Bauwelt

Die Suche nach Urbanität

Text: Wilhelm, Karin, Berlin

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Stadtarchiv Hannover, Nachlass Rudolf Hillebrecht

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Stadtarchiv Hannover, Nachlass Rudolf Hillebrecht


Die Suche nach Urbanität

Text: Wilhelm, Karin, Berlin

Der Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht, einer der wichtigsten Protagonisten des bundesrepublikanischen
Wiederaufbaus, reist 1962 mit einer Gruppe von Studierenden durch Israel. In der Stadtplanung des jungen
Staates erkennt er ein neues Gesellschaftsmodell und erliegt einem alten Irrtum: Das Land war und ist nicht leer.
In den Debatten zur Entwicklung der wieder aufzubauenden Städte in der Bundesrepublik Deutschland hat seit den späten 50er Jahren der in Basel ansässige Wirtschaftsprofessor Edgar Salin eine außergewöhnlich interessante und einflussreiche Rolle gespielt. Sein Einfluss verdankte sich vor allem einem Vortrag, den der 68-Jährige auf Einladung des Vorstandes des Deutschen Städtetages 1960 in Augsburg zum Generalthema „Erneuerung unserer Städte“ gehalten hatte. Unter dem kurzen und knappen Titel „Urbanität“ sprach Salin damals über Formen der stadtbürgerlichen Existenz, über die im Wiederaufbau des mental zerrütteten, kriegszerstörten Deutschland, wie er meinte, zu selten nachgedacht worden war. Der im Umfeld der Heidelberger Gelehrtenszene (Alfred und Max Weber) ausgebildete Salin konfrontierte seine Hörer mit einem bildungsbürgerlich geprägten Urbanitätsbegriff. Dieser lehnte sich an das antike Polis-Ideal an und beschrieb eine gerechte Gesellschaft toleranter, am Gemeinschaftssinn orientierter Stadtbürger. Von einer Stadtbürgergemeinschaft dieser Art, so lautete seine ernüchternde Botschaft, sei man in der Bundes­republik Deutschland weit entfernt. Salin, der einer Frankfurter jüdischen Familie entstammte, hatte allerdings schon eine neue Form „humanistischer Urbanität“ kennengelernt. Er war ihr bereits zwei Jahre vor seinem Augsburger Plädoyer für eine Stadt des Gemeinsinns im Aufbauprojekt des Staates Israel und seiner so zahlreich aus dem Boden sprießenden neuen Städte begegnet.
Von diesen Projekten hat Salin dem gleichfalls in Augsburg vortragenden Hannoveraner Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht (1910–1999) berichtet. Hillebrecht suchte zu jenem Zeitpunkt nach Stadtentwicklungsmodellen, die weder kleinstädtischen Gartenstadtcharakter haben sollten noch als Trabantensiedlungen jene „Entballungsprozesse“ in Gang setzten, die er vor allem mit den Fehlentwicklungen der englischen New Towns und den „formalistischen“ Neugründungen in Brasilia und Chandigarh verband.  Dass die Stadt der Zukunft jedoch anders aufzubauen sein würde als man sie bislang kannte, schloss Hillebrecht aus der Tatsache, dass sich die Industriegesellschaft soeben grundlegend zu verändern begann. Er forderte 1960 einen „neuen Stadttypus“ zu entwickeln, in dem die Urbanität im kommunalen „Selbstverwaltungsprinzip“ gewährleistet sein würde. Dass sich die im NS-Staat geschulte Planungstechnokratie Rudolf Hillebrechts inzwischen neu orientierte und in Anlehnung an europäische Modelle in der Übernahme der Nachbarschaftsidee gleichsam vom Biologismus der NS-Siedlungszellenideologie zu befreien suchte, musste seinen Blick auf die neuesten Tendenzen im israelischen Städtebau lenken.
Rudolf Hillebrecht kam erstmals im Februar/März 1962 mit „Studentinnen und Studenten der Architektur an der T.H. Hannover“ nach Israel. Der neu gegründete Staat hatte große Flüchtlings- und Einwanderungsströme zu bewältigen, mithin Wohnungs- und Aufbauleistungen zu vollbringen, die in ihrer Komplexität einmalig waren. Die Reise der kleinen Hannoveraner Gruppe begann am Tag der großen Sturmflut von Hamburg (16./17. Februar 1962). Mit einer El-Al Maschine flog man von München aus „in das heilige Land, das ersehnte Ziel für Kreuzfahrer und Pilgergenerationen.“ Auf den abendländisch geprägten Wegen durchquerte die Gruppe das kleine Land mit erstaunten Blicken für antike Ruinen und zeigte sich fasziniert von orientalischen Einflüssen, die sich im neu formierenden multikulturellen, jüdischen Staat so zahlreich erhalten hatten. Hillebrecht hielt die Vielfalt dieser Spuren in zahlreichen Dias fest. Das Interesse der studentischen Reisegruppe war aber vor allem „politischer“ Natur. Hillebrecht betonte dieses Faktum in einem später gehaltenen Vortrag mehrfach: „Für mich galt das gleiche, und ich möchte hinzufügen, daß von den vielen Reisen, die ich in den letzten Jahren machen konnte, die Reise nach Israel nicht zuletzt aus diesem politischen Grunde für mich die reichste an Erlebnissen (...) war, daß dazu in fachlicher Hinsicht das Gesehene in meinen Au­gen Spitzenleistungen darstellt, die kaum woanders heute in solcher Vollendung anzutreffen sind.“ Das Faszinosum Israel formte sich für Hillebrecht und vor allem für die ihn begleitenden Studentinnen und Studenten im Erleben der Kibbuzgemeinschaft, die als Genossenschaftsidee rezipiert und deren selbstlose Arbeitsmoral sowie deren Verzicht auf Privateigentum als ungemein leistungsfähig wahrgenommen wurde. Wie Salin schwärmten die bundesdeutschen Besucher vom idealisierten Gemeinschaftsgeist. Er war im Begriff der Urbanität skizziert worden und konnte dazu (ver)führen, die Widersprüche dieser Einwanderungsgesellschaft auszublenden. Vor allem die Politik des „leeren Raumes“, die die Planungswerkstatt Israel gegenüber den in Palästina ansässigen Arabern und Beduinen verfolgte, musste aus der Sicht der jungen Deutschen tabuisiert werden. Entsprechend betrachtete man die Gründung der neuen Städte als ein zukunftsweisendes Sozialisationsprojekt des Friedens, das nicht nur als Gesellschaftsmodell den dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu of­­ferieren schien. Hillebrecht, vom Sprachduktus der Ostkolo­nisierungsmodelle des „Dritten Reiches“ geprägt,  hat diesen Weg als jüdische „Binnenkolonisation“ einer zum großen Teil lebensfeindlichen Landschaft beschrieben, die in drei Schritten erfolgt sei: in der „‚Eroberung‘ des Landes mit dem Spaten (...), durch eine (...) Industrialisierung des Landes unter Erschließung von Bodenschätzen (...) und in Verbindung hiermit durch ein Ansässigmachen der Einwanderer in neuen Städten und drittens durch eine Wehrmacht, die die friedliche ‚Eroberung‘ mit der Waffe sichert und gleichzeitig zu einem Schmelztiegel der aus so unterschiedlichen Lebens- und Sprachkreisen stammenden Bevölkerung, hier der Jugend, wurde.“
Beispielhaft für dieses Modell steht die Entwicklung der am Rande der Wüste Negev gelegenen Stadt Beer Sheva. Nach der Staatsgründung 1948 war die Stadt zunächst nach Mustern einer organisch durchgrünten Siedlungsstruktur entstanden. Diese „gartenstädtische Dezentralisierung“ zeitigte schnell sowohl klimatische als auch soziologische Defizite, die bald durch Verdichtungskonzepte korrigiert wurden. Hillebrecht empfand diese Neuorientierung und die Abkehr vom Gartenstadtideal als „unerhört lehrreich“, vor allem deshalb, weil die Stadt jetzt im Rahmen einer Landesplanung nach Maßstäben des „economical planning“ wuchs. Ein koordiniertes Planungs­instrumentarium dieser Art wünschte sich Hillebrecht für seine eigene Arbeit, um die pragmatischen Voraussetzungen für ein Modell zu institutionalisieren, das er soeben im Leitbild der „Regionalstadt“ für den Raum der Landeshauptstadt Niedersachsens durchsetzte. Gemeinsam mit Edgar Salin hat Hillebrecht seine Erfahrungen mit der israelischen Planungspolitik später weiter verfolgt, deren Einfluss sich noch im neuen Städtebauförderungsgesetz von 1971 niedergeschlagen hat.
Fakten
Architekten Hillebrecht, Rudolf (1910–1999)
aus Bauwelt 4.2012
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