Bauwelt

Der ganze Ernst May

Wohltuend helden­verehrungsfreie Ausstellung im DAM

Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main

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Ernst May in der Sowjetunion, 1931
© DAM

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Ernst May in der Sowjetunion, 1931

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Der ganze Ernst May

Wohltuend helden­verehrungsfreie Ausstellung im DAM

Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main

Scharfe Gesichtszüge, Hakennase, klarer Blick, geschmückt mit der obligatorischen Architekten-Fliege, ausgestattet mit Geodreieck und Rechenschieber – so zeichnete ihn der Frankfurter Karikaturist Lino Salini um 1928.
Ernst May, geboren am 27. Juli 1886 in Frankfurt am Main, war machtbewusst, durch­setzungsstark und sich seiner öffentlichen Wirkung durchaus bewusst. Dass er karikiert wurde, gehörte für ihn zum Job. Und er hatte heftigere Angriffe zu ertragen: „Diktator“ wurde er genannt, der „Bau-Mussolini“, „Lenin“, der „Plan-Athlet“. Bewunderung schwang da mit, Kritik selbstverständlich auch, bis zur persönlichen Denunziation. Aber er schaffte es – als einer von nur drei Architekten überhaupt – mit der Schlagzeile „Der Bürger braucht die Nachbarsfrau“ im Jahr 1955 auf das Titelblatt des Spiegel. Und obwohl er nicht zu den Helden der klassischen Moderne zählt, hat der stets sozial engagierte May mit seinen diversen Teams auf drei Kontinenten so viele Wohnungen geplant wie kaum ein zweiter Architekt und Stadtplaner im 20. Jahrhundert.
Die Schau, die das Deutsche Architekturmuseum dem ehemaligen Frankfurter Stadtrat anlässlich der 125. Wiederkehr seines Geburtstags widmet, ist bereits die dritte Ernst-May-Ausstellung im Hause. Die erste präsentierte 1986 „Das Neue Frankfurt“, jene von 1925 bis 1930 dauernde Ära, in der unter Mays Verantwortung nicht nur über 10.000 Wohnungen rund um die Frankfurter Kernstadt entstanden, sondern auch Schulen und Kindergärten, öffentliche Grünzüge und eine Reihe von repräsentativen Gebäuden. In einer zweiten Ausstellung thematisierte das DAM 2001 Ernst Mays Werk im ostafrikanischen Exil von 1933 bis 1954. Das Besondere an der aktuellen Ausstellung ist, dass sie erstmals eine Gesamtschau bietet und damit auch einen Blick auf bis dato unbekanntes Schaffen in Mays Œuvre.
Ein Publicity-Profi
Etwa auf die Anfänge: Mit seinem Partner Clemens Musch bezog May 1913 ein Büro im barocken Holzhausen-Schlösschen im Frankfurter Nordend und baute gleich nebenan eine Gruppe aus vier Villen in einer Mischung aus Klassizismus und Jugendstil und 1915 ein palastähnliches Arbeiterinnenheim im Frankfurter Ostend; während des Ersten Weltkriegs legte der zum Leutnant beförderte May in Rumänien eine ganze Reihe von Kriegerfriedhöfen an.
Was bereits begonnen hatte, als er freier Planer in Frankfurt war, sollte sich während seiner Soldatenzeit weiter ausprägen: Ernst May suchte Zeit seines Lebens öffentliche Beachtung und Publizität. 1911, gerade von seinem zweiten Englandaufenthalt zurückgekehrt, veröffentlichte er in einem Berliner Verlag 80 Tafeln mit „Architekturskizzen aus England“. 1914 gab er die „Architektur-Blätter“ heraus, die erste Ausgabe galt seiner Heimatstadt. 1915 schrieb er eine Reportage für „Das illustrierte Blatt“ über das „Kirchenwesen in Westfrankreich“. Wie in der ein Jahr später publizierten Reportage über „Das zerstörte Lille“ oder in den Berichten zum Thema „Friedhöfe in Russisch-Polen“ zeigte er dabei – im Gegensatz zur offiziellen Propaganda – großen Respekt vor der Baukultur anderer Länder. Und May schickte Fotos und Zeichnungen von Kriegsgräbern an die preußischen Behörden in Berlin, wodurch man im Kriegsministerium auf ihn aufmerksam wurde.
So berief man ihn im Februar 1919 zum Leiter der Bauabteilung des „Schlesischen Heims“. Es ist diese bisher kaum beachtete Periode in Mays sprunghafter Karriere, in der er all das probierte, was ihm später in Frankfurt zu durchschlagendem Erfolg verhalf: Um der gewaltigen Wohnungsnot Herr zu werden, entwarf er Typenhäuser im Heimatschutzstil und „Angersiedlungen“, deren Grundlage ein bescheidenes Haus mit Gartenland zur Selbstversorgung war.
Frankfurt – Moskau – Nairobi – Hamburg
Einige Details wie beispielsweise Übereck-Verglasungen, das überstehende Betondach für den Hauseingang oder eben den Garten zur Selbstversorgung findet man kurz darauf in den Frankfurter Siedlungen wieder. Oberbürgermeister Ludwig Landmann stattete May mit einer Machtfülle aus, die vor und nach ihm kein Stadtrat wieder erlangte: May war nicht nur Leiter des Hochbauamtes, sondern auch Chef der Stadt- und Regionalplanung, des Siedlungsamtes, des Garten- und Friedhofswesens, der Grundbesitzverwaltung, der Typisierungsabteilung, der Bauberatung, der Baupolizei und indirekt Boss zweier städtischer Wohnungsbaugesellschaften. Die DAM-Ausstellung widmet der Frankfurter Periode das gesamte erste Obergeschoss, wo auf den Besucher auch ein mehrere Meter großes Stadtmodell und eine begehbare Frankfurter Küche warten.
Wohltuend ist, dass das DAM keine Heldenverehrung betreibt. Kritisierbare Punkte im Œuvre von  Enrst May werden ebenso dargestellt wie sein eher schwieriger, doch auch immer anpassungsfähiger Charakter. 1930 als Leiter des russischen Wohnungsbaus in die Sowjetunion berufen, als Chef einer 800 Mann starken Behörde, die die Planung von über einer Million Wohnungen in den neu geschaffenen Industriestädten verantwortet, schreibt May einen Brief an den Generalsekretär der KP der UdSSR, den Genossen Stalin. Er bittet untertänigst um eine Au­dienz, in der er dem Sowjetführer „den Stand der modernen Städtebauwissenschaft“ erklären möchte. Doch Stalin gibt May keine Chance. Der verabschiedet sich bereits 1933 wieder – doch er geht nicht in die Heimat, wo Göbbels gegen ihn hetzt, sondern gönnt sich eine Auszeit als Farmer in Ostafrika.
Nach Deutschland kommt er erst 1954 zurück, als Planungschef der Neuen Heimat. Auch sein dortiges Engagement währt nur kurz, 1956 arbeitet er bereits wieder als freier Architekt und das höchst erfolgreich. May plant die Neue Vahr in Bremen, Neu-Altona in Hamburg, die Siedlung Heidberg-Ost in Braunschweig, er zeichnet Stadtentwicklungspläne für Bremerhaven, Mainz und Wiesbaden. Sein letztes, zugleich schwächstes Projekt ist Kranichstein im Norden Darmstadts. Bis in eine Höhe von 18 Geschossen wurden die Hochhausscheiben errichtet, der öf­fent­liche Raum und die Infrastruktur dagegen vernachlässigt. Kranichstein – fünf Tage vor seinem Tod am 11. September 1970 war May noch auf der Baustelle – zeigt die Hybris des Bauwirtschaftsfunktionalismus und ist heute sozialer Brennpunkt. Viel Material hat das DAM zusammengetragen, eine sehenswerte Ausstellung ist gelungen. Das Museum verlässt man aber durchaus nachdenklich.
Fakten
Architekten May, Ernst, (1886-1970)
aus Bauwelt 35.2011
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