Das Europa des Philippe Samyn
Die Europäische Union bekommt 2015 ihren nächsten Neubau in Brüssel, diesmal mit Sitzungssälen für die Staatschefs. Der belgische Architekt kam auf die Idee, für das Projekt alte Holzfenster aus allen Ländern der Union zu verwenden. Aufgearbeitet bilden sie die äußere Haut des Gebäudes. Verstanden hat das bisher so gut wie niemand.
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Das Europa des Philippe Samyn
Die Europäische Union bekommt 2015 ihren nächsten Neubau in Brüssel, diesmal mit Sitzungssälen für die Staatschefs. Der belgische Architekt kam auf die Idee, für das Projekt alte Holzfenster aus allen Ländern der Union zu verwenden. Aufgearbeitet bilden sie die äußere Haut des Gebäudes. Verstanden hat das bisher so gut wie niemand.
Text: Redecke, Sebastian, Berlin
Begeisterung und Stolz schwingt mit, wenn Philippe Samyn von seinem Studium erzählt. Der aus Gent stammende 65-Jährige ist am MIT in Cambridge/Massachusetts zum Ingenieur ausgebildet worden. Es folgten mehrjährige Forschungen zum Tragverhalten leichter Stahl- und Holzbauten an der Universität Lüttich. Konstruktion ist Samyns Leben - den Rechenschieber hat er immer in der Tasche. Er begrüßt mich an der Chaussée de Waterloo Nr. 1537 in Vivier d‘Oies, einem Örtchen südlich von Brüssel. Sein Ingenieur- und Architekturbüro befindet sich in einem von ihm ergänzten Gehöft, hinter äußerst akkurat geschnittenen Hecken und Bäumen, die eine dichte Wand zur Ausfallstraße bilden. Die alten und neuen Ziegelbauten gruppieren sich um ein Wasserbassin, ein Ort völliger Ruhe und Abgeschiedenheit. Alles wirkt wie die Hecken und Bäume, penibel geordnet, fast schon steril. Auch im Büro ist alles blitzblank. 80 Mitarbeiter arbeiten hier, von denen über die Hälfte Tragwerksplaner sind, die auch für andere Architekturbüros Aufträge erledigen. Es ist ein Samstag im Juni. Vier Mitarbeiter sitzen an einem Wettbewerb für Helsinki. Samyn, ein Mann mit Pfeife und Fliege, hebt beim Rundgang durchs Büro einen winzigen Schnipsel Papier auf und entschuldigt sich für einen Schreibtisch, der nicht ordentlich hinterlassen wurde. Er sieht sich in seinen Räumen auch als Concierge – sicher etwas anstrengend für die Angestellten.
Europas Fensterrahmen
Der Architekt zeigt mir Fotos seiner letzten Bauten, u.a. das aus Hauben bestehende Dach vom Bahnhof in Löwen und eine Villa aus Holz nahe der deutschen Grenze, ein flacher Halbkreis mit schönem Ausblick in die Landschaft. Dann kurbelt er noch schnell und enthusiastisch zwei horizontale Lagen gläserner Lamellen auf und zu, ein Muster der von ihm entwickelten Fassade für das Null-Energie-Gebäude des Headquarters von AGC Glass in Louvain-la-Neuve. Mein Interesse gilt aber einem anderen Gebäude, seinem bisher mit Abstand größtem, das wir zusammen besuchen wollen. Die Fahrt dorthin führt entlang der riesigen Buchen des Forêt de Soignes in die Stadt. Unser Ziel ist die Baustelle des Neubaus für den Europäischen Rat im Europaviertel, der nach Fertigstellung auch international einen großen Bekanntheitsgrad erlangen wird. Hier werden regelmäßig die Staatschefs aller Mitgliedsstaaten tagen. Samyn hatte Ende 2005 mit der römischen Architekturfirma Valle Progettazioni (nicht zu verwechseln mit Gino Valle) und den Ingenieuren von Happold den eingeladenen Wettbewerb gewonnen. Sechs Finalisten waren in der zweiten Runde noch im Rennen gewesen (Bauwelt 42.2005). Gerade wird die äußerste Schicht Fassade montiert. Im nächsten Jahr soll alles fertig sein. An der Baustelle angekommen, bin ich zunächst wieder einmal entsetzt von der Hässlichkeit des Viertels. Man ist umgeben von Bürobauten ohne ein konzeptionelles und gestalterisches Gesamtkonzept. Der jetzige Bau des Europäischen Rats, ein gewaltiger Block aus Steinplatten, dunkel getöntem Glas und Wachhäuschen auf dem Dach, wurde 1995 eröffnet und erhielt seinen Namen nach dem niederländischen Rechtsphilosophen Justus Lipsius. Selbst Samyn, der über beste Kontakte im Brüsseler Investoren- und Planermilieu verfügt, kommentiert die Planung dieses Blocks mit den Worten „ein Katholik, ein Liberaler und ein Sozialist“, gemeint sind Brüsseler Seilschaften mit europäischen Kontakten, in deren Team jeder Berücksichtigung findet und alle wichtigen politischen Strömungen zum Zuge kommen. Fast alle Bauprojekte der EU haben sich Planerteams mit der Brüsseler „Régie des Bâtiments“ im Hintergrund über „Wettbewerbe“ eigener Prägung unter den Nagel gerissen. Warum lässt sich die EU das eigentlich gefallen? Warum keine qualitätvolle Architektur mit Symbolkraft für das Bündnis?
Der Architekt zeigt mir Fotos seiner letzten Bauten, u.a. das aus Hauben bestehende Dach vom Bahnhof in Löwen und eine Villa aus Holz nahe der deutschen Grenze, ein flacher Halbkreis mit schönem Ausblick in die Landschaft. Dann kurbelt er noch schnell und enthusiastisch zwei horizontale Lagen gläserner Lamellen auf und zu, ein Muster der von ihm entwickelten Fassade für das Null-Energie-Gebäude des Headquarters von AGC Glass in Louvain-la-Neuve. Mein Interesse gilt aber einem anderen Gebäude, seinem bisher mit Abstand größtem, das wir zusammen besuchen wollen. Die Fahrt dorthin führt entlang der riesigen Buchen des Forêt de Soignes in die Stadt. Unser Ziel ist die Baustelle des Neubaus für den Europäischen Rat im Europaviertel, der nach Fertigstellung auch international einen großen Bekanntheitsgrad erlangen wird. Hier werden regelmäßig die Staatschefs aller Mitgliedsstaaten tagen. Samyn hatte Ende 2005 mit der römischen Architekturfirma Valle Progettazioni (nicht zu verwechseln mit Gino Valle) und den Ingenieuren von Happold den eingeladenen Wettbewerb gewonnen. Sechs Finalisten waren in der zweiten Runde noch im Rennen gewesen (Bauwelt 42.2005). Gerade wird die äußerste Schicht Fassade montiert. Im nächsten Jahr soll alles fertig sein. An der Baustelle angekommen, bin ich zunächst wieder einmal entsetzt von der Hässlichkeit des Viertels. Man ist umgeben von Bürobauten ohne ein konzeptionelles und gestalterisches Gesamtkonzept. Der jetzige Bau des Europäischen Rats, ein gewaltiger Block aus Steinplatten, dunkel getöntem Glas und Wachhäuschen auf dem Dach, wurde 1995 eröffnet und erhielt seinen Namen nach dem niederländischen Rechtsphilosophen Justus Lipsius. Selbst Samyn, der über beste Kontakte im Brüsseler Investoren- und Planermilieu verfügt, kommentiert die Planung dieses Blocks mit den Worten „ein Katholik, ein Liberaler und ein Sozialist“, gemeint sind Brüsseler Seilschaften mit europäischen Kontakten, in deren Team jeder Berücksichtigung findet und alle wichtigen politischen Strömungen zum Zuge kommen. Fast alle Bauprojekte der EU haben sich Planerteams mit der Brüsseler „Régie des Bâtiments“ im Hintergrund über „Wettbewerbe“ eigener Prägung unter den Nagel gerissen. Warum lässt sich die EU das eigentlich gefallen? Warum keine qualitätvolle Architektur mit Symbolkraft für das Bündnis?
Jetzt, mit dem Neubau von Samyn, soll architektonisch etwas gelungen sein. Wir stehen vor der Glasfassade. Auf ganzer Höhe sind Holzfenster in unterschiedlichen Formaten zu sehen. Die Idee des Wettbewerbsentwurfs war, den Bau mit alten Fensterrahmen aus allen Staaten der Europäischen Union (zurzeit 28) zu gestalten. Die einzelnen Rahmen wurden zu großen, geschosshohen Fassadenelementen gefügt, die aussehen, als seien die Fenster extra angefertigt. Samyn beteuert, dass sie in den verschiedenen Ländern gesammelt und Stück für Stück zusammengesetzt wurden. Nur dort, wo es nicht passte, seien Restflächen mit neuen Rahmen hinzugefügt worden. Warum das Ganze? Die Intention des Entwerfenden, Lebendigkeit mit völkerverbindendem Charakter, wird nicht deutlich. Die Konstruktion dahinter ist komplex. Es folgen zwei Schichten mit viel Stahl, die Schutz gegen Bomben bieten sollen. Die äußere Schicht mit den Fensterrahmen ist nur von weitem als leicht wirkendes Dekor erkennbar.
Birne oder Ei
Hinter dieser Fassadenkonstruktion ist der Luftraum groß. Eine Halle nimmt die gesamte Höhe des Gebäudes ein. Die eigentlichen Nutzflächen befinden sich in einem weiteren Bau, auf elliptischen Grundriss, der in die große Halle hineingestellt wurde. Es handelt sich um ein birnenförmiges Gebilde, das die Brüsseler „das Ei des Herman Van Rompuy“ nennen. Der belgische Politiker hat sich für den Bau engagiert und ist noch bis November Präsident des Europäischen Rates. Samyn stopft seine Pfeife, und wir steigen in schweren Baustellen-Stiefeln zum obersten Geschoss hinauf. Sitzungssäle, große und kleine. Die Staatschefs haben bei ihren Brüsseler Meetings nun alles dicht beieinander. Ganz oben liegt der Speisesaal für die große Politik, im Untergeschoss, mit etwas Tageslicht, die Mitarbeiterkantine. Nicht nur in der Fassade, auch bei den Kabinen der Aufzüge soll es viel Glas geben; deren Betonschacht werden die Flaggen-Farben aller Länder der Union schmücken. Das Muster, ein lebendiger Karo-Mix, wird auch an anderen Stellen im Gebäude immer wieder auftauchen – eine Idee des Architekten, die bei der EU auf Interesse stieß.
Hinter dieser Fassadenkonstruktion ist der Luftraum groß. Eine Halle nimmt die gesamte Höhe des Gebäudes ein. Die eigentlichen Nutzflächen befinden sich in einem weiteren Bau, auf elliptischen Grundriss, der in die große Halle hineingestellt wurde. Es handelt sich um ein birnenförmiges Gebilde, das die Brüsseler „das Ei des Herman Van Rompuy“ nennen. Der belgische Politiker hat sich für den Bau engagiert und ist noch bis November Präsident des Europäischen Rates. Samyn stopft seine Pfeife, und wir steigen in schweren Baustellen-Stiefeln zum obersten Geschoss hinauf. Sitzungssäle, große und kleine. Die Staatschefs haben bei ihren Brüsseler Meetings nun alles dicht beieinander. Ganz oben liegt der Speisesaal für die große Politik, im Untergeschoss, mit etwas Tageslicht, die Mitarbeiterkantine. Nicht nur in der Fassade, auch bei den Kabinen der Aufzüge soll es viel Glas geben; deren Betonschacht werden die Flaggen-Farben aller Länder der Union schmücken. Das Muster, ein lebendiger Karo-Mix, wird auch an anderen Stellen im Gebäude immer wieder auftauchen – eine Idee des Architekten, die bei der EU auf Interesse stieß.
Residence Palace
Die äußeren Fassaden und die interne „Birne“ schließen unmittelbar an einen Altbau an, in dem sich weitere EU-Büros befinden. In hinteren Teil dieses Altbaus ist das Pressezentrum untergebracht. Es handelt sich um den ehemaligen Wohnkomplex „Residence Palace“ von 1921–27, der schon mehrmals gestutzt wurde. Die luxuriöse Anlage mit bester Ausstattung, einer großen, für die damalige Zeit sehr modernen Schwimmhalle und einem Theatersaal, entwarf der Architekt Michel Polak (1885–1948). Es war das erste große Spekulationsobjekt in Brüssel, für das mehrere Häuserblocks weichen mussten, erdacht vom Geschäftsmann der „Crédit Général Hypothécaire et Mobilier“ Lucien Kaisin, der in den zwanziger Jahren von den großen Wohnblocks New Yorks schwärmte. Die düster-graue Lochfassaden-Aufstockung dieses Altbaus stammt ebenfalls von Philippe Samyn. Sie ist völlig misslungen. Wie konnte das bei allen Bemühungen mit der Fensterspielerei nebenan passieren?
Die äußeren Fassaden und die interne „Birne“ schließen unmittelbar an einen Altbau an, in dem sich weitere EU-Büros befinden. In hinteren Teil dieses Altbaus ist das Pressezentrum untergebracht. Es handelt sich um den ehemaligen Wohnkomplex „Residence Palace“ von 1921–27, der schon mehrmals gestutzt wurde. Die luxuriöse Anlage mit bester Ausstattung, einer großen, für die damalige Zeit sehr modernen Schwimmhalle und einem Theatersaal, entwarf der Architekt Michel Polak (1885–1948). Es war das erste große Spekulationsobjekt in Brüssel, für das mehrere Häuserblocks weichen mussten, erdacht vom Geschäftsmann der „Crédit Général Hypothécaire et Mobilier“ Lucien Kaisin, der in den zwanziger Jahren von den großen Wohnblocks New Yorks schwärmte. Die düster-graue Lochfassaden-Aufstockung dieses Altbaus stammt ebenfalls von Philippe Samyn. Sie ist völlig misslungen. Wie konnte das bei allen Bemühungen mit der Fensterspielerei nebenan passieren?
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