs“, „Wohnbauten und Siedlungen aus deutscher Gegenwart“, „Bauten der Gemeinschaft“ und „Die deutsche Wohnung der Gegenwart“. Fast alles, was darin in lakonischer Knappheit der Darstellung und scheinbar ohne Dramaturgie versammelt ist, hat es in den Olymp der Moderne geschafft.
Mit seltsam unmoderner Typografie und Gestaltung, wohl um die konservativen Leser der Reihe nicht zu verschrecken, erscheinen in den vier Bänden nach jeweils kurzem Vorwort die Bauten und Räume: das eine, sprechende, alles umgreifende Foto, darunter eine Bildunterschrift mit Nennung des Projekts, des Ortes und des Baujahrs sowie des Namens des Architekten. Kleine, aber gut lesbare Grundrisse folgen gebündelt im Anhang. Das ist schon alles und reichte aus, um diese Architektur in hohen Auflagen zu verbreiten. Wesentlichen Anteil daran hatten die Aufnahmen führender Architekturfotografen jener Zeit: die Gebrüder Dransfeld, Artur Köster, Albert Renger-Patzsch, Ernst Scheel, Hugo Schmölz.
Müller-Wulckows Bedeutung als undogmatischer Propagandist des Neuen Bauens ist kaum zu überschätzen. Er hatte Kunstgeschichte und Philosophie studiert, unter anderem bei Georg Simmel, wurde bei Georg Dehio promoviert und arbeitete publizistisch in Frankfurt. Bereits 1916 plant er Bücher zur Neuen Architektur in der „Blauen Reihe“, er reist, sammelt Informationen, korrespondiert mit Architekten, beispielsweise mit Walter Gropius über die Gründung des Bauhauses. Kriegsbedingt erscheint Band 1 der Reihe erst 1925, aber gleich in 20.000 Exemplaren. 1921 wird Müller-Wulckow Gründungsdirektor des Oldenburger Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte und bleibt, doppelt überraschend, dort 1933 und 1945 im Amt. Er baut eine beachtliche Moderne-Sammlung auch mit Werken der bildenden Kunst auf, ebnet 1928 mit der internationalen Ausstellung „Neue Baukunst“ der Moderne den Weg in die Provinz, aus der heraus er sein weit gespanntes Netzwerk knüpft, und arbeitet parallel an der Buchreihe.
Mit klarem Blick für das Wesentliche und die Bildhaftigkeit der neuen Architektur trifft er eine harte Auswahl der Bauten und ihrer Abbildungen. Dies alles hat sich in 1000 Originalfotos, 3500 Briefen mit 400 Architekten, Literatur und Ephemera von hoher Aussagekraft und architekturhistorischem Wert erhalten. Erhalten haben sich auch zahlreiche Retuschieranweisungen für die Bearbeitung der Fotografien, die das klare, durch Schlagschatten akzentuierte, von stürzenden Linien und störenden Menschen aber befreite Bild dieser Architektur im kollektiven Kulturbewusstsein verankerten.
Auch die nicht verwendeten Aufnahmen und die nicht publizierten Bauten sind überliefert – und sie bergen Überraschendes. Betrachtet man sie heute mit dem eigenen Wissen um die „richtigen“, im Kanon sicher abgespeicherten Fotografien der Leitbauten der klassischen Moderne, dann entsteht für einen Moment ein Wackelbild. Warum wurde dieses und nicht ein anderes Foto ausgewählt, wie manipuliert ist unser Blick auf die Moderne? Gropius’ Fagus-Werk sieht, aus einer anderen als der berühmten Perspektive fotografiert, wie ein x-beliebiger Industriebau aus. Und wie ist das eigentlich heute mit der medialen Darstellung von Architektur in Zeiten der Bilderflut? Claudia Quiring und Andreas Rothaus, die Kuratoren der sehenswerten und mehrschichtig lesbaren Ausstellung, liefern dazu Antworten.
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