Futurismus-Retrospektive
Sprachen des Futurismus
Text: Spix, Sebastian, Berlin
Futurismus-Retrospektive
Sprachen des Futurismus
Text: Spix, Sebastian, Berlin
„Eisen, Glas, Karton, Textilfaser und alle Ersatzstoffe für Holz, für Stein und für Ziegel, wodurch ein Höchstmaß an Elastizität und Leichtigkeit möglich wird. Architektur aus dem Rechner, voller kühner Ausgriffe und geprägt von Einfachheit“, so tönt es verheißungsvoll in dem 1914 von dem italienischen Architekten Antonio Sant’Elia (1988–1916) mitunterzeichneten Postulat Die futuristische Architektur.
Fast könnte man meinen, die Verfasser hätten die heutige Fülle an geknickten, gefalteten und gebogenen Bauten und die mit bunten Texturen versehenen Renderings vorausgeahnt. Noch im gleichen Jahr folgt die Ausstellung von La Città Nuava, einer Serie von Zeichen mit Entwürfen der Architektengruppe Nuova Tendenze für eine neue Verkehrs- und Stadtplanung in Mailand: Der Geist einer radikalen Modernisierung hält in Italien Einzug, strahlt international aus und beeinflusst Zeitgenossen wie El Lissitzky und Le Corbusier.
Fünf Jahre zuvor, am 20. Februar 1909, hatte die Pariser Zeitung Le Figaro das von dem Schriftsteller Fillippo Tommaso Marinetti verfasste Manifesto Futura abgedruckt. In elf provokanten Thesen forderte er einen radikalen Bruch „mit den als veraltet empfundenen Traditionen, um den Anforderungen des modernen (technisierten und dynamisierten) Lebens gerecht“ zu werden, und begründete damit die Kunstrichtung des Futurismus. Anlässlich des 100. Jahrestags von Marinettis provokanter Publikation zeigen die Berliner Festspiele zusammen mit dem Museo d’Arte Moderna di Trento e Rovereto (MART) – das Museum beherbergt das weltweit größte Futuristen-Archiv – im Berliner Martin-Gropius- Bau die Ausstellung „Sprachen des Futurismus“. Das Manifest selbst taucht in der Schau, die sich in die Themen Literatur, Malerei, Musik, Skulptur, Theater und Fotografie gliedert, in Form von großformati gen Zitaten und Parolen an den Wänden auf.
Die literarische und ästhetische Experimentierfreudigkeit aus der Anfangsphase der Avantgardisten dokumentieren einige in schmalen Vitrinen ausliegende Typografiestudien: Die Schrift des Textblatts Architettura Publicitaria ist nicht nach herkömmlicher Art in den Grenzen eines Rechteckblocks, sondern in Form des Buchstabens „A“ gesetzt; der Text von La Macchina e Lo Stile D’Acciaio hingegen scheint sich wie eine Grammophonplatte im Kreis zu drehen. Luigi Russolos Installation Geräuschtöner, deren hölzerne Klangtrichter urbanes Rauschen, Dröhnen und Jaulen in die angrenzenden Schauräume tragen, begleitet den Besucher zu Fotocollagen von Fortunato Depero: Herden von Autos oder Auf Entdeckungsreise in New York veranschaulichen die Faszination des Künstlers für die Industrialisierung à la USA. Mit den schwarzen Pfeilen, die er auf Brooklyner Hochbahntrassen, Autofuhrparks und Wolkenkratzer deuten lässt, scheint Depero unmissverständlich klarmachen zu wollen, woran es sich künftig zu orientieren gilt.
Am Schluss der Ausstellung lenken die Kuratoren den Fokus auf die Beziehung der Futuristen zu Berlin. Hier erfährt man, dass sie in der Galerie „Der Sturm“ des Verlegers Herwarth Walden 1912 und 1913 erstmals ihre Werke in Deutschland ausstellten und mit hiesigen Künstlern wie Wassily Kandinsky und Alfred Döblin in Kontakt kamen. Leider beleuchtet erst der Katalog in nötiger Breite die fatale Kooperation der Futuristen mit den italienischen Faschisten und ihren bereits 1909 im Manifest formulierten Irrglauben, mithilfe eines Krieges eine neue kulturelle Identität stiften zu können. In der Ausstellung lässt zumindest Tullio Cralis Gemälde Sich in das Wohngebiet einschneiden aus dem Jahr 1939 diese dramatische Verblendung erahnen: Als Betrachter scheint man unmittelbar hinter dem lederbemützten Bomberpiloten zu sitzen und gemeinsam mit ihm in die Hochhausschluchten eines fiktiven Manhattan zu stürzen.
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