Dänisches Seefahrtsmuseum
Das gewendete Dock
Text: Ballhausen, Nils, Berlin
Dank des Geniestreichs von BIG – Bjarke Ingels Group hat die Stadt Helsingør neben dem altehrwürdigen Schloss Kronborg eine weitere Attraktion. Das Dänische Seefahrtsmuseum tritt nach außen kaum in Erscheinung, überzeugt aber im Inneren durch beeindruckende Raumfolgen und konstruktiven Wagemut.
Nur vier Kilometer breit ist der Öresund an seiner schmalsten Stelle zwischen dem dänischen Helsingør und dem schwedischen Helsingborg. Zwischen beiden Häfen pendeln ganzjährig Fährschiffe im Viertelstundentakt. Bis 1660 gehörten beide Ufer dieser Meerenge zu Dänemark, und noch bis 1857 erhob das dänische Königshaus für eine Passage von der Ostsee ins Kattegat den sogenannten Sundzoll. Zur Kontrolle und Durchsetzung dieser Maut wurde ab 1420 auf der Landzunge bei Helsingør eine Festung errichtet: Schloss Kronborg ist heute eines der wichtigsten Baudenkmäler Dänemarks. Seit seiner Gründung mehrfach umgebaut, wurde es im Jahr 2000 ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Die anstehende denkmalgerechte Renovierung hatte allerdings zur Folge, dass das traditionsreiche, seit 1915 dort untergebrachte „Handels- und Seefahrtsmuseum“ aus dem Schloss ausziehen musste – die Gelegenheit zur Verjüngung der von einer privaten Stiftung getragenen Institution. Um den passenden Entwurf für den 6000-Quadratmeter-Neubau zu ermitteln, führte man 2007 einen Wettbewerb mit einem englischen und vier dänischen Architekturbüros durch. Mit BIG (Bjarke Ingels Group) gewann damals das am wenigsten bekannte. Obwohl das Gebäude erst im Oktober 2013 eröffnet wurde, gehört es noch ins Frühwerk des Büros, das heute weltweit baut.
Da das neue „Museet før Sjøfart“, abgekürzt M/S, den Blick auf Schloss Kronborg nicht verstellen durfte, konnte man nicht anders als es in die Tiefe zu bauen. Als Bauplatz war ein stillgelegtes Trockendock vorgesehen, ein Überrest der berühmten Helsingør-Schiffswerft, die sich, nachdem der Sundzoll als Einnahmequelle der Stadt weggefallen war, seit 1882 auf dem Hafenareal zwischen dem Stadtkern und dem Schloss ausgebreitet hatte. Zu Spitzenzeiten arbeiteten hier 3800 Menschen. 1983 wurde die Werft nach über 400 gefertigten Schiffen wegen Unrentabilität geschlossen. Die Ziegelbauten, ehemals Werkstätten und Lagerhallen, sind in ihrer Grundsubstanz erhalten worden und führen seit einigen Jahren als „Kulturwerft“ ein zweites Leben; unter anderem sind hier die städtische Bibliothek, diverse Veranstaltungssäle und das Werftmuseum angesiedelt.
In Dänemark ist es üblich, niedergegangene Arbeitsstätten zu Museen ihrer selbst umzuwandeln. Dadurch hält man ein paar Fachkräfte mit Spezialwissen beschäftigt und zieht womöglich auch noch Urlauber an. Gewinne werden durch solche Einrichtungen fast nie gemacht, aber dafür gestaltet sich der Wandel vor Ort wesentlich harmonischer. Um Touristen muss sich in Helsingør niemand Gedanken machen, dafür hat William Shakespeare gesorgt, dessen „Hamlet“ auf Schloss Kronborg spielt. Das ist der Magnet, alles andere ordnet sich unter. Durch die Wegnahme der Werftbauten ist es bereits von Weitem zu sehen. Der Weg dorthin führt von der Stadt direkt über das Dach des neuen Seefahrtsmuseum, dieses ist teilweise identisch mit der Platzoberfläche.
At vende dokken – das Dock wenden
Das Bestechende am Konzept von BIG ist, dass der Leerraum des Trockendocks nicht einfach mit einer neuen Gebäudestruktur aufgefüllt, sondern seinerseits zunächst großzügig umstochen wurde; dadurch entstand ein Zwischenraum, in den das Museum – quasi hinter der gewaltigen Stahlbetonwand – eingepasst wurde. Die knapp 150 Meter lange und 21 Meter breite Großform des Docks blieb damit unmittelbar nachvollziehbar. Staunend bleiben Besucher an der Glasbrüstung stehen und blicken acht Meter hinab auf den Boden. Wer will, kann ohne Eintrittskarte eine steile Treppe hinuntersteigen und sich einen völlig neuen öffentlichen Raum unterhalb des Meeresspiegels erschließen. Der riesige Betontrog, erbaut 1953–55, schützt dabei nicht nur vor dem Wind, sondern er illustriert auch den Strukturwandel auf eindrucksvolle Weise. Konfrontiert mit den schieren Dimensionen des Schiffsbaus, tritt der Verlust dieses ganzen Industriezweigs umso deutlicher vor Augen.
Das „Wenden des Docks“, wie es die Architekten ausdrücken, erforderte einen immensen technischen Aufwand, der so in Dänemark noch an keiner anderen Baustelle betrieben worden ist. Weil der 2,50 Meter dicke Boden des Docks irgendwann aufgeschwemmt werden würde, musste er neu aufgebaut und mit 461 Erdankern im Untergrund gesichert werden. Diese wurden 42 Meter tief durch Sand und Schlamm getrieben, bevor sie auf eine solide Schicht aus Kalkstein trafen. Genauso tief gründet auch die neue rechteckige Umfassungsmauer, die sich wie eine Spundwand gegen den Erddruck stemmt und den Bestand entlastet. Auch die 1,50 Meter starken Wände des Docks blieben keineswegs so unangetastet, wie es bei flüchtiger Betrachtung aussehen mag. Sie wurden vielfach aufgeschlitzt und eingeschnitten, um Öffnungen für Fenster, Türen und die drei quer spannenden Verbindungsbrücken aufzunehmen. „Außerhalb der Box zu denken, hieß für uns auch, mit einer irrwitzigen Menge Stahl, Zement, Schlamm, Wasser und Sand zurecht zu kommen“, schreiben die Architekten in der aktuellen Sonderausstellung, die dem Bau des Museums gewidmet ist.
Von all den Mühen ist heute nichts mehr zu erkennen. Wer das M/S betreten möchte, benutzt die Rampe, die im Zickzack vom Werftplatz aus sanft zum Eingang im ersten Untergeschoss hinabführt. Das Foyer wirkt wie eine Boutique: Offenbar animiert das maritime Sujet zum Handel mit unterschiedlichsten Dingen, vom Knoten-Handbuch über Strick-Troyer zu Schiffsmodellen zum Selberbasteln. Dergleichen war zu erwarten. Nun lässt man sich in den anschließenden Rundgang der Dauerausstellung ziehen, die im Halbdunkel mit Zitaten über das eigenartige Wesen der Seefahrer beginnt („Drei Sorten Menschen gibt es: die Lebenden, die Toten und die Seefahrer“) und unterschiedlichste Klischees und Mythen anreißt, ob Pippi Langstrumpfs Piratenvater, der „Sailor Chic“ in der Modebranche oder die Deutung des Matrosen als Film- und Comicfigur. Schnell wird ersichtlich, wie übergroß das Thema Seefahrt doch ist und wie sinnlos es wäre, auf umfassende Informationen zu hoffen. Atmosphäre und Emotionen, und wenn man Glück hat, bleibt noch etwas hängen?
Schlecht gemacht ist das jedenfalls nicht. Das Gebäude, es ähnelt einem geneigten Deck, unterstützt diese Form der Vermittlung; wir werden an Vitrinen mit reichlich Nieten und Bullaugen vorbeilotst. Ein intuitives, zeitgemäß-oberflächliches Abtasten der recht heterogenen Sammlung statt einer systematischen intellektuellen Erkundung. Wer sich darauf einlässt, wird feststellen, dass allein schon der Weg durch das Museum so originell ist, dass man gerne eine zweite, dritte oder vierte Runde dreht. Der „Loop“, die Schleife, ist der Schlüssel zum Inhalt. Und dann beginnen wir doch, uns einmal näher mit dieser Videostation zu beschäftigen oder die Funktionsweise des Sextanten oder der Seemine zu erkunden. Das Heraustreten aus dem Dunkel in die verglasten Brücken dient dabei als dramaturgischer Kniff, wie ein Auftauchen, um zwischendurch eine neue interessante Perspektive zu bekommen. Leicht vorstellbar, wie langweilig es drüben im Schloss gewesen sein muss, mit all den aufgereihten Schiffsmodellen und -gemälden, Pfeifenständern, Logbüchern und Steuerrädern, die im neuen Kontext eine gewisse Aura entfalten.
In das „story telling“ des Gebäudes passt es, dass die bis zu 100 Tonnen schweren stählernen Brücken, die die Galerien verbinden, auf einer chinesischen Werft hergestellt und auf dem größten Schiff transportiert wurden, das je in Helsingør angelegt hat. In der Ausstellung hatten wir bereits gelesen, dass heute ein Zehntel des weltweiten Seefrachtverkehrs von dänischen Reedereien bewältigt wird (über die Baukosten für das Museum in Höhe von 30 Millionen Euro wurde übrigens nie debattiert). Über den Wagemut, mit dem die Seefahrernation Dänemark architektonische Experimente angeht, können die Landratten in aller Welt nur staunen.
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