Raus aus der Demografie-Falle
Europan 12 und Regionale 2016: Eine Zukunft für Einfamilienhausgebiete
Text: Hoetzel, Dagmar, Berlin
Raus aus der Demografie-Falle
Europan 12 und Regionale 2016: Eine Zukunft für Einfamilienhausgebiete
Text: Hoetzel, Dagmar, Berlin
Der westdeutschen Einfamilienhaussiedlung drohen Überalterung und Leerstand. Wird das Kleinfamilienidyll zum städtebaulichen Brennpunkt der Zukunft? Die Regionale 2016 will es gar nicht so weit kommen lassen: Sie bat die Teilnehmer von Europan 12 an drei Standorten im Münsterland schon jetzt um Lösungen für Probleme, die sich erst abzeichnen
Jedes dritte Wohnhaus, das zwischen 1949 und 1978 in Westdeutschland erbaut wurde, ist ein Ein- oder Zweifamilienhaus; jede fünfte Wohnung befindet sich in einem Einfamilienhaus. Wie Jahresringe haben sich die Siedlungen um die Innenstädte gelegt. Sie sind das materialisierte Gedächtnis einer Zeit, in der fossile Energie unerschöpflich schien und das klassische Familienbild vorherrschte – verbunden mit der Vorstellung, eines der Kinder werde das Haus einmal übernehmen und die Eltern dort betreuen. Doch dieses Modell ist ein Auslaufmodell. Längst ist es nicht mehr selbstverständlich, dass die Nachkommen ihre Zukunft am Ort der Herkunft sehen. Und neben dem tradierten Bild von Vater, Mutter, Kind und Kind gibt es andere akzeptierte Formen. Was aber tun, wenn die Kinder das Haus nicht weiterführen, das Haus jedoch – gemeinsam mit den Bewohnern – in die Jahre gekommen ist und Investitionen über die normale Instandhaltung hinaus notwendig werden, beispielsweise in energetische Sanierung oder Umbauten zur Barrierefreiheit?
Längst ist das keine individuelle Frage mehr, sie betrifft ganze Siedlungen. Wegen des Generationenwechsels werden die Verkaufs- und Vermietungsangebote von Einfamilienhäusern stark zunehmen. Doch die relevante Zielgruppe der 30- bis 50-Jährigen wird jedes Jahr kleiner. Zudem haben die Verkäufer oft überhöhte Preisvorstellungen – schließlich war das Haus auch als Altersvorsorge gedacht. Auf der anderen Seite entsprechen die Häuser selten heutigen Vorstellungen von Gestaltung und Ausstattung, und nur mit hohem finanziellem Aufwand lassen sie sich anpassen. Die meisten Einfamilienhausgebiete sind nicht generationengerecht geplant, sondern mit dem Fokus auf die Kleinfamilie. Schulen und Kitas, die weniger nachgefragt werden, sind reichlich vorhanden, während Angebote zur Nahversorgung und für Gesundheit und Pflege fehlen. Oft werden aufgrund zurückgehender Einwohnerzahlen die Angebote im öffentlichen Nahverkehr ausgedünnt, obwohl die verbleibende ältere Bevölkerung vermehrt darauf angewiesen wäre. In vielen Regionen ist in Zukunft mit Vermarktungsproblemen, sinkenden Preisen und Leerstand zu rechnen.
Plötzlich eine öffentliche Angelegenheit
Lange galten Einfamilienhausgebiete als „Selbstläufer“. Die Kommunen stellten das Bauland und die Infrastruktur zur Verfügung, weitere öffentliche Planung oder Steuerung war kaum nötig, war auch nicht gefordert oder erwünscht. Doch inzwischen erkennen die Kommunen, dass es notwendig ist, gezielte Aufwertungsmaßnahmen zu initiieren, neue Eigentümergruppen zu werben, Einrichtungen für die alternde Bewohnerschaft zu schaffen: Sie sehen sich zum Handeln gezwungen. Die Regionale, seinerzeit aus der IBA Emscher Park als Instrument zur Strukturentwicklung in Nordrhein-Westfalen entstanden, will in ihrer 2016er Ausgabe im westlichen Münsterland, in den Kreisen Borken und Coesfeld sowie sieben weiteren Kommunen entlang der Lippe, unter dem Titel ZukunftsLAND „Zukunft sichern“. Dabei geht es neben der Veränderung von Landschaft und Landwirtschaft auch darum, die Innenentwicklung der Siedlungsgebiete zu stärken.
Von der Teilnahme an Europan 12 mit drei Standorten aus dem Modellgebiet verspricht sich die Regionale ein Instrument für ihren Werkzeugkoffer, mit dem sich der Siedlungsbestand zukunftsfähig und „demografiefest“ machen lässt. Man möchte herausfinden, welche Strategien an welchem Standort sinnvoll sind und diese übertragbar machen für andere Kommunen. Unabdingbare Voraussetzung für die Initiierung von Veränderungsprozessen ist es, die privaten Hauseigentümer zu mobilisieren. Nur wenn die sich zum gemeinsamen Vorgehen entschließen, ist es überhaupt möglich, den Strukturwandel zu bewältigen. Wie aber spricht man eine Bewohnerschaft an, die es bislang nicht kannte, dass die öffentliche Hand sich einmischt und die Initiative ergreift?
Ins Gespräch kommen in Südkirchen
„Mit welcher Berechtigung darf ich mit Veränderungsvorschlägen auf Hauseigentümer zugehen?“, fragt Josef Klaas, Leiter des Bauamts in Nordkirchen. Der Stadtteil Südkirchen ist ein Einfamilienhausgebiet, das über die vergangenen 50 Jahre gewachsen ist und weiter wächst. Da die Nachfrage besteht, werden weitere Baugebiete ausgewiesen. Aber der Wandel steht an: In manchen Straßenzügen beträgt das Durchschnittsalter heute 75 Jahre. Doch noch scheint es keine Gesprächsgrundlage zwischen Stadt und Eigenheimbesitzern für das Thema zu geben.
Die erste Phase widmet sich dem Aufbau einer Kommunikationsstrategie, um die Bereitschaft, über Veränderungen zu reden, überhaupt herzustellen. Nach der Veröffentlichung der Europan-Ergebnisse in der Lokalzeitung, auf der Website der Stadt und nach der Erörterung in einer öffentlichen Sitzung ist eine große Informationsveranstaltung im Sommer geplant. Dann soll auch ein örtlicher Architekt und Energieberater eingeführt werden, der Wohnberatungen anbietet, beispielsweise zu Umbauten für Barrierefreiheit, zu energetischer Sanierung und Infos zur Finanzierung geben kann. Angedacht sind Gutscheine für eine Erstberatung für ca. 50 Haushalte. Weitere Ideen gibt es zur Inklusion: Sowohl junge Erwachsene aus der großen Behinderteneinrichtung in Nordkirchen als auch Studenten der benachbarten Hochschule für Finanzen könnten für eine geringe Miete bei älteren Ehepaaren wohnen und dafür Dienstleistungen wie Gartenarbeit oder Einkauf übernehmen. Es ist ein langer, holpriger Weg. Und man könne froh sein, wenn in der einen oder anderen Straße etwas passiert und davon eine Initialzündung ausgeht, meint Josef Klaas.
Ein Kümmerer für Ahaus
Das Josefsviertel in Ahaus, einer Stadt mit knapp 40.000 Einwohnern, wirkt wie eine Mustersiedlung von Einfamilienhäusern aus den fünfziger und sechziger Jahren. Sie bilden ein homogenes Bild. Defizite sind zunächst nicht zu erkennen. Doch ist eine schleichende und planlose Umnutzung im Gange. Durch die Nähe zur Innenstadt besteht Entwicklungsdruck. Sobald Grundstücke auf den Markt kommen, werden sie meist an Investoren verkauft, die dort Mehrfamilienhäuser mit bis zu acht Wohnungen bauen. Das Wohngebiet droht seine gestalterischen und sozialen Qualitäten allmählich zu verlieren. Um dem entgegenzuwirken und ein Instrument zur Zurückstellung von Baugesuchen in der Hand zu haben, hat die Stadt einen Aufstellungsbeschluss für einen Bebauungsplan verabschiedet. Auf der einen Seite soll ein Städtebaukonzept entwickelt werden, das in einer Art Gestaltungsfibel münden soll. Auf der anderen Seite stellen der demografische Wandel und das sich oft entwickelnde familiäre Vakuum die Bewohner vor neue Herausforderungen. Durch die Teilnahme an Europan habe die Stadt die Möglichkeit gehabt, sich deutschland- und europaweit intensiv über das Thema auszutauschen und ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen, sagt Walter Fleige, Leiter des Planungsamts Ahaus. Um die Bewohner in dem Prozess mitzunehmen, wurden straßenzugweise sechs Informationsveranstaltungen über die Regionale und Europan und über die Absichten der Stadtverwaltung durchgeführt. Die seien auf Verständnis der Bewohner gestoßen, und auf diese Weise hätten Multiplikatoren gefunden werden können. Zaghafte Ansätze von Eigeninitiative für kleine Altenwohngemeinschaften, beispielweise durch die Zusammenlegung zweier Häuser, gibt es bereits. Ab Herbst wird ein „Kümmerer“ im Josefsviertel Räume beziehen und für Beratungen zur Verfügung stehen. Bedarf gibt es, und die Hoffnung besteht, dass der Kümmerer Zugang zu den Leuten findet. Langfristig wünscht sich die Stadt, die bei Europan prämierten Teams an verschiedenen Stellen einzubinden.
Nachtspeicherheizung abschalten in Dorsten
Der Dorstener Stadtteil Wulfen-Barkenberg wurde ab 1958 als „Neue Stadt“ konzipiert. Im Zuge der Nordwanderung des Bergbaus im Ruhrgebiet sollten hier bis zu 60.000 Menschen eine neue Heimat finden. 2012 lebten in Barkenberg etwa 8600 Einwohner. Die Stadterneuerungsmaßnahme „Stadtumbau West“ in Barkenberg beschäftigte sich seit 2008 vorrangig mit Geschosswohnungsbauten und ihrem Umfeld, nun soll es um die benachbarten Eigenheimquartiere der sechziger und siebziger Jahre gehen. Die Bewohner identifizieren sich in hohem Maß mit ihrem Quartier. Von Anfang an wurde hier offensichtlich Wert auf das Miteinander gelegt – gute Voraussetzungen also, dass der Umbau des Quartiers und die langfristige Standort- und Nachfragesicherung gelingen. Es besteht großes Interesse, auch im Alter im Stadtteil bleiben zu können. Umso wichtiger ist die Anpassung des Bestands an künftige Notwendigkeiten. Größte Herausforderung ist hier die energetische Sanierung sowie die Entwicklung alternativer Heizkonzepte anstelle der Versorgung mit Nachtspeicherheizungen, die unverhältnismäßig viel Strom verbrauchen.
„Es braucht mehr als die Nachbarschaft, um das Energieproblem zu lösen“, sagt Holger Lohse, Baudezernent der Stadt Dorsten. Gute Ideen für die energetische Sanierung habe er zum Beispiel in dem Europan-Beitrag Kein Land für alte Männer gesehen. Er sei von der Qualität der prämierten Konzepte überzeugt und schließe eine künftige Zusammenarbeit mit den Teams nicht aus, allerdings nur für einzelne Aktionen. Aufgrund der Sprachbarrieren habe man davon abgesehen, ein internationales Team für die kontinuierliche Begleitung des Prozesses zu beauftragen. In einem anderen Dorstener Stadtteil könnte es hingegen Ende des Jahres zu einer konkreten Zusammenarbeit kommen. Derzeit wird geprüft, ob sich die mit einer Anerkennung ausgezeichnete Arbeit Adaptable Cooperative Urban Smile, ein Entwurf für ein genossenschaftliches Modell, im Ortsteil Holsterhausen umsetzen lässt. Das Quartier entstand in den späten fünfziger Jahren und folgt, in Anlehnung an die benachbarte Bergarbeitersiedlung, Gartenstadt-Prinzipien. Für die beabsichtigte Nachverdichtung auf einer größeren Grünfläche, die der Stadt gehört, ist geplant, exemplarisch ein Genossenschaftsmodell umzusetzen.
Mut zum Experiment
Bei einem Workshop Anfang Februar 2014 in Nordkirchen, auf dem die vier prämierten Europan-Teams ihre Konzepte den Vertretern der beteiligten Städte und der Regionale erläutern konnten, war zu spüren, dass die Kommunen gegenüber den Ideen der jungen Architekten offen sind. Man ist sich darüber im Klaren, dass die Städte sich verändern und erneuern, ihre Eigenheiten dabei aber erhalten werden müssen. Und es gibt die Bereitschaft, mit neuen Formen von Gemeinschaft zu experimentieren. Die strikte Trennung zwischen privat und öffentlich scheint kein zukunftsfähiges Modell zu sein; deren sukzessive Aufhebung auch in Planungsprozessen reflektiert den gesellschaftlichen Wandel – und befördert ihn bestenfalls.
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