Bauwelt

1919-1998: Sieben herausragende Fälle


Gemeinsam Wohnen entwerfen. Aber wie?


Text: Fernandéz Per, Aurora; Mozas, Javier


  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Justus-van-Effen-Komplex
    Foto: a+t research group

    • Social Media Items Social Media Items
    Justus-van-Effen-Komplex

    Foto: a+t research group

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Gilbert House im Barbican-Komplex
    Foto: David Grandorge

    • Social Media Items Social Media Items
    Gilbert House im Barbican-Komplex

    Foto: David Grandorge

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Hillside Terrace
    Foto: Isabel Mozas

    • Social Media Items Social Media Items
    Hillside Terrace

    Foto: Isabel Mozas

Über mehrere Jahre hinweg haben die Autoren Schlüsselbauten des Geschosswohnungsbaus des letzten Jahrhunderts auf ihre gemeinschaftlichen Qualitäten hin analysiert. Ziel der Recherche war es, räumliche Errungenschaften des Wohnbaus für das Entwerfen des neuen Geschosswohnungsbaus in der verdichteten Stadt wieder verfügbar zu machen. Die Auswahl der sieben Beispiele ist subjektiv, sie reicht von Michiel Brinkmans Geschosswohnungsbau in Spangen bis zu Fumihiko Makis Terrassenbauten in Tokio.
Wohnungen bauen, insbesondere öffentliche Wohnungen, ist ein heroischer Akt. So zu entwerfen, als würde man später selbst einziehen, setzt voraus, dass die Architekten – in ständigem Widerspruch zu anderen Zwängen – sich laufend in die Lage versetzen, wie spätere Bewohner zu denken und sich zu fragen, welche gemeinschaftlichen Nutzungen sie sich in ihrem neuen Zuhause wünschen. Dabei ist dieses Dilemma des Entwerfens von Geschosswohnungsbauten nie ganz aufzulösen: die Wohnbedürfnisse der Nutzer vorwegzunehmen, ohne sie dabei als Gegenüber am Tisch sitzen zu haben.
Heimat und Zuhause – das ist heute in den meisten großen Städten wieder die verdichtete und vielschichtige Stadt, die nach innen wächst und ständig erneuert wird. Allenthalben geht es dabei um die historische Stadt – und diese historische Stadt ist die moderne Stadt, die postindustrielle Stadt, und die, je nach Lagegunst, in ungleichen Geschwindigkeiten wachsende Stadt des letzten Jahrzehnts. Es geht um die schmalen Rest-Parzellen der alten Stadt, die urbanen Erweiterungen des 19.Jahrhunderts, um die in die Jahre gekommenen Neu-Städte der Sechziger und um die unzähligen vernachlässigten Räume, die wir Zwischenstadt nennen. Es geht um die Rückkehr der Idee der übereinander gestapelten Stadt, weil es zu einer Conditio sine qua non geworden ist, Ressourcen sparsam einzusetzen. Diese Rückkehr, weg vom Sprawl, kann und darf nicht widerwillig erfolgen. Die Zwänge der dichten Stadt können und müssen als Residuum für zeitgemäße Wünsche begriffen werden. Das könnte gelingen, wenn wir den neuen Geschosswohnungsbau in ein Bauen von Wohnungen umdenken.
Bei den im Folgenden untersuchten Beispiele handelt es sich um sieben herausragende Geschosswohnbauten des 20.Jahrhunderts. Von Ferne betrachtet könnten sie unterschiedlicher kaum sein. Aus der Nähe eint sie ein zentraler Gedanke: die Suche der Architekten nach neuen Bezügen zwischen privaten, halböffentlichen und öffentlichen Räumen. In früheren Veröffentlichung zum Thema Wohnen und Verdichten1 haben wir davon gesprochen, dass es eine Reihe von Merkmalen für verdichtetes Wohnen gibt, die, gerade weil sie sich nicht in messbaren Zahlenwerten ausdrücken lassen, eine so wichtige Rolle einnehmen. Wir nennen diese Eigenschaften, die die Qualität einer Verdichtung bestimmen, „Performanzen“. Sie lassen sich in die Kategorien „hart“ und „weich“ teilen. Die harten, architektonischen Performanzen beziehen sich auf die physischen Aspekte wie Zugänge, Wegeführung, Typologien von Wohnformen, Ausrichtung, gemeinschaftlich genutzte Flächen oder Außenflächen. Die weichen Performanzen implizieren subjektiv Wahrgenommenes wie Privatsphäre, Flexibilität, Geräumigkeit, den Bezug zur Natur oder auch das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Harte wie auch weiche Performanzen sorgen für die Qualität von Nachbarschaft, die jeder neue Bau mitprägt. Genau dieses Austarieren zwischen weichen und harten Faktoren gelang den Architekten bei den hier vorgestellten sieben Projekten. Sie durchbrachen die jeweils gültigen, unflexibel gewordenen Regeln über gemeinschaftlich genutzte urbane Räume und versahen diese mit neuen Qualitäten.
Unsere durchweg neu gezeichnete und damit auch wieder lesbar gemachte Analyse von sieben großen Wohnensembles aus dem vergangenen Jahrhundert hatte das Ziel, gerade auch die gemeinschaftlichen Qualitäten hervorzukehren. Wir verstehen diese Bauten weniger als Meisterwerke herausragender Architekten, sondern als Teil eines für aktuelle Neuerungen wichtigen kollektiven Entwurfsfundus’, an dem sich weiterarbeiten lässt.
1919–22 | Rotterdam-Spangen. Die Straße in der Luft
Die Leitfrage beim Justus-van-Effen-Komplex im Stadtteil Spangen lautet: Kann eine Straße noch Straße sein, wenn sie in die Höhe verlegt und vom Straßennetz der Stadt abgekoppelt wird? Michiel Brinkmans Antwort lautete, ja, voraus­gesetzt, die Bewohner nehmen diese „Hochstraße“ in derselben Weise in Besitz, wie sie die Straßen in der Nachbarschaft nutzen.
Ziel des Architekten war es, die traditionell direkte Verbindung zwischen Straße und Wohnraum wieder herzustellen, die im sozialen Wohnungsbau der damaligen Zeit verloren gegangen war. Brinkmans Idee besteht darin, die Eingänge zu den Wohnungen von den von allen genutzten Treppenhäusern abzukoppeln – so sollte ungewünschte Einsicht unterbunden werden, da die damals gängige Wohnungsform des Alkoven-Grundrisses keine Wände zwischen Eingangsbereich und Schlafraum aufwies. Im Spangen-Komplex gelingt es Brinkman, für alle Wohnungen einen individuellen Zugang von außen bereitzustellen, und zwar entweder direkt vom Innenhof oder aber von der nach oben verlegten Straße im zweiten Obergeschoss.
Auf zahlreichen Fotos aus der damaligen Zeit sieht man, wie Kinder auf dieser umlaufenden Galerie-Straße spielen, während die Erwachsenen weiter unten die Ruhe des Innenhofes genießen. Die eingezogene Galerie ist zwischen 2,30 und 3,30 Meter breit. Brinkman bezog seine Inspiration aus dem Ideal einer Gemeinschaft von Bürgern, die in ihrem Alltag ohne räumliche Hürden aufeinander treffen und miteinander in sozialer Interaktion stehen. Dabei gehen sie nachbarschaftliche Bindungen ein. Die nach oben verlegte Fußgänger-Straße ist ein durchgängiger, ein Kilometer langer Weg voller Biegungen und Ecken und von variabler Breite. Eine Serie kleiner Ereignisse – eingeschobene Räume, Sichtöffnungen, Kreuzungspunkte mit Treppenhäusern – macht sie zu einem abwechslungsreichen halböffentlichen Raum. An späteren Beispielen, die dann mit dem Prinzip der internen Straße gearbeitet haben, wird die gelungene Lösung des Van-Effen-Komplexes besonders deutlich. Alison und Peter Smithson etwa nahmen in ihrem Robin-Hood-Gardens-Projekt (1966–72, Bauwelt 08.2012) direkt Bezug auf das Rotterdamer Vorbild. Sie erhielten nach dem Golden-Lane-Wettbewerb (in dem die Smithsons zum ersten Mal die erhöhte Straße einführten) die Gelegenheit, ein städtisches Wohn-Hochhaus-Konzept zu bauen, das die Beziehungsmuster des traditionellen englischen Straßenbildes mit den Terrace-Houses und seiner niedrigen Dichte aufgreift. Auf der Eingangsebene wird der Einfluss von Spangen sehr deutlich, er ist aber im Entwurf nicht durchgehalten. Während Brinkman die enge Verflechtung zwischen der angrenzenden Nachbarschaft und den Bewohnern bewusst zu erhalten sucht, bleibt Robin Hood Gardens selbstbezogen – die beiden Blocks stehen so weit voneinander entfernt, wie es das Areal hergibt, um eine künstliche Hügellandschaft dazwischenzulegen. Auch haben die Smithsons die umlaufenden Galerien an die Außenfassaden verlegt: Die Kontakte der Bewohner von Galerie zu Galerie fallen weg und auch die Möglichkeit, das Geschehen auf den gemeinschaftlich genutzten Flächen im Hof im Vorbeigehen wahrzunehmen. Der Eindruck intimer Häuslichkeit, die ein Hofgarten erzeugt, wird ersetzt durch den Blick auf industriell genutzte Flächen und Hauptverkehrsstraßen.
Auch das 8House des dänischen Büros BIG (2008–10, Bauwelt 42.2010) nutzt das Prinzip der in die Höhe verlegten Straße. Dieser Wohnblock im Kopenhagener Stadtteil Ørestad macht daraus eine Promenade architecturale rund um das gesamte Gebäude. Sie beginnt hier bereits auf Straßenniveau und führt über eine Rampe bis ins Obergeschoss hinauf, um wiederum auf Straßenniveau zu enden. Die Gemeinsamkeit zum Spangen-Projekt liegt in den direkten Bezügen zwischen erhöhter Straße und Wohnungen. Wie beim Justus-van-Effen-Komplex hat jeder Wohnungstyp eine individuelle Erschließung in Form einer „Adresse“, wobei die äußere Straße sowohl den Zugang zu den Reihenhäusern der unteren Geschosse wie zu den Penthouse-Wohnungen weiter oben leistet. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen BIG und Brinkman ist, dass beide den vorgegebenen Bebauungsplan gesprengt haben, indem sie zwei Blocks über einen gemeinsamen Technik-Trakt im Zen­trum aneinander koppeln.
Mangelnde Pflege versetzte die offensichtlichen Vorteile der direkten Erschließung in den sechziger Jahren in ihr Gegenteil. 1980 bedurfte der heruntergekommene Wohnkomplex dringend einer Erneuerung. Man vergrößerte damals Teile der Wohnungen und ersetzte u.a. die Fensterrahmen und die originalen Pflanzkästen. Die halbherzigen Maßnahmen waren vergeblich; immer mehr Bewohner kehrten dem Bau den Rücken. Eine erneute Renovierung im Jahr 2002 revidierte den fehlgeschlagenen Sanierungsansatz und wandte eine neue Strategie an: Einerseits besann man sich auf den Denkmalwert des Gesamtareals und versuchte, die Grundqualitäten des Originals herauszuarbeiten. Man beließ es bei den kleinen Wohnungsgrößen, erneuerte sie aber in puncto Komfort und Nachhaltigkeit. Andererseits wollte man ein neues Zugehörigkeitsgefühl zwischen den Anwohnern befördern. Den „Justus-Believers“, wie man die neuen und alten Bewohner in einer Werbekampagne nannte, wurden die Qualitäten des Wohnmodells mit außergewöhnlichen, gemeinschaftlich genutzten Flächen vor Augen geführt. Diese Strategie hatte Erfolg.
1928–32 | Moskau. Der Prototyp des „Social Condenser“
In den frühen Jahren der Sowjetunion verschärften starke Migrationsbewegungen vom Land in die Stadt die bereits bestehende, durch die Industrialisierung der Städte hervorgerufene Wohnungsnot. Gleichzeitig propagierte das staatliche Wohnbauprogramm eine neue soziale Ordnung, die auf der Umstrukturierung der traditionellen Familie beruhte. Dazu gehörten Planung und Bau neuer moderner Wohnungstypologien, die die Bewältigung der im Haushalt anfallenden Aufgaben vergemeinschafteten. Die Erneuerungsideologie hielt sich allerdings nur über wenige Jahre, dann wurde sie diskreditiert. Von den Entwürfen der konstruktivistischen Bewegung wurden nur sechs experimentelle Wohnblocks gebaut. Der bedeutendste davon war das Narkomfin-Gebäude am Novinsky-Boulevard in Moskau.
Die in den zwanziger Jahren von der Stroikom, der staatlichen Baukommission, in Auftrag gegebenen Entwürfe für Wohnprojekte waren Vorläufer für die meisten dann folgenden Gemeinschaftswohnbauprojekte in Europa. „Fortschrittliche Grundrissgestaltung“ wurde als eines der Mittel verstanden, um den Übergang von einem bürgerlichen Lebensstil zum sozialistischen Ideal zu forcieren. Der privat genutzte Raum der Wohnung wurde zugunsten von gemeinschaftlich genutzten Flächen verringert. Verglaste Galerien vor der Wohnung sollten Treffpunkt für alle sein, dazu kam ein Sondergebäude, in dem Gemeinschaftseinrichtungen wie Waschküche, Küche, Kantine und Baderäume untergebracht waren.
Zum ersten Mal überhaupt werden im Entwurf dieser Verkehrsflächen die Bewegungen der Nutzer als Gelegenheiten für soziale Begegnung wahrgenommen. Indem man die Hauptaufgaben der privaten Haushaltsführung kollektivierte, sollten Frauen leichter am öffentlichen Leben teilhaben können. Der Preis, den man dafür zahlte, waren gegenseitige Überwachung und verstärkte soziale Kontrolle. Die Privatsphäre auf die Schlafzimmer zu beschränken, galt als effizientes Mittel, bürgerliche Konventionen auszuhebeln.
1930 wurden diese Ideen wieder verabschiedet. Die zweimonatig erscheinende, ursprünglich von Moisei Ginzburg und den Vesnin-Brüdern herausgegebene Architekturzeitschrift „Sovremennaja Architektura“, veröffentliche damals – schon nicht mehr unter Ginzburgs Führung – einen Beschluss des Zentralkomitees der kommunistischen Partei, der die völlige Sozialisierung des häuslichen Lebens grundsätzlich in Frage stellte. Die neue Richtlinie verdammte die gemeinschaftlich genutzten Korridore und die Kollektivierung des Wohnens, die noch Monate zuvor als das Paradigma der Veränderung schlechthin gegolten hatten. Der Schwenk in der Parteipolitik war unmissverständlich formuliert: Man sei enttäuscht von der sogenannten „Lügen-Kommune“, die Wohnungen zu Schlafkojen umfunktioniere und dem Arbeiter statt angemessenem Lebensraum und wohlverdientem Komfort nur lange Flure und noch längere Schlangen vor Waschräumen und Speisesälen zu bieten habe. Die zweite Bauphase wurde dann 1933–35 nicht mehr von Ginzburg, sondern von S.Leontovich in einem stalinistischen Klassizismus umgesetzt. Das Narkomfin-Gebäude gilt bis heute als Pionierbau kollektiven Wohnens, (auch BARarchitekten beziehen sich auf ihn).
1955–83 | London. Das exquisite Ghetto einer gemischten Metropolis
In Folge der Bombardierung Londons im Zweiten Weltkrieg war die Bevölkerung der City of London von 100.000 auf weniger als 6000 zurückgegangen. Die konservative Regierung unter Churchill fürchtete Anfang der fünfziger Jahre um ihre Machtbasis im Finanzdistrikt und initiierte ein spezielles Wohnbauprogramm auf dem zerstörten Areal der Crippelgate Wards. Mit ihrem Siegerentwurf für den Barbican-Wettbewerb erhielten Chamberlin, Powell und Bon (CP&B) den Auftrag für eine verdichtete Wohnbebauung in der Londoner City, die allerdings nicht ausschließlich Wohnungen umfassen sollte, sondern auch Flächen für Bildung und Kultur. Das Ziel war, im Herzen der Stadt einen attraktiven Standort für künftige Bewohner – und Wähler – zu schaffen, die sich eine etwas höhere Miete leisten konnten. Das Konzept brach mit dem modernistischen Ansatz einer monofunktionalen Büronutzung und entwickelte neue Ideen für die Nutzungsmischung und die zugehörigen Gemeinschaftsflächen. Im endgültigen Entwurf für das Barbican Centre kombinierten die Architekten fünf verschiedene Mischungskonzepte, die Raumstrukturen, Typologien und Nutzungen umfassten: Das erste Konzept orientierte sich an der umgebenden Bebauungsstruktur und mischte langgestreckte Gebäudeteile mit Hochhaustürmen. Das zweite war typologiebezogen und setzte die vertikale Erschließung mit intern querenden Passagen in Beziehung – dazu kam die Erschließung für die Reihenhäuser in der Mitte der Großanlage. Das dritte Konzept stellte die Option des halboffenen Blockrandes entlang der Straße dem internen Netz von öffentlichen Fußgängerwegen gegenüber. Das vierte Konzept behandelte die Mischung von privaten, halböffentlichen und öffentlichen Räumen mit Wasser, Grünflächen und versiegelten Flächen. Das fünfte Konzept bezog sich auf die Mischung der Wohnnutzung mit großen Kultur- bzw. Bildungseinrichtungen, die eine weit über das lokale Einzugsgebiet hinaus reichende Anziehungskraft entwickeln sollten.
Einerseits ist das Barbican Centre ganz dem modernen Prinzip einer Trennung von motorisiertem Verkehr und Fußgängern verpflichtet. Andrerseits ist die ausgeklügelte Nutzungsmischung, die auch die unmittelbar angrenzende Nachbarschaft mit einbezog und viele räumliche Anknüpfungspunkte nach außen beinhaltete, als direkte Kritik an der Trennung von unterschiedlichen Funktionen zu lesen, wie sie die Charta von Athen postuliert hatte. Der gesamte bauliche Komplex des Barbican wurde auf einer Plattform errichtet, dem Podium, das Verteilerfunktion für das Ensemble übernimmt. Diese erhöhte Bühne fungiert zugleich als Straße für die Fußgänger und als Sozialisierungsraum. Von dieser erhöhten Warte aus schweift der Blick über die offenen Bereiche und den Teich, etwas so, wie man von den Mauerzinnen den doppelt abgesicherten Innenhof einer mittelalterlichen Burg überblicken konnte.
Als „Instant City“, „monolithischer Großblock ohne Eigenschaften“ oder „Fly-by-night-Ghetto für Finanzdienstleister“ wurde das Barbican nach der Fertigstellung kritisiert. Reyner Banham sprach von einem sozialen Wohnbauexperiment für die Wohlhabenden. Daran hat sich nichts geändert. Vierzig Jahre nach Einzug der ersten Mieter und dreißig Jahre nach Fertigstellung sind die Wohnungen im Barbican fixe Größen auf dem Immobilienmarkt – ebenso begehrt wie teuer. Doch auch ohne den Blick auf die Quadratmeterpreise gibt es keinen Zweifel daran, dass der CP&B-Entwurf gelungen ist. Die Idee, mit den Mitteln der Nachkriegsmoderne die Solidität der georgianischen und die räumliche Differenzierung der mittelalterlichen Stadt mit der Ruhe der Suburbs zu verbinden und daraus mitten in der City eine Vielzahl von aufeinander abgestimmten, öffentlichen und halböffentlichen Räumen zu schaffen, ist aufgegangen. Erstaunlich ist vor allem, dass dieser Komplex nie für sich reklamierte, ein herausragendes Meisterwerk und somit ein Sonderfall zu sein. Man kann es im Rückblick ein episches Projekt nennen, erbaut von fast unbekannten Architekten, die ein Stück selbstverständlich verdichtete Metropolis zum Wohnen geschaffen haben.
1957–63 | Boulogne-Billancourt. Private Alternative zu den staatlichen Grands Ensembles
Vergleichbare Motive, die Qualitäten und die Dichte der alten Stadt in die Nachkriegsmoderne zu übersetzen, hatte auch Fernand Pouillon im „Point du Jour“. Der zuvor hauptsächlich in Algerien tätige Architekt baute seit den fünfziger Jahren auch in Paris. Meist trat er gleichzeitig als Developer auf. Seine Bauten sind als Alternative zum sozialen Wohnbauprogramm der Jahre 1954 bis 1964 zu sehen, mit dem der französische Staat mit Hilfe von Großwohnbauten, den „Grands Ensembles“, der akuten Wohnungsnot in Frankreich nach Auflösung der Kolonien im ehemaligen Indochina und in Algerien begegnen wollte. Pouillon ging es auch in Boulogne um kostengünstige Wohnungen für die Mittelklasse, die nicht anonym sein sollten. Er sprach vom „Haus, das man für andere baut“. Das städtebauliche Konzept der Résidence du Point du Jour basiert auf großen, offenen Räumen mit kleinen Seen und Grünanlagen, die über mehrere Höfe untereinander verbunden sind.
Pouillon sprach auch von der „inneren Landschaft“ seiner städtebaulich gedachten Ensembles, in denen man sich als Fußgänger bewegt. Diese Wohnlandschaft korrespondiert mit der Abfolge unterschiedlicher Stimmungen aus den wechselnden Proportionen, die sich in einem visuellen Spiel aus Perspektiven und verengten Durchblicken ständig ändern, während der Bewohner die halböffentlichen Bereiche durchquert, um zu seiner Wohnung zu kommen.
Von Eugène Beaudouin, mit dem er 1942 und 1944 zusammenarbeitete, hatte Pouillon den Umgang mit Leerräumen in den langgestreckten Esplanaden und den prismatischen Volumina von miteinander verbundenen Gebäudekomplexen gelernt. Der Hof im Zentrum von Point du Jour ist 225 Meter lang, bei einer Breite von 34 Metern. Damit bleibt der Platz in seinen Dimensionen zwar weit hinter dem Meidan-e Emam im iranischen Isfahan, den Beaudouin intensiv studiert hatte, zurück. Doch hinsichtlich der Kontinuität seiner offenen Räume ist er durchaus mit ihm vergleichbar. Pouillon distanzierte sich, in der Tradition der von Auguste Perret geförderten Beaux-Arts-Schule, von der offenen Blockstruktur als dem Paradigma der Moderne. Er scherte sich wenig um architektonischen Purismus und bevorzugte stattdessen eine Fortführung des traditionellen Bauens, eine kluge Kombination aus Türmen, Blocks und langgestreckten Elementen mit weiten, den Fußgängern vorbehaltenen öffentlichen Räumen zu Füßen der Wohnbauten. Pouillons Moderne ist mit historischen Anspielungen versehen. Der Begriff der Analogie, wie ihn zur selben Zeit Aldo Rossi prägte, ist auch für Pouillon bedeutsam. Dass Point du Jour seinen Architekten dann teuer zu stehen kam, weil das Entwicklerkonsortium CNL, in dem Architektur, Entwicklung, Konstruktion, Verkauf und Marketing zusammengefasst waren, pleite ging, steht auf einem anderen Blatt. Mit seinem Anspruch, besser, billiger und schneller als alle seine Konkurrenten zu bauen, hatte sich Pouillon viele Feinde geschaffen. Heute ist die Résidence du Point du Jour ein ruhiger Ort voller „guter Menschen“, um mit Pouillon zu sprechen, wo sich nachbarschaftliches Miteinander ohne ausgrenzende Zäune auf eine freundliche Weise entfaltet.
1969–82 | Newcastle-upon-Tyne. Partizipative Planung ohne Vorbilder
In den späten sechziger Jahren gab es, angesichts der unübersehbaren Probleme in den endlos düsteren Reihen der eng­lischen Arbeitersiedlungen aus dem 19.Jahrhundert, einen Konsens zwischen Labour und Konservativen, öffentliche Teilhabe an der städtebaulichen Entwicklung in die Planung zu integrieren. Allerdings ließen sich für die partizipativen Prozesse kaum Vorbilder finden. Der britisch-schwedische Architekt Ralph Erskine, der bereits im benachbarten Killingworth gearbeitet hatte, erhielt den Auftrag, in der Byker-Siedlung in Newcastle-upon-Tyne den partizipativen Prozess zu begleiten und die Siedlung zu erneuern. Erskin installierte sein Büro in einem Ladenlokal, „The Architect’s Shop“, vor Ort und verfolgte von Anfang an eine Politik der offenen Tür. Hier empfing er die künftigen Nutzer, unterhielt sich mit ihnen über ihre Bedürfnisse und Wünsche. Er nahm Partei und unterstützte sie gegenüber dem City Council und der lokalen Verwaltung.
Ein Hauptanliegen des Projektes war, das soziale Gefüge zu erhalten und die halböffentlichen Räume entsprechend den Wünschen der Bewohner neu zu ordnen. So wurden Gemeinschaftsräume, Treffpunkte und „Hobby Rooms“ an unterschiedlichen Orten auf dem gesamten Areal platziert. Darüber hinaus hatte die Verwaltung zunächst auch zugesagt, Fami­lienverbände zu erhalten oder neu zusammenzuführen, indem man beim Zuweisen von Umsetzwohnungen die Nähe zu Familienmitgliedern mit engen emotionalen Bindungen berücksichtigte. Ältere Anwohner zogen gemeinhin Wohnungen im Hochhausblock vor, die direkten Zugang, eine gute Aussicht und eine bessere soziale Einbindung boten. Leider wurden viele der anfänglichen Ziele aufgrund eines sehr schwerfälligen Bauprozesses und zunehmender Differenzen zwischen Architekt und Verwaltung nicht umgesetzt.
Erskins Gesamtplan für Byker, zusammen mit den Bewohnern nicht in einem „Masterplan“, sondern in einem „Plan of Intent“ formuliert und über einen Zeitraum von dreizehn Jahren umgesetzt, sah von Anfang an drei Hauptziele vor, die dem Zeitgeist der damaligen Stadtplanung zuwiderliefen: Erstens wollte man charakteristische räumliche Eigenheiten des Ortes aufgreifen, zweitens bestehende soziale Bindungen erhalten und drittens den gesamten Komplex als ein Ensemble aus kleineren Gemeinschaften strukturieren, die jede eine eigene Identität erhalten sollte. Der britische Brutalismus der damaligen Zeit, der seine prägnanten Formen allem aufzwang, hatte kein Interesse an solchen Ideen. Nach der Fertigstellung zeigte Byker eine unaufgeregte, lebendige Atmosphäre und ein „informelles Gesamtbild“, das nicht über die Umgebung dominiert. Größere öffentliche Flächen trennen den „Hauswall“ von der niedrigeren Wohnbebauung mit ihren privaten Gärten. Daneben gibt es eine lose Ansammlung kleiner Plätze, die den Charakter historischer Städtchen mit einer umgebenden Mauer, in diesem Fall „The Wall“, evozieren. Diese Freiräume sind durch ein Netz von fußläufigen Wegen miteinander verbunden.
Die Maisonette-Wohnungen in The Wall sind so aufgeteilt, dass die Schlafzimmer jeweils im oberen, Wohnzimmer  und Küche im unteren Teil liegen, der vom überdeckten Erschließungsflur aus direkt zugänglich ist. Auf diesem Flur gibt es auch Bereiche zum Ausruhen und für nachbarliche Kontakte, es gibt Sitzbänke und Blumenkübel. Neben ihrer Funktion als Erschließungszone werden diese Flure daher auch als eine Art erweiterter Wohnbereich genutzt.
In den zurückliegenden Jahren durchlief das Byker-Estate unterschiedliche Phasen. Die schwierigste folgte unmittelbar auf die industrielle Krise der achtziger Jahre. Diese hatte nicht nur dramatische Auswirkungen auf die soziale Lage der Bewohner, sie war auch mitverantwortlich für die nachlässige Verwaltung der Siedlung durch den Council. In den späten neunziger Jahren standen zehn Prozent der 1800 Wohnungen leer, und die Grünflächen lagen brach; Byker hatte den Ruf eines Ortes, an dem keiner wohnen wollte.
Ab 1997 sorgte ein neu berufener Stadtverordneter dafür, dass sich das Council wieder intensiv mit der Wohnsiedlung auseinandersetzte. Es wurde ein Maßnahmenkatalog verabschiedet, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Bis 2006 sank die Kriminalitätsrate um vierzig und der Leerstand auf zwei Prozent. 2006 erhielt die Siedlung das Label der Stufe II auf der Liste der denkmalgeschützten Bauten, was das Einwerben von Geldern für den Unterhalt deutlich vereinfachte. 2012 wurde das Management der Siedlung dem Byker Community Trust überantwortet, einer gemeinnützigen Organisation, die heute in enger Zusammenarbeit mit den Anwohnern das Management übernommen hat und sich um den baulichen Erhaltungszustand von Gebäuden und die Weiterentwicklung der Gemeinschaftsflächen kümmert.
1970–75 | Paris Ivry-sur-Seine. Gestapelte Gartenwohnungen
Jean Renaudies Wohnanlage in Ivry-sur-Seine im Südosten von Paris, etwa zur selben wie Byker entworfen, gilt als Manifest des Architekten im Sinne einer Stadt als lebendigem Organismus, dessen Teile alle eng miteinander kommunizieren. Renaudie polemisierte mit seinem Entwurfskonzept gegen die Logik des Massenwohnbaus der Grands Ensembles. Das Ensemble Jeanne-Hachette zeigt, wie sich Renaudie eine solche Diversifizerung im sozialen Wohnungsbau vorgestellt hatte: im Sinne eines Mischnutzungs-Wohnhybrids, in dem sich die moderne Trennung städtischer Funktionen wieder aufheben lässt.
Eine der Grundideen Renaudies bestand darin, seine Wohnbauten in formaler und struktureller Analogie am Wachstum von Pflanzen zu orientieren. Er ordnete jeder Wohnung einen eigenen Grünraum zu, der zugleich auch Teil des gesamten Ensembles war. Jede Wohnung sollte eine individuelle Form aufweisen, und jeder Bewohner sollte das Recht auf einen eigenen Naturraum haben – nicht bloß einen Balkon, sondern eine veritable Terrasse, auf der auch Bäume gedeihen können. Vom eigenen Garten aus zurück in die eigene Wohnung blicken zu können, obwohl man sich in einem Großwohnungsbau befindet, gehörte für Renaudie zum magischen Kern seines Konzepts.
Im Jean-Hachette-Komplex kann der Besucher von der Straße aus bis zu den Terrassen der oberen Geschosse hinaufsteigen, indem er unterschiedlichen Wegen entlang der Außenseite des Gebäudes folgt. Schmale Pfade wechseln sich mit überdachten Passagen ab, vertikale Durchgänge unterstützen kleine Stiegen, die sich den künstlichen Hügel hinauf schlängeln. Diesen Wegen sind Gemeinschaftsfunktionen zugeordnet. Im ersten Geschoss gibt es eine überdachte Ladenzone. Der Zugang von der Straße her erfolgt über eine flache Rampe, die bis in die Mitte der Ladenzone führt. Diese Rampe als direkte Verbindung wird Jahre später in vielen Koolhaas-Entwürfen wieder auftauchen.
Renaudies Bauten, die in Konkurrenz zur späten Phase der Grands Ensembles entstanden, wurden damals auch heftig kritisiert. Seinen Entwürfen wurde ihre Komplexität und Unwirtschaftlichkeit vorgeworfen. In der Tat hat sich Renaudie immer geweigert, auf der Basis eines Grids zu entwerfen – schon das erschien ihm zuviel Schematismus. Heute sind viele seiner Wohnsiedlungen sehr begehrt und meist in einem guten Zustand. Gerade was die Gemeinschaftsfunktionen betrifft, war Renaudie ein Vorläufer für neue Ideen: Er wehrte sich gegen die Unterscheidung in dienende und bediente Räume; er brachte „ländliche grüne Qualitäten“ in die neuen Hochhaussiedlungen; er plädierte für ein Forcieren städtischer Intensitäten, die die individuellen Ansprüche der Bewohner direkt berücksichtigen, und er wehrte sich gegen Kritik, solche Ideen seien nicht umsetzbar.
1967–98 | Shibuya, Tokio. Öffentlicher Wohnhügel
Fumihiko Makis „Hillside Terrace Project“ im Tokioter Stadtteil Shibuya wurde 1967 begonnen und über dreißig Jahre hinweg immer wieder weitergebaut. Es ist Sonderfall und Beispiel zugleich. Beispiel dafür, wie ruhige Qualitäten öffentlicher und halböffentlicher Raumzonen in einem sorgfältigen Planungsprozess über Jahre hinweg erweitert und auch für die angrenzende Nachbarschaft bedeutsam werden können. Dabei vermittelt Makis Wohnanlage den Bewohnern ein Gefühl von „halböffentlicher Tiefe“, bietet ihnen Rückzugsbereiche trotz des sehr dichten urbanen Kontextes, der das Ensemble umgibt. Maki gelingt dies mit Hilfe der durchdachten Abfolge von graduellen Übergängen zwischen Aktivität und Rückzug, Öffentlichem und Privatem, zwischen der Straße und den Innenräumen. Schaut man sich dieses Konzept genauer an, fällt auf, dass geschickt gestaffelte, transparente Eingangsbereiche, die für den Austausch zwischen Innen und Außen sorgen, eine wichtige Rolle spielen. Sie lassen nie den Eindruck einer „Gated Zone“ aufkommen. Wichtig sind auch die Bezüge der begrünten Flächen zwischen den Gebäuden, die dem Fußgänger lebendige Perspektiven bieten, ebenso wie der gänzlich ungehinderte Blick quer durch die Erdgeschosse der Gebäude.
Die Ausformung der öffentlichen Räume in diesem Komplex folgt drei Grundsätzen: Der öffentliche Raum muss es den Benutzern erlauben, sich auch zurückzuziehen; der öffentliche Raum wird umso lebendiger, je mehr Schichten und je mehr Bedeutungen in ihm integriert sind; der öffentliche Raum muss ruhige und aktive Bereiche für Begegnung mischen. Der Schlüssel liegt im Wechsel zwischen Aktivität und Privatheit: Die Art, in der mehrere Schwellenräumen zwischen dem belebten Straßensaum und dem mehr spirituellen Inneren des Blocks hintereinander gestaffelten sind, macht diese Anlage zu einem exemplarischen Modell.
Die Ladenzone ist von der Straße etwas abgehoben, die Wohnungen liegen über der Ladenzone und sind von ihr auch räumlich geschickt getrennt, sodass sich die Funktionen nicht stören. Der Entwurf von Hillside Terrace geht über puristisches Urban Planning weit hinaus. Er basiert auf einem fragmentierten urbanen Layout, das in der Lage gewesen ist, auch auf sich im Lauf der Zeit wandelnde Ansprüche, was öffentlicher Raum ist, zu reagieren. Insofern ist gerade heute die Analyse, wie Maki diese Räume im Laufe einer dreißig Jahre währenden Planung in mehreren Bauphasen miteinander verknüpft hat, faszinierend und lehrreich zugleich.
Fumihiko Makis offene, nicht bis ins Detail festgelegte Art stadtplanerischen Denkens lässt sich in vier Grundprämissen zusammenfassen: Modularität, Standardisierung von Komponenten, Anpassungsfähigkeit an Veränderung und Pragmatismus bei der Beantwortung stadtplanerischer Fragestellungen. Mit jeder Erweiterung hat der japanische Architekt diese offene Beziehung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen im Blick behalten, selbst noch, als es um die Einbindung der dänischen Botschaft ging. Dies gelang ihm, weil die Möglichkeiten programmatischer Veränderungen bereits in seinen ersten Entwurfsansatz eingeschrieben waren. 



Fakten
Architekten Brinkman, Michiel (1873-1925); Ginzburg, Moisei (1892-1946); Milnis, Ignaty; Chamberlin, Peter; Powell, Geoffry; Bon, Christoph; Arup, London; Pouillon, Fernand (1912-1986); Erskine, Ralph (1914-2005); Renaudie, Jean (1925-1981); Maki, Fumihiko, Tokio
aus Bauwelt 36.2013

0 Kommentare


loading
x

26.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.