Der Weg zum Neuen Sehen
Fotografien aus der Sammlung des Dresdner Kupferstich-Kabinetts
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
Der Weg zum Neuen Sehen
Fotografien aus der Sammlung des Dresdner Kupferstich-Kabinetts
Text: Scheffler, Tanja, Dresden
Mittels neuartiger Blickwinkel und experimenteller Bildtechniken entwickelte die Avantgardefotografie der 20er Jahre eine moderne Bildästhetik, die das Lebensgefühl jener Zeit optimistisch und dynamisch einfangen sollte. Eine ganze Reihe dieser Fotos sind jetzt als Teil der Ausstellung „KunstFotografie. Emanzipation eines Mediums“ zu sehen.
Eine Horde vorbeigaloppierender Pferde wirbelt den Erdboden auf. Eine fahrende Limousine erzeugt Speedlines wie in einem Comic. Die wechselnden Körperhaltungen einer Tänzerin bilden sich als überlappende Schatten auf der Wand ab. Bewegung. Bewegung. Bewegung. Mittels neuartiger Blickwinkel und experimenteller Bildtechniken (wie Doppel- und Mehrfachbelichtung) entwickelte die Avantgardefotografie der 20er Jahre eine moderne Bildästhetik, die das Lebensgefühl jener Zeit optimistisch und dynamisch einfangen sollte. Eine ganze Reihe dieser Fotos sind jetzt in Dresden als Teil der Ausstellung „KunstFotografie. Emanzipation eines Mediums“ zu sehen.
Alexander Rodtschenko fotografierte das „Pferderennen“ im Moskauer Hippodrom, am Rande der Rennbahn liegend. Durch die extreme Untersicht wähnt sich der Betrachter mitten im Geschehen. Als Rodtschenko 1925 von der Internationalen Kunstgewerbeausstellung in Paris nach Moskau zurückkehrte, waren seine wichtigsten Mitbringsel nicht die vielen Auszeichnungen, die man ihm dort verliehen hatte, sondern die brandneuen, leicht zu bedienenden Kameras, die er hatte kaufen können. Den herkömmlichen Blickwinkel des Fotografen durch den vor dem Bauch hängenden Apparat – damals befand sich der Sucher noch oben auf der Kamera – lehnte er als „Bauchnabelperspektive“ ab. Mit der Leica, die er in der Hand hielt, entdeckte er seine Stadt völlig neu.
El Lissitzky fand während eines Sanatoriumsaufenthalts in der Schweiz nach jahrelanger Beschäftigung mit abstrakter Kunst und einer Tätigkeit als Werbegestalter wieder zurück zu seinem eigentlichen Fach, der Architektur. In dem Selbstporträt „Konstrukteur“ (1924) projiziert er zwei Aufnahmen – ein Selbstbildnis und eine waagerechte Hand mit Zirkel – so übereinander, dass das rechte Auge des Künstlers aus dem Handteller zu blicken scheint: Das „schauende Auge“ befindet sich im Einklang mit der „schaffenden Hand“.
Wie stark sich die Auffassung vom Sehen und Abbilden gegen Ende der 20er Jahre am Bauhaus veränderte, ist anhand von Fotos, die in Dessau entstanden, zu erkennen. Unter László Moholy-Nagy fertigten die Studenten vor allem Fotogramme an – unmittelbare Lichtabdrücke von Gegenständen auf lichtempfindlichem Papier – und abstrakt wirkende geometrische Bild-Kompositionen aus ungewöhnlichen Perspektiven. Eine Serie kleinformatiger Aufnahmen von Moholy-Nagy zeigt, schräg angeschnitten, architektonische Details seines Meisterhauses, Künstlerkollegen dienen ihm als Staffage. Die zur Schiffsreling stilisierte Dachkante mit „Gret Palucca, Nina Kandinsky, Wassiliy Kandinsky und Herbert Trantow auf der Dachterrasse“ (1927) ist weithin bekannt. Die komplette Serie mit vergleichbaren Motiven, aber von äußerst unterschiedlicher Bildqualität offenbart jedoch, in welchem Kontext diese Aufnahmen entstanden sind: Sie sind Schnappschüsse mit der Kleinbildkamera, keineswegs ausstellungsreife Kunstwerke. Erst ab 1929 wurde am Bauhaus Fotografie als offizielles Lehrfach unterrichtet. Walter Peterhans, der die Werkstatt für Fotografie aufbaute, ging es nicht um den „entscheidenden Moment“ am Auslöser, sondern um technische Präzision und handwerklich saubere Ausführung – gut nachzuvollziehen bei den Aufnahmen seiner Schüler, vor allem bei den Draufsichten und scheinbar endlosen Reihungen von Hajo Rose.
Das Dresdner Kupferstich-Kabinett präsentiert alle diese Bilder gleichsam als Endpunkt der Entwicklung der Fotografie hin zu einem eigenständigen Medium in der Kunst. Die Ausstellung zeigt insgesamt 160 Exponate aus der museumseigenen Sammlung, Abzüge, Platin- und Gummidrucke und frühe Daguerreotypien. Die Motive reichen von Porträts über Landschaftsaufnahmen bis zu Stadtszenerien. Gelegentlich laden die Bilderläuterungen auch zum Schmunzeln ein. So sind zum Beispiel auf dem detailreichen Silbergelatineabzug der laut zeitgenössischer Lokalpresse „von Wagen belebten“ Leipziger Nicolai-Straße auf Robert Proessdorfs Aufnahme „Nach dem Regen“ von 1898 beim besten Willen nur zwei fahrende (und zwei abgestellte) Pferdefuhrwerke zu sehen.
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