Bauwelt

Die Bibliothek Alexis de Tocqueville in Caen


Die Bibliothek in der nordfranzösischen Universitätsstadt Caen ist ein überraschend bescheidener Neubau von Rem Koolhaas. Er nimmt sich vor allem in seiner äußeren Erscheinung zurück. Innen entwickelte OMA Ideen zum Thema offene Bibliothek weiter, die das Büro seit 30 Jahren verfolgt


Text: Redecke, Sebastian, Berlin


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    Das Kreuz mit seinen Bezugspunkten. Luftfoto: © OMA

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    Das Kreuz mit seinen Bezugspunkten.

    Luftfoto: © OMA

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    Blick auf die neue Stadterweiterung mit Bibliothek, Kanuclub, Justizpalast und dem Canal de Caen à la Mer.
    Foto: Julien Lanoo

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    Blick auf die neue Stadterweiterung mit Bibliothek, Kanuclub, Justizpalast und dem Canal de Caen à la Mer.

    Foto: Julien Lanoo

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    Der Landschaftsplaner Michel Desvigne entschied sich zwischen den Neubauten für weiträumige Grünflächen.
    Foto: Philippe Ruault

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    Der Landschaftsplaner Michel Desvigne entschied sich zwischen den Neubauten für weiträumige Grünflächen.

    Foto: Philippe Ruault

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    Der Vortragssaal schiebt sich vom Erdgeschoss tief ins Untergeschoss. Die perforierten Vorhänge gestaltete Petra Blaisse (Inside Outside).
    Foto: Philippe Ruault

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    Der Vortragssaal schiebt sich vom Erdgeschoss tief ins Untergeschoss. Die perforierten Vorhänge gestaltete Petra Blaisse (Inside Outside).

    Foto: Philippe Ruault

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    An den Enden der Gebäudeflügel befinden sich unterschiedlich gestaltete Lese- und Arbeitsräume.
    Foto: Antoine Cardi

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    An den Enden der Gebäudeflügel befinden sich unterschiedlich gestaltete Lese- und Arbeitsräume.

    Foto: Antoine Cardi

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    Kleine Lese- und Besprechungsnische am Ende des Literaturflügels.
    Foto: Antoine Cardi

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    Kleine Lese- und Besprechungsnische am Ende des Literaturflügels.

    Foto: Antoine Cardi

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    Das Foyer mit dem halbrunden Holzmöbel „Pressekiosk“.
    Foto: Antoine Cardi

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    Das Foyer mit dem halbrunden Holzmöbel „Pressekiosk“.

    Foto: Antoine Cardi

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    Die Glasfassade, ohne Stützen, bietet maximale Transparenz.
    Foto: Antoine Cardi

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    Die Glasfassade, ohne Stützen, bietet maximale Transparenz.

    Foto: Antoine Cardi

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    Die Möbel können frei im Raum verteilt werden. Alle Regale sind auf Rollen. Die Fassaden-Glasele­mente (2.00 x 6.20 m) wurden von einer Spezialfirma in Padua hergestellt.
    Foto: Philippe Ruault

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    Die Möbel können frei im Raum verteilt werden. Alle Regale sind auf Rollen. Die Fassaden-Glasele­mente (2.00 x 6.20 m) wurden von einer Spezialfirma in Padua hergestellt.

    Foto: Philippe Ruault

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    Einer der Innen­höfe vom 2. OG mit Sitzstufen schiebt sich schräg ins 1. OG. Ein schmales Fensterband bietet Einblicke.
    Foto: Philippe Ruault

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    Einer der Innen­höfe vom 2. OG mit Sitzstufen schiebt sich schräg ins 1. OG. Ein schmales Fensterband bietet Einblicke.

    Foto: Philippe Ruault

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    Der Saal soll sehr leicht neuen Anforderungen angepasst werden können.
    Foto: Philippe Ruault

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    Der Saal soll sehr leicht neuen Anforderungen angepasst werden können.

    Foto: Philippe Ruault

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    Im Hintergrund sind die Sitzstufen mit Leseplätzen im Bereich Literatur zu sehen. Im Mezzanin dahinter schließt ein abgeschlossener Leseraum an.
    Foto: Philippe Ruault

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    Im Hintergrund sind die Sitzstufen mit Leseplätzen im Bereich Literatur zu sehen. Im Mezzanin dahinter schließt ein abgeschlossener Leseraum an.

    Foto: Philippe Ruault

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    Der Gebäudeflügel im Norden endet an einer raum­hohen, konkav gewölbten Projektionswand.
    Foto: Antoine Cardi

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    Der Gebäudeflügel im Norden endet an einer raum­hohen, konkav gewölbten Projektionswand.

    Foto: Antoine Cardi

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    Die Fachwerkträger zeigen sich hinter dem obersten Fensterband. Unten: Zwei weitere Rolltreppen füh­ren ins 2. OG. An der Stirnseite ist die aufklappbare Bildergalerie zu sehen
    Foto: Philippe Ruault

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    Die Fachwerkträger zeigen sich hinter dem obersten Fensterband. Unten: Zwei weitere Rolltreppen füh­ren ins 2. OG. An der Stirnseite ist die aufklappbare Bildergalerie zu sehen

    Foto: Philippe Ruault

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    Die Büroräume für die 85 Mitarbeiter im 2. OG.
    Foto: Julien Lanoo

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    Die Büroräume für die 85 Mitarbeiter im 2. OG.

    Foto: Julien Lanoo

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    Foto: Philippe Ruault

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    Foto: Philippe Ruault

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    Kinderbücherei mit Vorlesebereich im 2. OG.
    Foto: Philippe Ruault

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    Kinderbücherei mit Vorlesebereich im 2. OG.

    Foto: Philippe Ruault

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    Foto: Antoine Cardi

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    Foto: Antoine Cardi

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    Blick von einem der kleinen Lesesäle des Mezzanins auf die neue Stadt der fünfziger Jahre am Hafenbassin Saint Pierre.
    Foto: Philippe Ruault

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    Blick von einem der kleinen Lesesäle des Mezzanins auf die neue Stadt der fünfziger Jahre am Hafenbassin Saint Pierre.

    Foto: Philippe Ruault

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    Stadtplan mit der Markierung der Neubauten aus den fünfziger Jahren, die geschützt sind.
    Plan: Stadt Caen

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    Stadtplan mit der Markierung der Neubauten aus den fünfziger Jahren, die geschützt sind.

    Plan: Stadt Caen

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    Das Hafenbassin und der Kanal vor den Zerstörungen des Krieges.
    Foto: Stadt Caen

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    Das Hafenbassin und der Kanal vor den Zerstörungen des Krieges.

    Foto: Stadt Caen

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    Die Stadt der fünfziger Jahre entstand auf beiden Seiten der neuen Avenue du Six Juin mit sechs Hochhäusern, die zur Festung von Caen führt.
    Foto: Stadt Caen

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    Die Stadt der fünfziger Jahre entstand auf beiden Seiten der neuen Avenue du Six Juin mit sechs Hochhäusern, die zur Festung von Caen führt.

    Foto: Stadt Caen

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    Foto: Stadt Caen

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    Foto: Stadt Caen

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    Anders als in Le Havre entschied man sich in Caen für einen Neuaufbau mit einer traditionellen, in den Fassaden abwechslungsreichen Architektur.
    Foto: Stadt Caen

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    Anders als in Le Havre entschied man sich in Caen für einen Neuaufbau mit einer traditionellen, in den Fassaden abwechslungsreichen Architektur.

    Foto: Stadt Caen

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    Torhäuser an der Avenue du Six Juin.
    Foto: Stadt Caen

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    Torhäuser an der Avenue du Six Juin.

    Foto: Stadt Caen

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    Ein typisches Detail aus der Zeit.
    Foto: Stadt Caen

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    Ein typisches Detail aus der Zeit.

    Foto: Stadt Caen

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    Magazin
    Abb.: © OMA

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    Magazin

    Abb.: © OMA

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    Erdgeschoss
    Abb.: © OMA

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    Erdgeschoss

    Abb.: © OMA

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    1. Obergeschoss/Mezzanin
    Abb.: © OMA

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    1. Obergeschoss/Mezzanin

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    2. Obergeschoss
    Abb.: © OMA

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    2. Obergeschoss

    Abb.: © OMA

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    Dach
    Abb.: © OMA

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    Dach

    Abb.: © OMA

Während der feierlichen Einweihung der Bibliothek erinnert sich Rem Koolhaas an seine Kindheit, als er mit den Eltern nach Frankreich fuhr. Und in einem Interview für die Zeitschrift „Les Echos“ erzählt er, das er dann als junger Mann mit seinem ersten Auto die Normandie besucht habe und sich seitdem dem Land, vor allem seiner Kultur, verbunden fühle: „La culture française a influencé mon caractère“.
Das erste große öffentliche Gebäude von OMA in Frankreich war 1994 die Kongresshalle in Lille. Außerdem entstanden zwei Privathäuser in Saint-Cloud 1991 und in Bordeaux 1998. Weitere Bauten kamen hinzu, zuletzt der Umbau des Entrepôt Macdonald im Pariser Nordosten (Stadtbauwelt 12.2016) und das in Bau befindliche Messegelände in Toulouse. Wann die Brücke Jean-Jacques Bosc über die Garonne in Bordeaux gebaut sein wird, ist noch offen. Den Wettbewerb hatte OMA 2014 gewonnen.
In seiner kurzen Rede hob Koolhaas auch hervor, dass für ihn die Bibliothek heute ein Hybrid aus Alt und Neu sei. Er sprach von einer der ältesten Bautypologien überhaupt, die erst in den letzten 30 Jahren durch die Digitalisierung in ihrer Konzeption deutliche Veränderungen erfahren habe. Inzwischen stelle er aber fest, dass die Angst vor dem Digitalen verflogen ist. Beides wird es in Zukunft geben, die diffuse digitale Welt und das Buch als Hintergrund.
OMA hatte bisher nur eine Bibliothek gebaut, die Central Library in Seattle, eine Raumskulp­-tur mit gefalteter Rautengitterfassade (Bauwelt 23.2004). Noch in diesem Jahr wird die Eröffnung seiner National Library von Doha erwartet.
Die städtische Multimedia-Bibliothek in Caen kostete insgesamt 64 Millionen Euro und ist ein deutlich bescheidenerer Bau. Sie erfüllt in kleinem Maßstab und mit anderen Prämissen ein weiteres Mal die Intention des Architekten, ein offenes Haus zu schaffen, ein Haus, das nicht nur bei der Programmorganisation, sondern auch in seiner architektonischen Gestalt beim Besucher Großzügigkeit und damit ein Gefühl von Freiheit vermittelt.
Die konzeptionelle Idee ist zunächst erstaunlich, denn die Bibliothek wurde auf dem Grundriss in Form eines X – man nennt es in Caen auch Andreaskreuz – mit ungleich langen Gebäude­flügeln entwickelt. Die Grundüberlegung bestand schon beim Wettbewerb 2010 darin, mit den vier Flügelbauten zwei Orientierungsachsen zu betonen, die für die Stadt von großer Wichtigkeit sind. Die zwei Flügel nach Norden und Westen zeigen auf die Türme der Abbaye aux Hommes bzw. Abbaye aux Dames, zwei imposante Klosteranlagen, die die Geschichte der Stadt symbolisieren. Der dritte Gebäudeflügel zeigt im Süden zum nahe gelegenen Bahnhof und der vierte auf ein Stadtentwicklungsgebiet, das sich nach Osten und Norden auf einer lang gezogenen Halbinsel zwischen dem Canal de Caen à la Mer und dem Fluss Orne ausbreitet, einem Areal auf einer Fläche von 600 Hektar, an das man riesige Erwartungen knüpft. Die Planungen für dieses Gebiet mit dem schönen Namen „La Grande Mosaïque“ stammen vom Büro MVRDV, das 2013 den Wettbewerb gewonnen hatte.
Der Neubau der Bibliothek am Quai François Mitterrand steht an einem alten Hafenbassin direkt an der Kante von der Stadt zu diesem Stadtentwicklungsgebiet. Mit dem Stadtumbau an diesem Bassin wurde schon vor vielen Jahren begonnen. Zahlreiche Städte in Frankreich wollen sich mit besten Angeboten auf leergeräumten Flächen in Zentrumsnähe für ihre Entwicklung Vorteile verschaffen und leisten sich dort ein paar öffentliche Bauten als neue Signets. So setzte man auch in Caen Zeichen und verpflanzte die Stadtbibliothek und den Justizpalast (von Chris­tian Hauvette entworfen und von Baumschlager Eberle ausgeführt) dorthin. Ein weiterer baulich markanter Punkt nennt sich „Le Dôme“, ein Haus mit Werkateliers (Bauwelt 35.2016). Geplant sind auf der Halbinsel 7000 Wohnungen, zum Teil in einem Ökoquartier, dazu ein Park am Kanal, wo sich aber noch zahlreiche Industrie- und Hafenanlagen befinden.
Das Entwicklungsgebiet endet im Norden nach rund 12 Kilometern mit der Baie de l’Orme am Meer. Da das eigentliche Stadtgebiet von Caen nicht bis zum Meer reicht, wäre der Stadtname Caen sur Mer unkorrekt. Mit der Planung durch Nachbarkommunen der Agglomeration wird die Stadt seit kurzer Zeit werbewirksam, aber etwas verwirrend Caen la Mer genannt. Gemeint ist damit eine städtebauliche Entwicklung auf dem Weg zum Meer. Man gewinnt den Eindruck, dass die Stadt sich mit diesem Großprojekt etwas zu viel vorgenommen hat.

Stützenfrei

Zum Verständnis der Konzeption ist hervorzuheben, dass eine Bibliothek gewünscht war, bei der die Büchersuche und die Lektüre wichtig sind, aber – entsprechend heutiger Anforderungen – auch ein lebendiges Forum der Begegnung mit didaktischem und sozialem Anspruch. Für OMA definiert sich der Bau „durch die Gegensätze Masse und Leere“. Um dies zu erreichen, entstand die Entwurfsidee, den großen Bücher- und Lesesaal, der im ersten Obergeschoss weite Teile des Kreuzes einnimmt, völlig stützenfrei zu planen. Das niedrigere Geschoss darüber besteht daher aus zwei sich kreuzenden Fachwerkträgern, die eine Länge von 96 bzw. 85 Metern aufweisen.
Der Besucher erreicht den Neubau über zwei Eingänge, von der Stadt am Hafenbecken und auf der gegenüber liegenden Seite vom neuen Stadtteil, einer großen Rasenfläche mit Blick auf den Justizpalast und zwei runden Sitzinstallationen der Architektin Inessa Hansch.
Die kreuzförmige Anlage ist im Erdgeschoss als weiträumiges Foyer ausgebildet mit an den Enden der jeweiligen Gebäudeflügel unterschiedlichen Funktionen: Im Westen ein kleiner Ausstellungsbereich, im Süden die Gastronomie, im Norden der Vortragssaal und im Osten der Bereich der automatisierten Buchrückgabe mit Transportbändern zum Magazin (415.000 Bücher) im Untergeschoss, den Garagen der Bibliotheksfahrzeuge sowie Nebenräumen. Der Vortragssaal mit gut ausgestatteter Bühne schiebt sich steil in die Tiefe und bietet Platz für 150 Besucher. Der silberne Vorhang mit kleinen Lichtschlitzen stammt von Petra Blaisse und verdeckt, wenn die Nutzung es verlangt, im oberen Teil des Saals auf der Höhe des Erdgeschosses die Glasflächen bzw. Leuchtwände.
In der Mitte der Eingangshalle wurde ein großes halbrundes Holzmöbel mit Fächern für Zeitschriften eingestellt, das den Namen Pressekiosk erhielt. Es kaschiert die Sanitäranlagen. Auf frei in der Halle stehenden Sitzmöglichkeiten kann jeder Besucher ungezwungen Platz nehmen und sich informieren. Zwei Rolltreppen führen nach oben in den Lesesaal. Das Thema der Aufwärtsbewegung wird bei OMA immer baulich, manchmal auch farbig deutlich hervorgehoben. Diese Auffahrt ist der große Moment beim Besuch des Hauses, denn der Besucher fährt direkt in den großen Lesesaal hinein und erlebt diese hohe, 2500 Quadratmeter einnehmende Halle ohne jede Stütze ganz unmittelbar. Alle Seitenflächen sind durchgehend verglast und mit dem allseitigen Panorama in die Stadt eingebunden. Das „urbane Belvedere“ zeigt die Silhouette von Caen allerdings etwas verzerrt, da die einzelnen Glasflächen (2,00 x 6,20 Meter) eine 40 Zentimeter nach außen gewölbte äußere Fläche aufweisen. Die Wölbung sorgt dafür, dass die Fassade ohne Stützelemente Stabilität gewinnt. Die in­ne­re Glasfläche ist flach ausgebildet. Der Sonnenschutz soll durch Spezialglas und innenliegende weiße Rollos sichergestellt sein. Auf eine Klimatisierung verzichtete man. Die Zuluft befindet sich am Fuß der Fenster, die Abluft in der Unterdecke.
Die Einrichtung des Saals ist nach Vorgabe von OMA frei gestaltet und lässt völlige Flexibilität zu. Alle Regale sind auf Rollen montiert und wie die Sitz- und Liegemöbel leicht verschiebbar, da­zu gibt es Arbeitstische. Ein Einrichtungsschema lässt sich nicht erkennen. Den vier Gebäudeflügeln sind Themenbereiche der Bibliothek zugeordnet: Naturwissenschaften, Technik, Litera­-tur und Kunst. Wie im Erdgeschoss sind die vier Enden der Flügel unterschiedlich genutzt und ausgebildet: Im Westen eine hölzerne Lesestufen-Konstruktion, im Süden eine Wand mit zu öffnenden Klappen, hinter denen gerahmte Bilder von Köpfen französischer Schriftsteller zu sehen sind, im Norden eine konkav gewölbte, fast die gesamte Breite und Höhe der Wand einnehmende Projektionswand aus perforiertem Alumini­-um und im Norden abgeschlossene Leseräume. Außerdem stehen in der Mezzaninebene weitere Räume für Gruppenarbeit zur Verfügung. An den Endpunkten befinden sich die Auflager der großen Fachwerkkonstruktion, die den stützenfreien Raum ermöglichen mit den Treppenhäusern. Die hölzerne Stufenanlage mit einzelnen farbigen Sitzen erweist sich zum Lesen als unbequem.
Eine weitere silbern spiegelnde Rolltreppe führt ins zweite Obergeschoss. Die Raumwirkung ist nun eine ganz andere, da die stählerne, die Höhe von 3,30 Metern einnehmende Fachwerkkon­s­truktion stark dominiert. Hier ist die Kinderbücherei mit einer eher lieblosen Einrichtung zwischen den Stützen und Verstrebungen untergebracht. Den Mittelpunkt bildet ein Vorlesebereich mit Vorhang und Sitzkugeln. Außerdem befinden sich hier die Büros und Sitzungsräume der 85 Mit­arbeiter. Die drei Lichthöfe sind nur begrenzt zugänglich. Ein rechteckiger Hof mit Sitzstufen ragt in den Lesesaal hinein, der durch ein schmales Fensterband einsehbar ist. Bei dem hohen Anspruch des Gebäudes hinsichtlich offener Räume wirkt dieses Geschoss von den Zwängen der ein Kreuz bildenden Fachwerkträger arg gebeutelt und überzeugt nicht.
Die Konstruktion der Stahlträger ist hinter den Fensterbändern erlebbar. Das Gebäude zeigt sich von außen in immer gleicher vertikaler Gliederung sehr schlicht als neutrale Hülle mit geschlossen leicht grünlichen Flächen aus Mattglas und offenen Glasfronten. Man erkennt aber im „Belvedere“ vom ersten Obergeschoss den großen Leseraum mit seinen Einbauten als „Landschaft“, die den Passanten neugierig macht und zum Besuch einlädt.

Der Wiederaufbau

Im Zusammenhang mit diesem Neubau ist es wichtig, auf die Geschichte der Stadt einzugehen. Caen mit einer bereits im Jahr 1432 gegründeten Universität (26.000 Studenten) wurde Ende des Zweiten Weltkriegs durch Bombenangriffe der Alliierten gegen die deutschen Besatzer zu zwei Dritteln zerstört. Der Wiederaufbau des Pariser Architekten Marc Brillaud de Laujardière (1889–1973) zog sich bis 1962 hin. Dieser Wiederauf­-bau hat städtebaulich wie architektonisch und bautechnisch nicht die Strigenz und Innovation der in etwa zeitgleichen Planungen von Auguste Perret in der Nachbarstadt Le Havre (Bauwelt 45.2005). Er findet aber immer mehr Beachtung und wird inzwischen in der Stadt sogar mit Stolz gepflegt. Es entstand damals mit der Avenue ­du Six Juin eine breite Nord-Süd-Straßenachse mit markanten Torhäusern und der Place de la Résistence. Die Achse verbindet das Bahnhofsviertel mit der zentral gelegenen Festung von Caen. In den einzelnen Blöcken seitlich dieser Achse entschied man sich für Satteldach-Häuser, die einheitlich mit dem hellen „Stein von Caen“ (ein grau-beiger Kalkstein aus der Region) zu errichten waren. Dazu gehören viele kleine, teilweise erfinderische Variationen der Eingänge und Fassaden in der Handschrift der fünfziger Jahre. Diese Feinheiten lohnt es bei einem Stadtspaziergang zu entdecken.



Fakten
Architekten OMA, Rotterdam; Koolhaas, Rem, Rotterdam
Adresse 14053, 15 Quai François Mitterand, 14000 Caen, Frankreich


aus Bauwelt 4.2017
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