Architekturschule Tournai
Der neue Standort im Stadtzentrum für die Architekturschule Tournai ist eine sperrige, dicht bebaute Industriebrache. Der überraschende Lösungsvorschlag von Manuel und Francisco Mateus konzentriert sich auf eine einzige, architektonisch prägnante und zugleich urban wirkende Intervention. Die Durchlässigkeit gegenüber der Umgebung ist Konzept.
Text: Scoffier, Richard, Paris
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Luftbild mit Blick auf das Areal von Osten; links oben die Schelde, hinten die Rue Haigne.
Abb.: Architekten
Luftbild mit Blick auf das Areal von Osten; links oben die Schelde, hinten die Rue Haigne.
Abb.: Architekten
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Nach Südwesten liegt im Blockinneren ein gärtnerisch gestaltbarer Hof, in den sich die Hauptachse der Architekturschule mit einer großen Verglasung gegenüber dem Audimax öffnet.
Abb.: Tim van de Velde
Nach Südwesten liegt im Blockinneren ein gärtnerisch gestaltbarer Hof, in den sich die Hauptachse der Architekturschule mit einer großen Verglasung gegenüber dem Audimax öffnet.
Abb.: Tim van de Velde
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Der Eingangsbereich
Abb.: Tim van de Velde
Der Eingangsbereich
Abb.: Tim van de Velde
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Die Hauptachse der Schule, Blick Richtung Osten.
Abb.: Tim van de Velde
Die Hauptachse der Schule, Blick Richtung Osten.
Abb.: Tim van de Velde
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Das „Giebelhaus“ des Audimax und gegenüber ...
Abb.: Tim van de Velde
Das „Giebelhaus“ des Audimax und gegenüber ...
Abb.: Tim van de Velde
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... die Öffnung in den Gartenhof.
Abb.: Tim van de Velde
... die Öffnung in den Gartenhof.
Abb.: Tim van de Velde
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Zur Rue de Glategnies im Osten des Hochschulareals bildet das zwischen zwei industrielle Altbauten geschobene neue Gebäude einen Vorplatz.
Abb.: Tim van de Velde
Zur Rue de Glategnies im Osten des Hochschulareals bildet das zwischen zwei industrielle Altbauten geschobene neue Gebäude einen Vorplatz.
Abb.: Tim van de Velde
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Blick auf den Vorplatz
Abb.: Tim van de Velde
Blick auf den Vorplatz
Abb.: Tim van de Velde
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Hinter der geschlossenen Wandpartie schraubt sich die doppelläufige Treppe in die Höhe.
Abb.: Tim van de Velde
Hinter der geschlossenen Wandpartie schraubt sich die doppelläufige Treppe in die Höhe.
Abb.: Tim van de Velde
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Die Fassade der Hochschule in der Rue Haigne zeigt auf dem Weg Richtung Schelde zunächst drei große, verglaste Flächen.
Abb.: Tim van de Velde
Die Fassade der Hochschule in der Rue Haigne zeigt auf dem Weg Richtung Schelde zunächst drei große, verglaste Flächen.
Abb.: Tim van de Velde
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Kommt man hingegen vom Flussufer die Straße hinauf, öffnen sich Gebäude und Gelände über eine
ausgesparte Ecke.
Abb.: Tim van de Velde
Kommt man hingegen vom Flussufer die Straße hinauf, öffnen sich Gebäude und Gelände über eine
ausgesparte Ecke.
Abb.: Tim van de Velde
Bis heute stammen 90 Prozent der 550 Studierenden an der belgischen Ecole d’architecture de Tournai aus Frankreich. Der historische Rückblick macht rasch deutlich, weshalb: Ursprünglicher Sitz der Schule war Paris, die Katholische Kunstschule der Anfangszeit entstand als Gründung der Frères de Passy, eine Laienbrüderschaft der Fratres Scholarum Christianarum. Als sich in Frankreich zu Anfang des 20. Jahrhunderts die institutionelle Trennung zwischen Staat und Kirche abzuzeichnen begann, emigrierte man nach Belgien. Ab 1904 bezog die Schule ihren neuen Standort in Froyennes, einer grenznahen kleinen Gemeinde bei Tournai. Das Konzept einer zweistufigen Ausbildung unter einem Dach blieb unverändert, und im Sinne einer effizienten Anbindung an die französische Hauptstadt sorgte man sogar für eine Eisenbahnlinie und einen eigenen Bahnhof. Später wurde das Ensemble Teil des Institut Saint-Luc, dem die 16 Kunsthochschulen im französischsprachigen Belgien und weitere Standorte im Ausland angehören. Seit 2010 ist die Ecole d‘architecture eine Institution der l’Université Catholique de Louvain (UCL).
Sowohl die räumlichen Bedingungen als auch die neue institutionelle Zugehörigkeit legten den Standortwechsel ins Stadtzentrum von Tournai nahe, immerhin setzt die Stadt im Kampf gegen die fortschreitende Abwanderung stark auf die Universität. Angedacht war zunächst ein Neubau an der Place de l’Evêché in unmittelbarer Nähe der mittelalterlichen Kathedrale, doch schließlich wurde der Schule die zentral gelegene Industriebrache zugesprochen, die mit viel Raum, einem Herrenhaus aus dem 17. und zwei backsteinernen Fabrikbauten aus dem 19. Jahrhundert aufwartet.
Nach napoleonischem Vorbild
2013 traten fünf Büros – AAVO, Aires Mateus, Lacaton & Vassal, Robbrecht en Daem und V+ – in einem Entwurfswettbewerb gegeneinander an. Das Areal erwies sich als sperrig. Nur Lacaton & Vassal und den portugiesischen Preisträgern gelang der nötige Abstand für die Entwicklung ausreichend kompromissloser Lösungsansätze.
Das Konzept der Brüder Manuel und Francisco Aires Mateus frappiert durch Einfachheit, Konsequenz und eine wagemutige Radikalität. Mitleidslos wurden Nebengebäude zugunsten ei-ner zentralen Mittelachse quer durch die Parzelle niedergerissen, wodurch eine direkte Verbindung zwischen der Rue du Glategnies und der Rue Haigne entstand. In den so geschaffenen Freiraum setzten die Architekten einen Querriegel, der sich zwischen die beiden einander gegenüberliegenden Fabrikfassaden schiebt. Der Neubau sorgt für ihre Erschließung und quasi nebenbei wird auch gleich das Hofareal definiert. Dieser Akt souveräner Durchsetzungskraft hat durchaus napoleonischen Einschlag: 1810 befahl der Eroberer in Venedig die „Alea Napoleonica“ als Ergänzungsflügel zu den Neuen Prokuratien und westlichem Abschluss für den Markusplatz – und opferte dafür San Geminiano, einen Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert von Jacopo Sansovino.
Beidseits der Mittelachse finden die Bestandsgebäude zu ihrer Bestimmung. Die Bibliothek bzw. das Medienarchiv belegen die Erdgeschosse von früherer Weberei und Spinnerei, während sich die Studierenden ihre Arbeitsplätze im Obergeschoss einrichten. Das etwas abseits gelegene frühere Herrenhaus ist jetzt Sitz der Verwaltung, und in den Gebäuden jüngeren Datums sind die neutral gehaltenen Seminarräume untergebracht. Quasi im Sinne eines Schlusssteins für das Ensemble ist der neue Querriegel aus Ortbeton als überdachtes Forum konzipiert. Der Wettbewerbsentwurf sah vor, den Raum ganz ohne Trennwände zum Hof hin offen zu halten, nach Vorbild etwa der Gildehäuser, die mit Arkaden eine Öffnung auf den Platz gestalten. In der Endausführung schützt eine fest eingebaute Glasfront das Herzstück des Areals: Hier werden öffentliche Entwurfskritiken abgehalten, Ausstellungen präsentiert, Feste gefeiert und Preise vergeben; das Audimax ist Ort für Vorlesungen, Konferenzen und Workshops, wobei man das leicht abfallende Gelände wirkungsvoll für eine großzügige Abtreppung bis zur gegenüberliegenden Straßenseite genutzt hat.
Die Innenausstattung ist wie bei der Bibliothek und der Mensa flexibel. In den Kopfstücken der langgestreckten „Box“ liegen die beiden Treppenhäuser, auf der einen Seite – in Richtung der Zeichensäle und Werkstätten – schraubt sich eine doppelläufige Treppenspirale dem Licht entgegen, am anderen Ende erschließen streng parallel geführte Läufe die darüber liegenden Unterrichtsräume.
Modellage der Form
Fraglos das Spannendste am Entwurf ist aber die Art und Weise, wie die beiden rchitekten das zugrunde liegende konzeptuelle Leitmotiv durchzusetzen wissen, und wie es ihnen gelingt, mittels der dialektischen Gegenüberstellung von negativer und positiver Form, von Modellieren und Aussparen, die Eigenheit der Stadt Tournai aufzugreifen und neu zu interpretieren. „Situative Ereignisse“ wäre vielleicht ein passender Ausdruck für das, was das Stadtgefüge zu bieten hat – etwa dann, wenn durch eine nahtlos geschlossene Randbebauung perfekt gerahmt wirkende Plätze unversehens dennoch durchlässig werden und über herausmodellierte Passagen miteinander in Verbindung treten. So wird der Narthex der Kathedrale Notre Dame an der Schmalseite der Place de l’Evêché von einem gedrungenen Rundbogen angeschnitten, der den öffentlichen Raum an den dahinterliegenden Vieux Marché au Poteries anbindet.
Eben dieses Prinzip wenden nun die Architekten systematisch auf ihre neue Betonbox an, die zwischen die Altbauten eingestellt für Zusammenhalt sorgen soll. Die allenthalben eingeschnittenen Hohlformen wirken als Zitate einer ebenso simplen wie archetypischen Haus-Silhouette, zugleich sind sie formale Marker für all die Übergangssituationen, die der Bau zu leisten hat: Haupt- und Nebeneingänge, Toreinfahrten, Loggien mit vorgelagerten Terrassen, scharf gegen den Himmel konturierte Oberlichter, dazu in die Mauern des Forums gefräste Durchgänge für eine bessere Anbindung an die Nebengebäude, über die ja die zentrale Stellung des Neubaus überhaupt erst definiert ist. Im Umkehrschluss setzt das Auditorium mit seiner bewussten Positiv-Form einen Gegenpol zu all diesen Aussparungen und Umrissen. Das Verfahren ist allgegenwärtig, und am Ende wirkt es dann doch einige Male zu oft durchdekliniert.
Bevor ich das Areal verlasse, werfe ich vom Hofplatz aus noch einen Blick auf das wuchtige Kragelement, das bis auf einen schmalen Spalt direkt an die alte Weberei heranreicht. Die Negativform eines spitzgiebligen Hauses formuliert hier ein emblematisches Portal. Es ist ein Vexierspiel aus räumlichem Bauelement und Zunftzeichen, dessen Hohlform nachgerade danach schreit, mit Entwürfen gefüllt zu werden: Architektur ist die Kunst, Häuser zu bauen. Die Gesamtwirkung ist eine schier bildhafte Komposition mit leisen Anklängen an die Bilderwelten eines René Magritte, Paul Delvaux oder Philippe Dujardin. Dass diese Architektur derart bruchlos an die halluzinatorischen Nebelwelten Walloniens anknüpft, überrascht dann doch.
Aus dem Französischen von Agnes Kloocke
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