Aufruhr in Åltona
Text: Gefroi, Claas, Hamburg
Aufruhr in Åltona
Text: Gefroi, Claas, Hamburg
IKEA – das stand bisher als Synonym für „Kiste“ und Peripherie“. Jetzt möchte das Einrichtungshaus, wie so viele seiner Kunden, gerne in die Innenstadt. Weltweit erster Test für das neue Konzept ist Hamburg. Mit der Altstadt von Altona hat sich die Firma allerdings ein besonders anspruchsvolles Pflaster für ihr Experiment „Citystore“ ausgesucht.
Altona-Altstadt: Das klingt nach Idylle. Doch wer hier das historische Zentrum jener einst stolzen Großstadt erwartet, die erst durch Hitler Hamburg zugeschlagen wurde, wird enttäuscht. Die kleinteilige und enge Bebauung aus der Gründerzeit ist in den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zerstört worden. So sind seit Anfang der sechziger Jahre riesige Stadtgebiete im Rahmen des Neu-Altona-Plans von Oberbaudirektor Werner Hebebrand und Ernst May (damals Chefplaner der „Neuen Heimat“) neu aufgebaut worden, entsprechend dem damaligen Städtebauleitbild: geringe Dichte, Zeilenbauten und Punkthäuser, viel Grün. Die Neue Große Bergstraße und die Große Bergstraße wurden zu einem Geschäftszentrum umgebaut. Hier entstand 1966 Hamburgs erste Fußgängerzone, einige Jahre später wurden auf deren Südseite riesige Waschbetonburgen errichtet mit Wohnungen, Büros, Geschäften und Kaufhäusern. Doch es fehlte kaufkräftige Kundschaft. Nicht zuletzt durch die Konkurrenz des neuen Mercado-Einkaufszentrums im benachbarten Ottensen geriet der Straßenzug in die Krise und wurde zur Meile der 1-Euro-Shops. Ein Sanierungsgebiet wurde eingerichtet, ein Masterplan verabschiedet, Autoverkehr in der Fußgängerzone zugelassen – nichts half gegen den Niedergang. Zuletzt schloss dann auch die so wichtige Karstadt-Filiale.
Eine Schlüsselrolle für das Quartier spielte der Einzelhandels- und Gastronomie-Komplex „Frappant“. Nach einigen Besitzerwechseln war er heruntergekommen, stand leer, wurde von Künstlern zwischengenutzt und schließlich geschlossen. Völlig überraschend kaufte 2009 Ikea für zehn Millionen Euro den Bau mit dem Ziel, ihn abzureißen, um ein innerstädtisches Möbelhaus neuer Art zu errichten. Das Vorhaben war in Altona sofort heftig umstritten. Bürgerinitiativen, die den Beginn einer Gentrifizierungswelle und ein Verkehrschaos fürchteten, machten mobil. Die verbliebenen Einzelhändler hielten dagegen und beschworen den durch den Möbelgiganten in greifbare Nähe rückenden Neuanfang. Beide Seiten starteten Bürgerbegehren, doch die Entscheidung fiel sensationell deutlich aus: 77 Prozent der Altonaer wünschten sich den Möbelriesen mitten in der Stadt. Dazu beigetragen hatte nicht zuletzt die geschickte Öffentlichkeitsarbeit des Großkonzerns. Sie zog die örtlichen Einzelhändler in Werbekampagnen mit ein, kündigte an, lokale Bedürfnisse zu berücksichtigen und versprach ein Verkehrskonzept gegen die befürchtete PKW-Schwemme. Werbeslogans wie „Hey Nachbarn, dürfen wir es euch ein wenig schöner machen?“ zeigen die Richtung: Wir sind Teil von Altona.
Am 30. Juni öffnete in Anwesenheit des Ersten Bürgermeisters der weltweit erste Ikea-Citystore. Das Grundstück ist mit 10.000 Quadratmetern das bislang kleinste, auf dem ein Ikea-Einrichtungshaus entstanden ist. Dafür ist man in die Höhe gegangen und hat auf acht Stockwerken 18.000 Quadratmeter Verkaufsfläche (rund 20 Prozent weniger als üblich) sowie vier Parkdecks mit 800 Stellplätzen geschaffen. Es ist der Versuch des Möbelunternehmens, jene potentiellen Kunden zu erreichen, die bislang von der Lage der Filialen in Gewerbegebieten am Stadtrand abgeschreckt wurden. Das sind nicht nur Menschen, die sich kein eigenes Auto leisten können, sondern auch die durchaus solventen Hipster und Lohas, die bewusst auf einen eigenen PKW verzichten. Auf genau diese großstädtische Klientel zielt, das wird sofort deutlich, die neue Filiale (Architekten: nps tchoban voss). Hier steht keine der wohlbekannten monotonen blaugelben Wellblechkisten – sondern wirkliche Architektur. Für die Gebäudehülle forderte die Stadt einen Wettbewerb, den die Architekten Dinse Feest Zurl, Hamburg, gewannen. Die Fassade ist darauf angelegt, mittels einer horizontalen Gliederung sowie Vor- und Rücksprüngen den Riesen optisch zu verkleinern und ihm mit langgestreckten Fenster- und Türbändern Offenheit zu verleihen. Die Außenwände unterhalb der oberen drei Parkebenen wurden mit senkrecht gefalteten Metallpaneelen verkleidet, die nur an den schmalen Seitenflächen das Ikea-typische Blau erhielten – die breiten Frontflächen wurden weiß lackiert. Auf diese Weise zeigt der Bau nur von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet, dann aber schon aus großer Entfernung, wer sich hier niedergelassen hat. In der Frontansicht nimmt sich das Haus gegenüber den Bauten der Nachbarschaft zurück. Mit großen Schaufenstern und einem Café im Erdgeschoss will das Unternehmen auch Laufkundschaft locken.
Auch im Inneren ist vieles anders als gewohnt: Fenster lassen Tageslicht in die Ausstellung und stellen einen Bezug zur Umgebung her, selbst bei der von Hochregalen dominierten SB-Halle (die hier im 3. Obergeschoss zu finden ist). Alles wirkt luftiger als üblich, die Gänge sind breiter, die Blicke weiter. Wie in einem klassischen Kaufhaus durchzieht ein großzügiges Treppenhaus mit Rolltreppen für Kunden und Einkaufswagen die Verkaufsebenen. In der Möbelausstellung auf den beiden unteren Etagen gibt es viele Mitnahmeartikel und kleinere Möbel. In hölzernen Schaukästen werden Produkte arrangiert, die zu den eher kleinen Gründerzeitwohnungen in Ottensen passen. Und auch das Restaurant mit seiner Holzoptik und einem Front-Cooking-Bereich mit frischen Gerichten aus Wok und Grill ist ganz auf die großstädtischen Nachhaltigkeits- und Bio-Jünger abgestimmt. Wer ohne Auto kam und Größeres gekauft hat, kann nach dem Bezahlen zwischen verschiedenen Transportangeboten wählen: Neben der klassischen Anlieferung per LKW gibt es kostenpflichtige Lasttaxen, in denen der Kunde mitfahren kann, Car-Sharing, Paketfahrscheine sowie Fahrradkuriere, die dank spezieller Räder auch größere Möbelpakete ausliefern können. Wer nicht weit entfernt wohnt, kann zu Sackkarre, Schwerlastkarre, Lastenfahrrädern oder Fahrradanhängern greifen. Das Konzept scheint aufzugehen, denn das Verkehrschaos blieb bisher aus: Von den vier Parkdecks wird bislang nur eines genutzt; in der ersten Woche nach Eröffnung kamen gerade einmal sieben Prozent der Besucher mit dem Auto. Die Kundenzahl indes ist ungewöhnlich hoch: 15.000 bis 20.000 Kunden zählt man hier täglich statt der sonst üblichen 10.000 bis 15.000. Die Hamburger kaufen bislang allerdings eher kleinere Artikel statt großer Möbel – ein Indiz dafür, dass die neuen Transportangebote noch nicht recht wahrgenommen werden.
So bleibt vorerst unklar, ob sich der Versuch, einen neuen Kundenkreis im Zentrum einer Metropole zu erobern, für Ikea tatsächlich auszahlt. Doch der Möbelriese dürfte einen langen Atem besitzen, vieles ausprobieren und dann mit den gewonnenen Erfahrungen das Konzept auf andere Großstädte in aller Welt übertragen. Für Altona lässt sich vorläufig resümieren: In der lange darniederliegenden Einkaufsmeile hat der Kundenmagnet Ikea dazu geführt, dass sich zahlreiche neue, höherwertige Geschäfte angesiedelt haben. Das steigert die Attraktivität der Gegend, erhöht aber zugleich die Gefahr, dass alteingesessene Händler verdrängt werden. Eine Gentrifizierungswelle auf dem Wohnungsmarkt steht wahrscheinlich nicht zu befürchten: Die umliegenden Wohnviertel der Nachkriegsjahrzehnte sind für solvente Mieter und Käufer unattraktiv. Wenn sich dies bestätigt, hat, allen Unkenrufen zum Trotz, das Experiment, einen Elefanten im Porzellanladen wohnen zu lassen, auf wundersame Weise geklappt.
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