Cluster ethnischer Ökonomien
Text: İlk, Çağla, Berlin; Pressel, Dietrich, Siegen; Schwalbach, Gerrit, Siegen
„Cluster ethnischer Ökonomien“ – so bezeichnet man in der Soziologie wirtschaftliche Aktivitäten von Migranten (Einzelhandel, Handwerk, Produktion, Dienstleistungen), die sich meist in jenen Nischenräumen der Innenstädte einrichten, die als Fehlstellen und Resträume der Stadtentwicklung neuen Nutzungen offen stehen.
Die Topographie und die Funktionsweise dieser Wirtschaftsräume sind in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vorhanden, da sie das Stadtbild baulich häufig wenig verändern. Seit Anfang der achtziger Jahre hat die Zahl migrantischer Selbständiger in Deutschland stark zugenommen, mittlerweile gibt es fast 300.000 kleine und mittlere Unternehmer. Welche Rolle „ethnische Ökonomien“ in der postindustriellen Stadtentwicklung spielen, zeigt das Beispiel Sandgasse in Offenbach, der Stadt in Deutschland, die den höchsten Anteil Nichtdeutscher hat und die auf eine lange Migrationsgeschichte zurückblickt.
Mit dem Wiederaufbau wurde das innerstädtische Gefüge von Offenbach neu geordnet. Die autogerechte Planung einer „Durchbruchstraße“ (1949–57) bestimmt bis heute die Funktionalität, die Attraktivität und den Wert einzelner Straßenzüge und Quartiere. Entlang der vierspurigen Berliner Straße entstanden großmaßstäbliche Neubauten. Das Quartier Sandgasse ist eine innerstädtische Nische im Schatten dieser Verkehrstrasse. Das 1971 begonnene, aber wegen zahlreicher baulicher Mängel erst 1979 bezugsfertige Einkaufszentrum mit Parkhaus kappt zudem als städtebauliche Barriere die frühere Verbindung von Sandgasse und Berliner Straße. Seit Mitte der achtziger Jahre verschwanden durch die Deindustrialisierung viele innerstädtische Gewerbebetriebe. Brachen und Leerstand prägten das Quartier, das durch „ethnische Ökonomien“ zu neuem wirtschaftlichen Leben fand.
Als Ausgangspunkt für die Herausbildung des Clusters kann die Mevlana-Moschee in der Sandgasse gesehen werden. Die Entwicklung begann 1984, als die Moschee-Gemeinde mit dreißig Mitgliedern einen Keller im Quartier anmietete. In den folgenden sechs Jahre vergrößerte sich die Gemeinde, eine leerstehende Schreinerei wurde gekauft und zum Gemeindezentrum umgebaut. Noch heute kann man die Holzbalken im Gebetsraum sehen. Mit der Eröffnung der Moschee strömte täglich eine große Zahl Gläubiger in das Viertel, und in der Folge etablierten sich hier viele Geschäfte, denn in der Sandgasse fanden Einwanderer Bestandsgebäude zu günstigen Konditionen. So eröffnete ein Bäcker im Quartier, der heute den Frankfurter Flughafen und viele Krankenhäuser im Rhein-Main-Gebiet beliefert. Neben Obst- und Gemüsehandel, einem Reisebüro und anderen Geschäften zog zuletzt eine Filiale der „Western Union“ hierher. Mittlerweile rückt das migrantische Geschäftsquartier Sandgasse bis an die Berliner Straße vor: Mehrere Einzelhandelsgeschäfte sind in dem teilweise leerstehenden Einkaufszentrum dazugekommen. Die Sandgasse selbst hat bis heute kaum Durchgangsverkehr. Die Hofflächen vor den Geschäften und dem Gemeindezentrum wirken zusammen mit dem Straßenraum wie ein öffentlicher Platz.
Migranten agieren im Quartier Sandgasse als wirtschaftliche „Pioniere“, die mit Pragmatismus und Kreativität einem vormals abgehängten Quartier zu neuem Leben verholfen haben. Das Nutzungskonglomerat, das sich in den letzten Jahren um die Moschee entwickelt hat, kann als informelle Stadtentwicklung gesehen werden, als eigene räumliche Typologie jenseits städtischer Planung, die mit der Gemeinde wächst: Durch die kommerziellen Nutzungen wird die Finanzierung weiterer Gemeindebauten gesichert, die Gläubigen finden spezielle Lebensmittel und multifunktionale Fixpunkte für das ethnische Beziehungsnetzwerk. Die in ähnlicher Weise an vielen Orten in Deutschland entstandenen Ensembles unterscheiden sich von traditionellen muslimischen Sakralbauten, in die meist nur soziale Nutzungen integriert sind.
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