Die Kartierungs-Revolution
Text: Höffken, Stefan, Kaiserslautern
Die Kartierungs-Revolution
Text: Höffken, Stefan, Kaiserslautern
Suchen, zoomen, drucken? Digitale Karten bieten längst mehr. Die Bandbreite reicht von der Anreicherung der Karten mit Zusatzinformationen, wie der Mordrate im Stadtviertel oder der nächstgelegenen Tischtennisplatte, bis zur Visualisierung von körperlichen Reaktionen auf den öffentlichen Raum.
Was im 18. Jahrhundert mit ersten Atlanten für jedermann begann, hat heute mit allgemein zugänglichen Geodaten und Satellitenbildern die höchste Dimension des demokratisierten Blicks auf die Welt erreicht: Die Erde liegt den Menschen offen vor Augen. Mittels Computer, aber zunehmend auch mobil per Smartphone, schauen wir uns täglich digitale, internetbasierte Karten an. Seit der Einführung von Kartendiensten wie Google Maps und Google Earth im Jahr 2005 haben sich diese weit verbreitet. Jedem Internetnutzer steht nun ein detailliertes kartografisches Wissen zur Verfügung, dessen Inhalte sich nach Bedarf anpassen lassen und das jeder in seinem Sinne nutzt: der Stadtplaner genauso wie der engagierte Bürger oder der Wissenschaftler, der nun demografische oder soziale Entwicklungen von Stadtquartieren visualisieren kann. Auch im Alltag orientieren sich viele bereits oft lieber an Karten auf dem Handy als an den Sehenswürdigkeiten ihrer Umgebung.
Die einfache Bedienung und die kostenlose, weltweite Verfügbarkeit über das Internet ermöglichten diesen Erfolg. Die Kombination von Geodaten und Luftbildern machen die Daten zudem für jeden verständlich, die alte Sehnsucht, die Erde besser kennenzulernen, kann nun vom Bildschirm aus befriedigt werden. Neben zweidimensionalen Karten kann der Nutzer inzwischen auch dreidimensionale Stadtmodelle und die Topografie der Landschaft befliegen, wie etwa in Google Earth und – allerdings bisher nur in 20 Städten – auch in OviMaps von Nokia. Im Gegensatz zu gedruckten Karten kann er sich dabei frei in der Karte bewegen, kann Blickwinkel, Standpunkt und Höhe ändern. Diese Interaktivität ermöglicht eine individuelle Sicht auf ein dreidimensionales digitales Abbild der Welt, das durch die Kombination von Geodaten, Luftbildern, 3D-Stadt-Modellen und Fotos aus der Fußgängerperspektive immer realistischer und genauer wird.
Angst und Aktualität in „Blurmany“
Die umfassende Erfassung und Abbildung unserer Umwelt begeistert allerdings nicht jeden, wie sich in der Diskussion um Google Street View zeigte. Durch die von Google gemachten Bilder bekamen die Menschen plötzlich Angst, die ganze Welt könne über das Internet in ihren Garten oder gar ihre Wohnung schauen. Die hierzulande hitzige Debatte um die Privatsphäre führte dazu, dass Google einen Einspruch gegen die Darstellung zuließ. So konnte jeder Bewohner die Verpixelung (auf Englisch: to blur) seines Hauses fordern – von dieser Möglichkeit wurde reger Gebrauch gemacht. Über 240.000 Anträge auf Unkenntlichmachung führten dazu, dass in Deutschland viele Häuser in Google Street View nicht sichtbar sind. Als schließlich gerichtlich festgestellt wurde, dass die digitale Abbildung der Umwelt rechtens ist, hatte die Diskussion schon eine solche Aufmerksamkeit erreicht, dass sich auch die Politik einmischte und die Befürchtungen bestärkte.
Da diese Form des Einspruchs nur in Deutschland möglich war, kreierte die internationale Blogosphäre den Namen Blurmany (die Kombination von „blur“ und „Germany“). Google zog Konsequenzen und gab im März bekannt, dass die Street View-Daten in Deutschland nicht aktualisiert werden. Nicht gerade ein Standortvorteil im Wettbewerb der Städte, könnte man meinen – was den Internet-Journalisten Marius Sixtus zu der provokanten Prognose veranlasste: „Spätestens in zwei Jahren werden Städte und Gemeinden Google Geld dafür bieten, Streetview zu aktualisieren.“ Wie der Stadtforscher Karsten M. Drohsel anmerkt, „hat die Abbildung der Realität mittlerweile die Deutungshoheit über die Realität erlangt“, denn auch während die Bilder im Netz nach und nach veralten, werden sie z.B. weiterhin von Touristen für den digitalen Erstbesuch von Städten genutzt werden – und damit deren Wahrnehmung der Stadt prägen.
Die Demokratisierung der Gottesperspektive
Technische Neuerungen sorgten immer wieder für eine Veränderung des menschlichen Blickes auf die Welt. Erlebten die Menschen vor der Industrialisierung ihre Umgebung aus der Fußgängerperspektive und in Schrittgeschwindigkeit, so verschwamm mit der zunehmenden Geschwindigkeit der Bahn für den Reisenden der Vordergrund. Die nähere Landschaft raste an einem vorbei, Details konnten nicht mehr wahrgenommen werden – der Reisende richtete seinen Blick in die Ferne. Dies erlaubte die Wahrnehmung des Ganzen – es entstand der „panoramatische Blick“ (Wolfgang Schivelbusch). Die technologische Errungenschaft der Eisenbahn prägte somit eine neue Sichtweise. Durch den doppelten Effekt der „Raumverkleinerung und der Raumerweiterung“ kam es zu einer Veränderung der räumlichen Verhältnisse. Die Verkürzung der Verkehrszeit führte zu einer Erweiterung des Verkehrsraumes, die die Städte entscheidend prägte. Fesselballon und Flugzeug veränderten die Sicht auf die Welt abermals, denn sie brachen mit dem „Monopol der Vertikalen“ (Walter Benjamin). Zu dem Horizontalblick – der vertrauten menschlichen Raumwahrnehmung – kam der Blick aus der dritten Dimension. Dies veränderte wiederum die Wahrnehmung: Je mehr man sich von der Erde entfernte, desto größer wurde die Abstraktion der Landschaft. Erst durch Fotos aus der Ferne, von wo aus die zu großen Teilen mit Wasser bedeckte Erde blau leuchtete, entstand der Begriff „des blauen Planeten“. Mit dem Blick aus dem Weltraum sah der Mensch den ehemaligen Mittelpunkt der Schöpfung als einen von vielen Planeten – nun gleichsam aus der Gottesperspektive.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Fotos waren somit in der Lage, unsere Sicht auf die Welt zu verändern. Mit der allgemeinen Anerkennung des heliozentrischen Weltbildes änderte sich nicht nur eine wissenschaftliche Theorie, sondern das Selbstverständnis der Menschen – mit Abstand sieht man manche Dinge klarer. Mit Hilfe der Karten ließen sich strukturelle Zusammenhänge erkennen, die in der Horizontalen verschlossen blieben. Dank Programmen wie Google Earth ist der Blick auf fremde Städte und Kontinente zur Selbstverständlichkeit geworden. Dies führt dazu, dass sich unser kultureller Kontext verändert. Digitale Karten und Virtuelle Globen ermöglichen es allen, aus dem Weltall den blauen Planten zu erkunden, ihn sich quasi „gottgleich“ anzueignen. Die Erde schrumpft auf die Größe des Bildschirms.
Mashups und kollaborative Daten
Der große Mehrwert digitaler Karten ist, dass in sie zusätzliche Informationen einfach eingebunden werden können, z.B. Verkehrs-, Sozial- oder geografische Daten. Mittels Programmierschnittstellen werden die Karten mit weiteren Inhalten kombiniert – sogenannte Mashups (engl. mash = mischen, zerstampfen) entstehen. Hier schlummern vielfältige Möglichkeiten, große und unübersichtliche Datensätze verständlich zu visualisieren. Anwendungen reichen von einfachen, eher pragmatischen Informationen wie der Visualisierung von Tischtennisplatten (berlin-tischtennis.de) oder Obstbäumen (mundraub.org/map) auf Google-Maps-Karten oder der Verortung von Artikeln zu einzelnen Städten auf Blogs wie urbanophil (urbanophil.net), bis zu forschungsrelevanten Datenvisualisierungen wie der des Guardian, der Daten zur sozialen Entwicklung von Quartieren grafisch aufbereitet und damit auf einen Blick sichtbar macht, wo die Armen und die Reichen in England leben (is.gd/aQWrBU).
Eine kritisch zu betrachtende Entwicklung ist hier das besonders in den USA und UK beliebte „Crimemaping“, das aufgrund von Kriminalitätsstatistiken der Polizei Verbrechensschwerpunkte visualisiert. Auf der Website der Polizei von London kann man sich z.B. unter dem Titel „Working together for a safer London“ über die Kriminalität in den Stadtteilen informieren (maps.met.police.uk). Dabei ist die Detailschärfe vielfach höher als z.B. in Deutschland. Befürworter argumentieren, dass die Veröffentlichung eine wichtige Information für die Bürger darstellt und die Verbrechungsbekämpfung unterstützt. Kritiker befürchten hingegen, dass eine Stigmatisierung von Quartieren erfolgt, die deren Abwärtstrend noch verstärkt. Zudem wirft eine ortsgenaue Darstellung Fragen in Bezug auf den Datenschutz auf.
Oft werden private Daten allerdings auch freiwillig allen zugänglich gemacht – dies ermöglicht die kollaborative Erstellung von Inhalten im Internet, das Crowdsourcing. Technische Entwicklungen unterstützen die Datenerhebung: Begannen die Menschen zunächst, ihre Fotos manuell den Ortskoordinaten zuzuweisen, erfolgt das „Geotagging“ nun mittels GPS automatisch. Nutzer können ihre Bilder auf Foto-Sharing-Webseiten wie Flickr oder Panoramio hochladen, wo diese dann in Yahoo Maps oder Google Earth integriert werden. Weil dies viele mit Begeisterung tun, finden sich auf diesen Seiten Millionen verorteter Fotos. Die Zusammenführung vieler kleiner Inhalte erzeugt damit einen neuen Inhalt. Ironischerweise werden Bilder aus Panoramio genutzt, um Streetview zu ergänzen, und so verpixelte Fassaden wieder kenntlich gemacht.
Eine besondere Form der gemeinsamen Datensammlung betreibt die Initiative OpenStreetMap. Da Geodaten vielfach kostspielig und umständlich zu erhalten sind, erstellen ihre Mitglieder, ähnlich dem Wikipedia-Prinzip, freie Geodaten. Fast täglich sind sie unterwegs und zeichnen mit GPS-Geräten beim Einkaufen, auf dem Weg zur Arbeit oder im Urlaub Straßen, Wege und Stadtmobiliar auf. Das Ziel ist eine weltweite, kostenlose Geo-Datenbank, die besonders für die Wissenschaft von Bedeutung ist. Schon heute ist diese in einigen Ballungsräumen aktueller als die kommerziellen Anbieter und kann auf Karteninformationen wie Rad- und Fußwege verweisen, die in klassischen Datensätzen nicht enthalten sind (einen direkten Vergleich zwischen Google Maps und Openstreetmap kann man sich unter sautter.com/map anschauen).
Informieren, präsentieren, analysieren
Bei jeder Bestandsaufnahme für ein Plangebiet dürfte die erste Annäherung mittlerweile via digitaler Karten erfolgen, von den Straßennamen über die Einbindung in den städtischen Raum bis zu Luftbildern und, im besten Falle, Street View. Aber auch zur Projektpräsentation lassen sich diese Tools hervorragend nutzen: Übersichtskarten können interaktiv vorgestellt werden, mittels der „Tour“-Funktion von Google Earth lässt sich ein Planungsgebiet in 3D und sämtlichen Maßstäben erläutern, und in Kombination mit dem 3D-Modellierungsprogramm SketchUp können Modelle ortsgenau eingefügt und mit bereits existierenden Umgebungsmodellen kombiniert werden. Wer alle Möglichkeiten nutzt, kann neben der klassischen Draufsicht auch Isometrien, Renderings und animierte Filme erzeugen, wie ein Beispiel zum Stadtwachstum im niederländischen Utrecht auf beeindruckende Weise zeigt (vimeo.com/3393620).
Auch im wissenschaftlichen Kontext werden die digitalen Karten verstärkt genutzt. Stadtkartografen ermöglicht die Kombination von kleinen Messgeräten, GPS-Empfängern und digitalen Karten neue Wege der Datenerhebung und -visualisierung. Projekte zur emotionalen Stadtkartierung wie „Biomapping“ von Christian Nold erfassen physiologische Daten von Probanden und verorten diese „emotionalen“ Daten im Stadtraum, zum Beispiel von Paris, San Francisco oder Greenwich (emotionmap.net). „Dank dieser Technologien haben Stadtplaner ganz neue Möglichkeiten, das subjektive Empfinden der Stadtbewohner zu erfassen. Und Karten helfen dabei, diese Daten zu visualisieren“, so Benjamin Bergner. Er arbeitet an einem Emotionalen Barriere-GIS (EmBaGIS), welches physiologische Reaktionen in Relation zu stadträumlichen Barrieren für mobilitätseingeschränkte Menschen setzt.
Daten vor Ort
Mit der zu erwartenden flächendeckenden Durchsetzung von Smartphones und dem mobilen Internet werden wir diese Dienste nicht nur vom Schreibtisch, sondern auch vor Ort nutzen. Diese ortsbezogenen Dienste (auf Englisch: Location-Based-Services, LBS) erleichtern die Kommunikation im Alltag und bringen soziale Netzwerke in den öffentlichen Raum. Mittels Apps wie Gowalla und Foursquare, die gerade in den USA der große Renner sind, kann man an den verschiedensten Orten „einchecken“, das heißt, man gibt seine Anwesenheit bekannt und wird im Gegenzug darüber informiert, wer von seinen Freunden und Bekannten in der Nähe ist. In diesem Fall ist ein spielerisches Moment, das Sammeln von Punkten und das Erwerben von Auszeichnungen (wie „Bürgermeister“ einer Location), eine wichtige Triebfeder. Doch auch Websites wie Meetup, die auf den ersten Blick einen eher pädagogischen Anspruch kommunizieren – der Slogan ist hier: „Tu etwas, lerne etwas, teile etwas, ändere etwas“–, werden weltweit immer beliebter. Die digitale Kartenanwendung hilft in diesem Fall dabei, die nächstgelegene Community zu finden und sich dort einzubringen. So wird die Technik zu einem Mittel, um „lokale Communities zu beleben“, indem Menschen mit ihren partikularen Interessen im Stadtraum zusammengeführt werden.
Bisher ist die Verknüpfung mit dem Aufenthaltsort noch nicht weit verbreitet und der „Check-In“ erfolgt manuel. Beides wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit in Zukunft ändern. Die Informationen über persönliche Aktivitäten, die heutzutage über Facebook und Microblogs wie Twitter mitgeteilt werden, werden dann durch Ortsangaben ergänzt, die das Handy automatisch weitergibt – ein soziales Netzwerk entsteht, welches dem Lokalen eine höhere Bedeutung zukommen lässt. Denn trotz – oder gerade wegen – der prinzipiellen räumlichen und zeitlichen Unabhängigkeit im Zeitalter der digitalen Vernetzung gewinnen räumliche und zeitliche Nähe an Bedeutung.
Die nach dem Crowdsourcing Prinzip gesammelten Daten können aber auch eine wichtige Informationsquelle für die Verwaltung sein. Auf der Website City Sourced z.B. können Bürger Vandalismus und ausgefallene Straßenlaternen mittels einer App auf ihrem Smartphone melden oder Hinweise zu Qualität des Stadtraums und ökologischen Aspekten geben (citysourced.com). Ganz ähnlich arbeitet die iPhone App „Nexthamburg mobile“. Auch hier können Bürger Ideen, Lob und Kritik direkt vor Ort loswerden. Unter dem Titel „Oase der Lebensqualität“ lobt z.B. ein Bürger den „Platz an der Bäckerstraße“, welcher „ein wahrer Lichtblick in der Betonwüste der Innenstadt“ sei; der Kommentar und ein mit dem Handy gemachtes Foto sind direkt per GPS auf der Übersichtskarte verortet. „Da man auf der Karte die Ideen von anderen sehen kann, hat man nicht das Gefühl allein zu sein, sondern ist Teil einer Gruppe“, sagen die beiden Entwickler Peter Fey und Stephan Landau. Langfristiges Ziel solcher Seiten ist es, Informationen für planerische Prozesse in den Verwaltungsalltag zu integrieren.
Zwar sind aktuell die Teilnehmerzahlen solcher Projekte noch gering, und auch die prozessuale und inhaltliche Einbindung in Planungen steht erst am Anfang. Aber technische Entwicklungen und steigende Verbreitungszahlen lassen darauf schließen, dass hier neue Werkzeuge und Methoden im Entstehen sind, die in nicht so ferner Zukunft allgemeiner Standard sein werden. Mit diesen Webmapping-Technologien, der Demokratisierung der „Gottesperspektive“ und der daraus resultierenden Anwendungen verändert sich unser Blick auf die Welt, deren Perzeption und unsere Bewegungen in unserer Umwelt. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen der realen und der virtuellen Welt immer mehr: Die digitale Welt ist längst fester Bestandteil unseres Lebens geworden.
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