Am Lokdepot
Wohnanlage
Text: Kleilein, Doris, Berlin
Eine Stadtkante zwischen Gründerzeitviertel und Gleisfeld: Robertneun haben in Berlin ein Modell für Wohnen und Gewerbe entworfen, das städtebaulich und architektonisch ein Ausrufezeichen setzt
Eigentlich hätte an dieser Stelle ein Discounter stehen sollen. Als das Berliner Büro Robertneun 2006 beauftragt wurde, eine Studie für die innerstädtische Brache nahe dem Berliner Südkreuz zu machen, war es offensichtlich, wie es dort weitergehen sollte: Die Auftraggeber hatten das 21.000 Quadratmeter große Grundstück entlang der Gleistrasse von der Bahntochter Vivico Real Estate erworben und wollten ein Gewerbegebiet entwickeln, ganz im Duktus der Aldis und Lidls entlang der Schiene gen Norden. Von steigenden Mieten, von Nachverdichtung als Ziel der Stadtentwicklung, gar von der Notwendigkeit des Wohnungsbaus war in Berlin damals keine Rede, schon gar nicht auf einer Schöneberger Brache zwischen zwei stark befahrenen Straßen im Norden und Süden und der Trasse für Fern- und S-Bahn im Westen. Die Architekten Nils Buschmann und Tom Friedrich aber dachten weit in die Zukunft, weiter, als es anscheinend so manch politisch Verantwortlichem möglich war: Das Grundstück grenzt nicht nur an die Bahntrasse, sondern auch an die beiden Depothallen des Deutschen Technikmuseums aus den 1930er Jahren und darüber hinaus an den (2012 eröffneten) „Park am Gleisdreieck“ – warum sollte dieser Ort nicht auch zum Wohnen geeignet sein? Warum sollte es nicht eine Klientel geben, die die „postindustrielle Romantik“ und den weiten Blick über die Gleise zu schätzen weiß? Eine Mischung aus Wohnungstypologien auf einem Sockel mit großzügigen Flächen für Gewerbe und Kultur – mit diesem Modell gingen die Architekten fortan hausieren. Acht Jahre hat es gedauert, bis im März 2014 die ersten drei Häuser „Am Lokdepot“ fertiggestellt wurden. Acht Jahre, in denen das Projekt im politischen Betrieb fast zermahlen worden wäre und sich die Stadtentwicklungspolitik des Berliner Senats grundlegend gewandelt hat.
Der kräftige Rohbau Von der Monumentenstraße aus, an der die ersten roten Kopfgebäude entstanden sind, kann man sich die zukünftige Stadtkante bereits vorstellen: Der mit Ziegelstein verkleidete Sockel folgt der Topographie des Geländes, das zu den Hallen des Lokdepots hin um bis zu sieben Meter abfällt und zur Dudenstraße wieder auf das Niveau der Nachbarschaft ansteigt. Oben, an der Straße, ist der Sockel nur ein paar Stufen hoch, in der Senke wird er bis zu zwei Geschosse mit Gewerbeflächen aufnehmen. Auf diesem architektonischen Fundament sollen 16 Häuser mit insgesamt 220 Wohnungen errichtet werden, mit einem verglasten Kopfbau an der Dudenstraße als Abschluss. Die städtebauliche Setzung ist klassisch: Die Bebauung schließt den unvollendeten Blockrand der Gründerzeit an der Eylauer Straße, dessen Brandwände und Seitenflügel bislang offen zur Gleisanlage stehen – eine Stadtreparatur, exakt wie sie das „Planwerk Innere Stadt 2010“ (eine Weiterentwicklung des umstrittenen „Planwerk Innenstadt“ von 1999) auch vorsieht. Was das Projekt auszeichnet, ist der Wille zum großen Ganzen: Die Häuserfront wurde nicht etwa parzelliert und den Gestaltungswünschen einzelner Eigentümer preisgegeben, sie wird zusammengehalten durch ein architektonisches Konzept. Drei Haustypen (S, M und L) mit unterschiedlichen Breiten, Wohnungstypen, Fassadenelementen und Erschließungen reihen sich auf dem Sockel auf. Einen „kräftigen Rohbau“ haben die Architekten entworfen, ein Stahlbetongerüst, das eine freie Gestaltung der Innenräume ermöglicht, basierend auf einem Raster von 3,50 Meter. Diese sorgfältig kultivierte und gezähmte Individualität wird betont durch eine selbstbewusste Farbe. Die Fassaden bestehen durchweg aus rötlich eingefärbtem Sichtbeton und aus Metallteilen, die in Feuerwehrrot (RAL 3000) lackiert sind; Balkone, Loggien, Geländer, das komplette, im Hof stehende Treppenhaus von Haus M, alles rot: Bernhard Tschumi hätte seine Freude an diesen in Serie gegangenen Follies. Wo auch immer dieses Rot herkommt, ob von der Industriearchitektur oder von der „Roten Insel“, dem ehemaligen Arbeiterviertel, das auf der anderen Seite der Gleise liegt – die rote Wand wird bald die Reisenden im Süden der Stadt empfangen, weithin sichtbar vom neuen Park aus, von den beiden Brücken, aus den vorbeirauschenden Zügen.
Vom Bezirk ins Baukollegium
„Die Innenentwicklung steht im Vordergrund einer integrierten, nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik“, so ist es im 2012 überarbeiteten Stadtentwicklungsplan „Wohnen“ des Berliner Senats zu lesen. „Die Deckung des Wohnungsbedarfs soll vorrangig durch Bestandsergänzungen erfolgen“, heißt es weiter. Das ist vorbildlich, das ist, zumal für Berlin mit seinen vielen Brachen, mit Sicherheit der beste Weg, der nach der irrwitzigen Ausschreibung von Stadtentwicklungsgebieten am Berliner Stadtrand in den neunziger Jahren jetzt endlich auch beschritten wird. Dass es nicht immer ein einfacher Weg ist und ein hohes Maß an Zusammenarbeit vieler Beteiligter erfordert, zeigt das Projekt „Am Lokdepot“ par excellence. Zunächst stieß das Bauvorhaben auf Zustimmung beim zuständigen Stadtplanungsamt Schöneberg-Tempelhof, mit dem sich die Architekten nach dem Durchspielen anderer, auch durchlässiger städtebaulicher Varianten auf die Stadtkante einigten. Ablehnung und Bürgerprotest kam dagegen aus dem Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain, der im Osten an das Grundstück grenzt. Aus dem Neubauprojekt wurde ein Politikum: SPD und die Grünen (Kreuzberg) gegen CDU (Schöneberg), Bestandsmieter der Nachbarschaft gegen neue Eigentümer, die ihnen den Status quo und den Weitblick nehmen. 2010/2011, kurz vor Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, wäre das Projekt beinahe gescheitert: Die Bezirksverordnetenversammlung Schöneberg-Tempelhof stimmte dagegen. Die Rettung nahte von oben: „Am Lokdepot“ wurde an das Baukollegium Berlin verwiesen, ein von Senatsbaudirektorin Regula Lüscher 2008 ins Leben gerufenes Gremium, das das Projekt als „vorbildlich“ einstufte und die Ausarbeitung eines Vorhabenbezogenen Bebauungsplans empfahl. Dieser ist seit Januar 2013 in Kraft und garantiert die wesentlichen Elemente des städtebaulichen und des architektonischen Entwurfs.
In der Zwischenzeit wechselte auch der Eigentümer der Liegenschaft: Die Mamrud und Smuskovics Grundbesitz verkaufte an die UTB GmbH, die sie bereits 2010 als Projektsteurer hinzugezogen hatte. Fortan wurden in Steuerungsrunden mit allen Beteiligten Kompromisse ausgehandelt: weniger Gewerbeflächen im Hof, an der engsten Stelle zum Bestand treppt die Bebauung um zwei Geschosse ab und verjüngt sich. Auch die Symbiose mit dem Park wurde besiegelt: Durch einen Grundstückstausch mit dem Land endet der Park nun vor der Haustür. Bei der Eröffnung der Fahrradrampe, die den Radwanderweg Berlin-Leipzig vom Park auf die Monumentenbrücke fortführt und vom Eigentümer finanziert wurde, sah man zufriedene Gesichter. Die Bürgerinitiativen widmen sich jetzt dem nächsten Bauprojekt im Kiez, die Wogen sind geglättet. Das Projekt läuft. Doch gilt das auch für die Architektur?
Der Markt ist mitgezogen
In Berlin wird viel von günstigen Wohnungen geredet, gebaut wird vor allem freifinanziert und entsprechend teuer. Am Lokdepot ist das nicht anders. Ab 3300 Euro aufwärts kostet der Quadratmeter Wohnfläche. Die Wohnungen in den ersten drei „originalen“ Häusern überzeugen durch räumliche Qualitäten: Haustyp M folgt der Logik des Lofts mit durchlaufenden Loggien auf beiden Seiten und einer Kernzone mit elegant in den Boden eingelassenen Anschlüssen für Bad und Küche. Im Haustyp L gehören zu jeder Wohnung zwei weit auskragende Balkone und ein „Gewächshaus“ mit 4,31 Meter Raumhöhe. Um diesen lichten Kern gruppieren sich je nach Wohnungszuschnitt weitere Zimmer auf zwei Ebenen, zum Teil abgetrennt durch Wände aus Glas, Holz, Mauerwerk und (öfter auch) Gipskarton. Das Rohbaugefühl bleibt dank der ablesbaren Struktur erhalten, selbst wenn der Sichtbeton mitunter gestrichen wurde. Das Modulprinzip erlaubt Wohnungsgrößen zwischen 52 und 162 Quadratmetern mit unterschiedlichen Grundrissen, es führt zu vielfältigen räumlichen Situationen, zu Aus- und Durchblicken – aber auch zu großen Erschließungszonen im Kern. Es sind grandiose Behausungen für Bewohner, die das „Durchwohnen“ schätzen und offene Räume zu bespielen wissen. Für Familien mit mehreren, vielleicht auch halbwüchsigen Kindern kommen nur die größeren Wohneinheiten in Frage.
Der Berliner Wohnungsmarkt ist in den letzten Jahren mitgezogen, die Preise werden heute bezahlt. Bei den weiteren Häusern will UTB-Geschäftsführer Thomas Bestgen dennoch an der Kostenschraube drehen. Geht es um Rendite? Oder um die Wohnvorstellungen der Mittelschicht? Darüber kann man geteilter Meinungen sein. Ursprünglich sollten Robertneun die gesamte Abwicklung planen, ab Haus 7 hat der Bauherr Planung und Bau an einen Generalplaner übergeben. Das Konzept der Architekten bleibt bestehen, es ist ohnehin im B-Plan festgeschrieben. An den Markt angepasst werden sollen die Wohnungen durch Holz- statt Alufenster, durch WDVS und drei anstelle von zwei Zimmern zur Hofseite, durch den Verzicht auf die doppelgeschossigen Gewächshäuser in Haus L, aber auch durch weniger S-Häuser, da diese als Einspänner mit 86-Quadratmetern relativ aufwendig zu bauen sind.
Wie stark ist das Konzept?
Wie viel Veränderung verträgt das Konzept? Sind es am Ende nur Architektenkollegen, die erkennen werden, dass die Fenster im Verlauf der Bebauung vertikal statt horizontal geteilt sind und der Rhythmus aus drei Haustypen anders ist als vorgesehen? Was passiert mit dem dominaten Kopfbau an der Dudenstraße, wenn er von Bauingenieuren geplant wird?
Was hätte nicht alles werden können, wenn das vormals öffentliche Grundstück nicht durch Privatisierung, Verkauf und Wiederverkauf immer teurer geworden wäre. Wenn Bezirk und Senat an einem Strang gezogen und Modelle wie Genossenschaften unterstützt hätten. Nicht auszudenken, dass gute Architektur eines Tages bezahlbar werden könnte.
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