Kulturhauptstadt 2013 – Blendwerk oder Motor?
Text: Hofmann, Franck, Nantes/Berlin
Kulturhauptstadt 2013 – Blendwerk oder Motor?
Text: Hofmann, Franck, Nantes/Berlin
Die Bauten, Ausstellungen und Aktionen zur Europäischen Kulturhauptstadt wirken merkwürdig entrückt. Marseille, das Tor zum Mittelmeerraum, bleibt wie es ist, laut und lebendig – und entlang des Hafens seit vielen Jahren eine Baustelle. Es ist zu hoffen, dass hier ein Quartier entsteht, das der sozialen und kulturellen Vielschichtigkeit von Marseille Raum bietet.
„Marseille, ein blendendes Amphitheater, baut sich um das Rechteck des Alten Hafens auf. Den meergepflasterten Platz, der mit seiner Tiefe in die Stadt einschneidet, säumen auf den drei Uferseiten Fassadenbänder gleichförmig ein. In ihre glatte Helle bricht, dem Eingang der Bai gegenüber, die Canebière, die Straße der Straßen, die den Hafen bis zum Stadtinneren weiterträgt. Sie nicht allein verbindet die hochschwingenden Terrassen mit dem Platzungeheuer, aus dessen Grund wie Wasserbüschel einer Springfontäne die Quartiere steigen. (…) Die Stadt hält ihre Fangnetze geöffnet. Eingeholt wird die Beute in den neuen Hafenbassins, die im Verein mit der Küste eine mächtige Wurflinie beschreiben. Ankunft und Abfahrt der Überseedampfer sind die Pole des Lebens, den Verschwindenden glüht es.“ Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, Suhrkamp, 1977
Es gibt Städte, deren Namen haben einen mythischen Klang. Marseille gehört zu ihnen. Die Kraft dieses Nachhalls einer in Worten und Räumen verdichteten Geschichte wird etwa in Jean-Luc Godards Film „À bout de souffle“ deutlich, der mit einer kurzen Szene am Vieux Port eröffnet: Ein Auto wird gestohlen, und Michels atemlose Flucht beginnt, die ihn aus dem Süden nach Paris führen wird. Nur zweimal ist noch von der Stadt am Mittelmeer die Rede. Und doch ist Marseille in diesem Schlüsselwerk der „Nouvelle Vague“ fortwährend präsent, als verborgene Referenz auf eine Vitalität, die bürgerliche Konventionen sprengt.
Die Hafenstadt hatte bereits in den zwanziger Jahren den Ruf, das Chicago Europas zu sein. In Marseille verbanden sich die früh internationalisierte Welt der Docks mit der Faszination für das Verbrechen, die Phantasmen erotischer Obsession mit denen rauschhaften Lebens. Gerade wegen dieser Mischung war Marseille Sehnsuchtsort der künstlerischen Avant- garde. Das symbolische Kapital, von dem die Stadt bis heute zehrt, wurde nicht zuletzt in Werken der bildenden Kunst, im Film und in der Literatur angehäuft. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war Marseille auch ein Laboratorium der modernen Architektur und des Städtebaus.
Kann die Europäische Kulturhauptstadt 2013 an diese Tradition anknüpfen? Am Beginn stand eine überzeugende Konzeption, in der die Notwendigkeit formuliert wurde, die Stadt fundamental kulturell zu erneuern. Es geht zudem um die Neubestimmung ihrer Position in Europa und um das Verhältnis Europas zum Mittelmeerraum. In Marseille agiert man dabei im Spannungsfeld lokaler Konkurrenzen und politischer Händel – im permanenten Konflikt zwischen Kunstanspruch und Stadtmarketing. Und so ist heute noch nicht auszumachen, ob die Kulturhauptstadt im Strohfeuer der Spektakelkultur schnell wieder verglüht oder ob Marseille gelingen kann, was Lille im Jahr 2004 gelang: den Titel Kulturhauptstadt zum Motor einer Entwicklung zu machen, in der eine Stadt sich neu entdeckt.
Leuchttürme
Eines allerdings ist heute schon klar: Die Gelder, die Marseille mobilisieren konnte – 660 Millionen Euro für eine neue kulturelle Infrastruktur – haben das Stadtbild nachhaltig verändert: Die Anbindung an das Meer wurde nach dem Vorbild Barcelonas weiter vorangetrieben. Durch den Umbau der 1927 errichteten Arenc-Silos am Hafen und den weiteren Ausbau der Friche de Belle de Mai – einer ehemaligen Tabakmanufaktur – gewann die kulturelle Nutzung des Erbes der Industriekultur eine neue Dimension. Leuchtturm-Projekte wie die Ausstellungs-Neubauten des „Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée“ MuCEM, der „Villa Méditerranée“ und der „Fonds Régional d’Art Contemporain“ FRAC (Bauwelt 25) bekamen ihre von Stararchitekten entworfenen Hüllen. Die Gebäude von Rudy Ricciotti, Stefano Boeri und Kengo Kuma stehen als Solitäre in einem historisch aufgeladenen, komplexen Kontext der aktuellen Stadtentwicklung. Mit ihnen verdichten sich die Fragen nach dem Verhältnis Marseilles zum Mittelmeer und nach der Ordnung der Stadt, die zwar eine starke regionale Identität kultiviert, doch noch immer ein neues Selbstbild sucht, das ihrer sozialen und kulturellen Vielschichtigkeit gerecht wird.
Die Architekten hatten sich dieser Herausforderung zu stellen und mussten sich zugleich an einer prominenten Tradition des Bauens in Marseille messen lassen: Gaston Castel, Le Corbusier und vor allem Fernand Pouillon, der dem im Krieg zerstörten Rand des Vieux Port ein neues Gesicht gab, erträumten Marseille als eine „Kapitale des Südens“ – bevor die Entkolonialisierung Asiens, der Algerienkrieg 1954–62 und die Werftenkrise der siebziger Jahre diese, mit kolonialem Machtbewusstsein gepaarten Planungsphantasien zerplatzen ließen. Was blieb, war ein Zerrbild, das sich der reiche Norden Europas von den Städten des Südens macht: Drogenkrieg und Migrationsprobleme, Mafiawirtschaft und Pastis-Seligkeit. Ein Amalgam, das auch städtebaulich seinen Ausdruck findet, in der sozialen Spaltung der Stadt in das nur noch als Notstandsgebiet wahrgenommene Quartier Nord, die vom Bürgertum weitgehend aufgegebene Innenstadt und die schicken südlichen Stadtviertel am Prado-Strand.
Verdrängung
In den letzten Jahren waren die Anstrengungen zur urbanen Erneuerung Marseilles auf die Areale zwischen Rue de la République und Place de la Joliette konzentriert. Um den Preis einer forcierten Gentrifizierung entstand unter dem Titel Euroméditerranée ein neues Viertel, von dem man sich insbesondere ökonomische Impulse erhoffte. Nun rückt der Alte Hafen wieder in das Zentrum der Stadtplanung und damit ein Ort, an dem sich das Bild von Marseille seit jeher symbolisch verdichtete, der jedoch in den letzten Jahrzehnten an Lesbarkeit und Prägkraft verloren hatte. Heute vor allem ein Sportboothafen, ist der Faszination der Avantgarde für das maritime Leben nur noch literarisch nachzuspüren. Doch noch immer ist der Vieux Port ein beeindruckender Stadtraum, ein „Platzungeheuer“, das nicht nur Siegfried Kracauer faszinierte. Der Pont Transbordeur, eine 1905 errichtete Schwebebrücke avancierte schnell zur Ikone der modernen Fotografie: Lázsló Moholy-Nagy, Germaine Krull, Man Ray, Herbert Bayer, Florence Henri u.a. machten ihn zum Studienobjekt des „Neuen Sehens“, das sie an der offenen Konstruktion und am Graphismus der Stahlträger schulten: „Ihre Interaktion mit der Stadt ist weder ‚räumlich‘ noch ‚plastisch‘. Es entstehen schwebende Beziehungen und räumliche Durchdringungen. Die Grenzen der Architektur lösen sich auf“, beschrieb Sigfried Giedion die Brücke, und setzte ihre Abbildung auf den Einband seiner 1928 erschienenen Studie „Bauen in Frankreich. Bauen in Ei-sen. Bauen in Eisenbeton“. Eine Wahl, die die Prominenz des 1944 von der Deutschen Wehrmacht gesprengten Bauwerks für die ästhetische Theorie unterstreicht.
Es mag sein, dass dem Vieux Port eine ähnliche Karriere bevorsteht. Seine eben abgeschlossene Renovierung gibt allen Anlass, dies zu hoffen. Sie zeichnet sich durch die Konzentration auf wenige Materialien aus: Eine massive Pflasterung mit hellgrauem Granit betont die Freiflächen am Hafen und rahmt die Wasserfläche. Der Landschaftsplaner Michel Desvigne – er erhielt für sein Werk 2012 den „Grand Prix de l’Urbanisme“ – wollte mit seinem Entwurf die vom Autoverkehr weitgehend entlasteten Quais wieder zu Orten urbanen Lebens werden lassen und deren symbolisches Potenzial stärken.
Foster
Strukturiert wird der immense, zum Wasser nun wieder geöffnete Raum durch hohe, mit einer reflektierenden „Rinde“ überzogene Masten – sie dienen der von Yann Kersalé als „Geo-Poetik“ konzipierten Beleuchtung bei Nacht – und durch eine von Norman Foster entworfene „Ombrière“ an der Quai de la Fraternité (Foto rechts). Acht schlanke Säulen tragen ein 46 x 22 Meter messendes Dach aus poliertem Stahl, das nicht nur eine Zone auf dem Granitpflaster beschattet, sondern auch ein schwebendes Bild gleichsam vor den Himmel zeichnet: Eine Spiegelung des Hafens und seiner Menschen. Sie thematisiert zugleich Motive und Architektur, die mit der Geschichte des Vieux Port eng verbunden sind. Giedions Charakterisierung der „Pont Transbordeur“ – sie würde die Grenzen der Archi-tektur auflösen – kann heute auch mit Blick auf dieses Schattendach gelesen werden. Die „Ombrière“, die abzubilden nicht mehr das Medium der Fotografie braucht, weil die eigene Konstruktion das Abbild mitliefert, steht in einer direkten Linie mit der ästhetischen Tradition, die von den Akteuren des Neuen Sehens und Bauens auch in Marseille gepflegt wurde.
Doch Marseille verdankt Desvigne und Foster nicht nur die Neuordnung des Hafenbeckens. Ihrem Masterplan liegt eine im großen Maßstab entwickelte, geografische Vision Marseilles zugrunde, einer Metropole, in der wie in kaum einer anderen landschaftliche Elemente in den urbanen Raum eingreifen, der sich zwischen der Küstenlinie der Bucht, den karstigen Hängen des Massif de l’Etoile und den Calanques erstreckt. Beim Vieux Port sollen Stein und Wasser, Licht und Vegetation zusammenspielen. Desvigne, der Stadtplanung als einen Prozess der Aneignung begreift – und urbanen Raum und Landschaft als hybride Konfiguration –, ergänzt das Becken durch eine 20 Hektar große „Chaîn des Parcs“, die von dessen südlichen Rand über das Fort Saint-Nicolas und den Palais du Pharo bis zur Anse de Catalans reichen wird. In einem bis 2020 zu realisierenden zweiten Bauabschnitt werden bereits existierende Parks und Grünzonen mit derzeit noch nicht oder schwer zugänglichen Brachflächen verknüpft. Sie sollen eine Uferzone ausbilden, eine neue „maritime Fassade“, die eine Beziehung zum Stadtzentrum aufnimmt.
Keine Marina!
Doch ebenso wichtig wie diese weitere Öffnung Marseilles zum Meer und die Neuordnung der Zentrumsfunktion des Vieux Port für die umliegenden Stadtviertel, ist die Verbindung der verschiedenen Quartiere der Stadt untereinander. Der Architekt Matthieu Poitevin fordert: „Man hätte Verknüpfungen zwischen der Friche de Belle de Mai und den anderen Knotenpunkten der Stadt realisieren müssen! Nicht dieses absurde Stadtentwicklungsprojekt Euroméditerranée, das keine wirklichen Straßen kennt. Marseille ist ein chaotischer Hafen, eine Matrix in Bewegung, keine Marina.“ Poitevin zeichnet mit Pascal Reynaud für den Ausbau des Kunstzentrums verantwortlich, das seit zwanzig Jahren auch eine spezifische Idee des urbanen Lebens entwickelt. „Die Idee einer Stadt, die man“, wie Philippe Foulquié, der Gründungsdirektor der Friche betont, „jeden Tag neu erfindet: als eine Praxis.“
Einer Architektur, die Grundmomente der kulturellen Identität der Stadt verdichtet kommt hierbei große Bedeutung zu. Doch die Erneuerung eines emblematischen Ortes der Stadtgeschichte und der Bau neuer Museen reichen sicherlich nicht aus, um Marseille wieder zu dem werden zu lassen, was es bereits einmal war: ein Laboratorium der Moderne, in dem die ungebrochene Vitalität der Stadt sich mit dem Wissen der Künste verbindet.
Nötig hierfür wäre eine umfassende Aneignung des ur-banen Raums und eine Kulturpolitik in allen Quartieren der Stadt, in denen Menschen sich mit ihrer Lebenswelt in Beziehung setzen. Und nicht zuletzt müsste sich die Stadt wirklich zur „mittelmeerischen Welt“ zuwenden, die Teil ihrer eigenen Geschichte und Gegenwart ist: Nicht als kolonisierende Kapitale des Südens, auch nicht als Zentrum von Euroméditerranée, kann Marseille über 2013 hinaus zu einer wirklichen europäischen Kulturhauptstadt werden, sondern als Knotenpunkt eines transmediterranen Denkens, indem Europa in den Zivilisationen des Maghreb sein „anderes Kap“ (Jaques Derrida) erkennt und gestaltet; an seinen Rändern und Peripherien, an den Bruchstellen seiner intellektuellen Traditionen und den vernarbenden Wunden seiner konfliktreichen Geschichte. Dies alles lässt sich kaum sonst so aufspüren, wie im Herzen einer Stadt, in der, so der Fotograf Olivier Amsellem, „selbst das Nichts bereits ein Experimentierfeld ist“ – in Marseille.
0 Kommentare