Bauwelt

Astley Castle und der Landmark Trust



Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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    Foto: Hélène Binet

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Eine Burgruine in den englischen Midlands wurde zum Feriendomizil. Witherford Watson Mann haben sich auf einen Teilausbau beschränkt, in dem Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen zu ihrem Recht kommen
Ein Rittergut, in mehreren Phasen über Jahrhunderte entstanden, eine gotische Kirche und ein Friedhof mit windschiefen Grabsteinen, drumherum eine malerisch-hügelige Kulturlandschaft aus kleinen Wäldern, Seen, Äckern und Weiden – für einen Kurzurlaub zum „England-Tanken“ wirkt Astley Castle in der Grafschaft Warwickshire, vier Meilen südwestlich der Stadt Nuneaton, wie geschaffen. Das muss sich auch der Landmark Trust gedacht haben, als er Mitte des letzten Jahrzehnts daranging, das 1978 durch ein Feuer verwüstete Herrenhaus vor dem endgültigen Verfall zu bewahren. Zehn Jahre zuvor war ein Anlauf dazu noch gescheitert: Ein Wiederaufbau der Ruine, wie damals verfolgt, erwies sich schlicht als zu kostspielig – selbst für eine Organisation wie den Landmark Trust.

Von Sir John Smith 1965 als Wohltätigkeitsorganisation gegründet, verfolgt die Stiftung das Ziel, mit Hilfe privater Spendengelder historisch bedeutsame Gebäude, für die sich kein privater Nutzer finden lässt, zu bewahren, indem sie sie als Ferienunterkunft mit neuem Leben füllt. Inzwischen besitzt die Stiftung rund 190 Objekte unterschiedlicher Größe und einstiger Bestimmung; ihre Bauzeit datiert zwischen Mittelalter und 20. Jahrhundert. Die meisten befinden sich auf den britischen Inseln, aber auch in Frankreich und Italien kann der Trust inzwischen Gebäude vermieten; in den USA und Irland gibt es Schwesterorganisationen mit weiteren Anwesen.

Mit Astley Castle hat der Trust Neuland betreten. Da die Rekonstruktion des Bauwerks nicht möglich war, musste ein anderer Weg gefunden werden, um das Anwesen zu retten, das immerhin als das Stammhaus dreier englischer Königinnen gilt: Elizabeth Woodville, Gattin von Edward IV, Elizabeth of York, Gemahlin von Henry VII, und Lady Jane Grey, Königin für nur neun Tage im Juli 1553 und im Februar darauf im Tower zu London enthauptet. Und also kam die Stiftung zurück an den so geschichtsträchtigen wie stimmungsvollen Ort mitsamt der Bereitschaft, dem historischen Gemäuer einen Eingriff zuzumuten – ein Architektenwettbewerb sollte Ideen für den Umgang mit den Resten von Astley Castle liefern.
 Aus der Konkurrenz von 12 Büros gingen 2006 die jungen Londoner Architekten Witherford Watson Mann als Sieger hervor. Ihr Ansatz: die Ruine so weit wie möglich belassen und die für die vorgesehenen maximal acht Übernachtungsgäste erforderlichen Räumlichkeiten in den ältesten, mittelalterlichen Trakt von Astley Castle hineinbauen. Nachdem der Landmark Trust das Geld für die Baumaßnahme gesammelt hatte – der größte Teil, 2,5 Millionen Pfund Sterling, floss aus dem Heritage Lottery Fund und von English Heritage, hinzu kamen private Spenden –, konnten die Architekten ihren Entwurf in den vergangenen zwei Jahren ohne Abstriche und größere Veränderungen realisieren.

Maximales denken, Minimales tun

„Wir haben es gelernt, als die vierten oder fünften Architekten an einem Gebäude zu arbeiten“, sagt William Mann beiläufig während des Rundgangs durch das im Juli fertiggestellte Gebäude. Das Selbstbewusstsein, das daraus spricht, könnte angesichts der jugendlichen Erscheinung des Architekten überraschen, ist aber berechtigt. Nach dem britischen Hauptsitz von Amnesty International in London (Bauwelt 6.2007) und dem Umbau der Whitechapel Gallery im Osten der Kapitale (Bauwelt 21.2009) sahen sich die Architekten hier, in der länd­lichen Umgebung der Midlands, erneut einem Ort gegenüber, an dem sich bauliche Spuren aus mehreren Epochen überlagerten: Die erste Bauphase der Burg stammt aus dem 11., 12. und 13. Jahrhundert; eine erste Erweiterung nach Nordosten, die den rechteckigen Grundriss in eine L-Form überführte, aus dem 15. und 16. Jahrhundert; deren Erweiterung in Richtung Norden und Süden, die den nun winkelförmigen Bau in einen Quader zurückverwandelte, datiert ins 17. Jahrhundert; schließlich erfolgte im 19. Jahrhundert eine letzte Erweiterung, mit der das Gebäude nochmals nach Norden hin verlängert wurde.

All das präsentierte sich 2006, im Jahr des Wettbewerbs, stark fragmentiert, ohne Dächer und Zwischendecke, der Witterung seit mehr als einem Vierteljahrhundert schutzlos ausgeliefert. Selbst wenn nicht Mangel an Geld und Nutzungsideen für das Gesamtvolumen die Rekonstruktion von Astley Castle verhindert hätte, so legten die ruinöse Situation einerseits und die nie zur Ruhe gekommene bauliche Entwicklung des Schlosses andererseits doch den Ansatz nahe, dem Ort eine weitere Zeitschicht einzuschreiben.
Bei der Frage nach der architektonischen Haltung zu Alt und Neu sind die Architekten ihrem in zehn Jahren Büropraxis entwickelten Ansatz treu geblieben: „Accepting the maximum, but doing the minimal“ – den größtmöglichen Eingriff denken, aber den kleinsten vornehmen. Ein Prinzip, das für Witherford Watson Mann auf allen Maßstabsebenen ihrer Arbeit gilt: im Städte- wie im Hausbau, bei der Quartiersentwicklung wie im Denkmalschutz; es impliziert eine soziale wie eine gestalterische, eine historische wie eine politische Dimension. So pragmatisch und bescheiden dieser Ansatz auf den ersten Blick auch scheint, das Ergebnis ist ein stimmiges Ganzes: eine Architektur, in der die Vergangenheit nicht als etwas Fremdes, Abgeschlossenes präsentiert wird, sondern sich als etwas Fortdauerndes zeigt, das der Gegenwart erst ihren Sinn stiftet.

Diese Qualität offenbart sich dem Besucher auf den ersten Blick, und sie begleitet ihn bis hinein in die neu entstandenen Gästezimmer. Dem winzigen Dorf, das zum Schloss gehört, weist Astley Castle seine Südfassade. Nähert man sich dem Anwesen, führt der Castle Drive auf die Südostecke des Schlosses zu. Schon hier treten dem Betrachter sämtliche Bauphasen der komplexen Substanz vor Augen: Der Strebepfeiler, der die Südfassade in zwei Hälften teilt, markiert die Südostecke des mittelalterlichen Baus; zusammen mit dem Strebepfeiler an der Südwestecke rahmt er die neue Fassade der von Witherford Watson Mann in diesen ältesten Trakt hineingebaute Ferienunterkunft, welche sich über zwei Geschosse erstreckt: unten Eingangshalle, vier Schlafräume und Bad, oben die große, nicht unterteilte Wohnküche. Rechts neben diesem heute zugleich ältesten und neuesten Trakt bildet die Erweiterung des 17. Jahrhunderts mit zwei etwa gleich langen Fassadenabschnitten die heutige Südostecke des Baukörpers; danach folgen, in einer Linie die Ostfassade bildend, die Erwei-
terung aus dem Spätmittelalter, die Verlängerung des 17. Jahrhunderts, die nur eine Raumachse misst, und schließlich die letztmalige Erweiterung im Historismus (von der außer diesem Fassadensegment nichts weiter übrig ist).

Harter Stein wird weich, weiches Holz bleibt hart
Mag sich die jüngste Bauphase stilistische Freiheit und sogar einen Materialwechsel erlauben – sie fügt sich doch ins Bild. Der für die Fassaden verwendete Backstein etwa ist nur eine Nuance heller als der rote Naturstein des Bestands und „vernäht“ mit seinem kleinteiligen Fugenbild die Fehlstellen der Ruine. Gebrannter Ton begegnet dem Betrachter innen wie außen, in unterschiedlicher Gestalt: an Wandpartien aus neuen Ziegeln, Abbruchziegeln oder Terrakotten. Eine ähnliche Bandbreite zeigt das zweite den Ausbau der Ruine dominierende Material: das Holz. Während die Fenster, deren enge vertikale Teilung die Architekten aus jener der gotischen Öffnungen abgeleitet haben, und die neue Treppe, die aus der Eingangshalle hinauf in den Wohnbereich führt, in Eiche aus­geführt wurden, kam für die Deckenbalken Kiefernholz zum Einsatz, Wandoberflächen wiederum wurden aus Birkenschichtholz gefertigt. Die mit diesen Materialien und ihrer Verarbeitung erzielte Stimmung der Räume erscheint der Besonderheit des Ortes angemessen; weder auf Kontrast noch auf Anbiederung bedacht.

Bemerkenswert ist, wie neues und altes Material aufeinandertrifft. Das eigentlich harte, gebrannte scheint bei der Berührung mit den alten Mauern plötzlich weich zu werden, gerade so, als wolle es die vielen Ungleichmäßigkeiten, Löcher und Schründe wie gegossen ausfüllen; das vermeintlich weichere, gewachsene hingegen bleibt der strengen Geometrie verpflichtet. Diese Regel erschließt sich dem Besucher spätestens dann, wenn er in den kleinen Patio tritt, den das außerhalb des mittelalterlichen Baukörpers zwischen Burg und Ringmauer entstandene Gastzimmer bildet: Seine Fassade wurde eben nicht mit Backstein, sondern mit Holz an die unregelmäßige Außenwand der Burg angepasst – ein wenig überzeugendes Experiment, wie William Mann freimütig einräumt.

Analog zum Umgang mit Ziegel und Terrakotta verfuhren die Architekten mit dem Glas. Plane Flächen erschienen ihnen als zu hart, was sie dazu führte, die Fenster in der Tiefe zu staffeln. Neben der Wirkung, dass Spiegelungen gebrochen werden und räumliche Verzahnungen entstehen, macht die so erzielte Plastizität die Fenster auch unempfindlicher gegen Windlasten. Die senkrecht zur Fassade angeordneten Scheiben sind dabei Teil der Rahmenkonstruktion.

Der von einem ehemaligen Kamin in zwei Bereiche geteilte „Hof“, der die gesamte Ostseite von Astley Castle einnimmt, überträgt dieses Prinzip von Staffelung und Annäherung auf einen größeren Maßstab. Der hohle Baukörper der ausgeweideten Ruine wirkt mit all seinen Resten von Ausbauelementen – Türen, Fenstern, Laibungsbrettern – und mit dem über ihn ausgreifenden, von großen Öffnungen perforierten Dach der Ferienunterkunft wie eine Art Sonnenuhr, die diesen Übergangsbereich zwischen Garten und Gebäude zu einem besonderen Raum der Wahrnehmung von Licht und Schatten werden lässt – und damit zu dem Teil des Projekts, der das Verstreichen der Zeit als Ausgangspunkt des Entwurfs am deutlichsten zum Ausdruck bringt.



Fakten
Architekten Witherford Watson Mann, London
aus Bauwelt 42.2012
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