Bauwelt

Die inneren Werte


Siedlungen der Nachkriegszeit werden oft mit falschen Vorbildern verglichen. Doch sie haben eigene Qualitäten, wie etwa die Freiräume der Frankfurter Nordweststadt


Text: Harnack, Maren, Frankfurt am Main


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    Das Grün in der Nordweststadt ist inzwischen erwachsen
    Foto: Frederik Schäfer

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    Das Grün in der Nordweststadt ist inzwischen erwachsen

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    Foto: frankfurter-bilderbogen.de

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    Die nach dem Raumkonzept geplante Nordweststadt von Schwagenscheidt und Sittmann. Im Südosten liegt das Nordwestzentrum.
    Hans Kampffmeyer (Hg.), Die Nordweststad in Frankfurt am Main, 1968

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    Die nach dem Raumkonzept geplante Nordweststadt von Schwagenscheidt und Sittmann. Im Südosten liegt das Nordwestzentrum.

    Hans Kampffmeyer (Hg.), Die Nordweststad in Frankfurt am Main, 1968

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    Wohnbauten sollen sich um Höfe gruppieren, die mit neuen Gärten und Spielplätzen von Anwohnern gemeinschaftlich genutzt und mit Bäumen und Hecken umgrenzt werden. Das Grün zwischen diesen „Wohninseln“ soll einen „offenen“ Charakter behalten.
    Plan: Annabau

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    Wohnbauten sollen sich um Höfe gruppieren, die mit neuen Gärten und Spielplätzen von Anwohnern gemeinschaftlich genutzt und mit Bäumen und Hecken umgrenzt werden. Das Grün zwischen diesen „Wohninseln“ soll einen „offenen“ Charakter behalten.

    Plan: Annabau

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    Perspektive: Annabau

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    Das Büro Annabau will den Freiraum der Nordweststadt neu ordnen.
    Abbildungen (Jetzt-und Soll-Zustand): Annbau

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    Das Büro Annabau will den Freiraum der Nordweststadt neu ordnen.

    Abbildungen (Jetzt-und Soll-Zustand): Annbau

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    Im Konzept von Annabau erhalten die Wohnhöfe Gemeinschaftsgärten für alle Anwohner und Gärten für die Bewohner der Erdgeschosse.
    Perspektive: Annabau

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    Im Konzept von Annabau erhalten die Wohnhöfe Gemeinschaftsgärten für alle Anwohner und Gärten für die Bewohner der Erdgeschosse.

    Perspektive: Annabau

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    Die Siedlung wird mit Reihenhäusern, Wohnzeilen und Geschossbauten punktuell nachverdichtet.
    Abb.: Annabau

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    Die Siedlung wird mit Reihenhäusern, Wohnzeilen und Geschossbauten punktuell nachverdichtet.

    Abb.: Annabau

Günstiger Wohnraum ist in Frankfurt, wie in fast allen deutschen Großstädten, knapp. Schon in den zwanziger Jahren bekämpfte Ernst May den Wohnungsmangel mit dem Neubau von Siedlungen am Stadtrand. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, bis in die siebziger Jahre hinein, im großen Stil Wohnungsbau betrieben. Heute sucht man wieder nach Flächen – für die Nachverdichtung in der Innenstadt aber auch für die Neuausweisung von Baugebieten am Stadtrand.
Während die Siedlungen aus der Amtszeit Mays weitgehend denkmalgeschützt sind und sich bei den Bewohnern hoher Beliebtheit erfreuen, leiden die Siedlungen der Nachkriegszeit, zu denen auch die Nordweststadt gehört, unter einem schlechten Ruf. Von außen betrachtet scheinen Großsiedlungen allenfalls als Baulandreserve zu taugen.
Die Nordweststadt war weder als Siedlungserweiterung noch als Satellit geplant. Sie sollte die drei Frankfurter Ortsteile Heddernheim, Praunheim und Niederursel sowie die Siedlung Römerstadt zu einem neuen, eigenständigen Stadtteil verbinden, der alle städtischen Funktionen anbietet und weitgehend von der Kernstadt unabhängig funktionieret. Der Bedeutung des Projekts war man sich wohl bewusst: 1959 wurde ein Wettbewerb ausgelobt, an dem 66 Planungsbüros aus dem gesamten Bundesgebiet teilnahmen. Ein erster Preis wurde damals nicht vergeben, bestplatziert waren zunächst die Tübinger Krisch und Rittmann mit dem zweiten Preis. Die Jury, der unter anderem der Planungsdezernent Hans Kampffmeyer, Hans-Bernhard Reichow, Max Guther und Ernst May angehörten, hatte den Entwurf vermutlich gekürt, weil Ernst May, der Vorsitzende, vom strengeren Zeilenbau überzeugt war.
Nach einer Überarbeitung beauftragte man jedoch die Drittplatzierten Walter Schwagenscheidt und Tassilo Sittmann, ihren Entwurf umzusetzen, der auf Schwagenscheidts Konzept der Raumstadt beruhte.
Walter Schwagenscheidt war, wie May, ein Vertreter der Moderne, und er war ihm in den Dreißigern in die Sowjetunion gefolgt. Schwagenscheidt hatte ein eigenes stadträumliches Konzept entwickelt, dass er Raumstadt nannte. Die Raumstadt bestand aus Zeilenbauten, die aber kürzer als üblich und nicht in langen Reihen und gleicher Ausrichtung geplant waren. Das Konzept mischte die Zeilen mit Solitären, versetzt und im rechten Winkel zueinander, sodass sich zwischen den Gebäuden Räume aufspannten.
Anders als in der traditionellen Stadt sind diese Räume nicht geschlossen, sondern gehen ineinander über. Die Raumstadt ist wesentlich vom Fußgänger her gedacht, dem sich, beim Durchstreifen der Siedlung stets neue Perspektiven eröffnen.
Die Raumstadt war – wie auch die Nordweststadt – an den klassischen Idealen der Moderne orientiert. Fußgänger- und Autoverkehr sollten getrennt sein, ebenso Wohnen, Arbeiten, soziale Einrichtungen und Geschäfte. Anders als viele Großsiedlungen, die noch heute unter einer schlechten Anbindung an die Kernstadt leiden, wurde die Nordweststadt bereits 1968 an das U-Bahn-Netz angeschlossen; die Anwohner konnten die Innenstadt auch ohne Auto in kurzer Zeit erreichen. Entgegen der ursprünglichen Planung der Stadt Frankfurt setzten Schwagenscheidt und Sittmann durch, dass die U-Bahn im Nordweststadt-Zentrum hält, sodass hier ein zentraler Verknüpfungspunkt entstehen konnte.
Das Straßennetz der Nordweststadt besteht aus ringförmigen Hauptstraßen, von denen aus Sackgassen die Wohngebiete erschließen. Diese Sackgassen enden in Tiefgaragen. Heute werden sie aber in vielen Fällen wenig genutzt, weil die Stellplätze Miete kosten. Stattdessen parken die Autos am Straßenrand, zum Nachteil des öffentlichen Raums. Die ursprüngliche Stärke des Konzepts erschließt sich, wenn man die autofreien Grünräume zwischen den Gebäuden durchquert: Hier ist die Vegetation inzwischen gewachsen, und die Nordweststadt wirkt, für manche vielleicht überraschend, sehr attraktiv. Das Konzept der Raumstadt beschränkte sich allerdings nicht auf die Anordnung der Gebäude, die im Wettbewerb missverständlich als Klötze dargestellt waren. Die städtebauliche Raumbildung sollte sich bis in die Architektur fortsetzen, indem die Bauvolumen vergleichbare Räume aufspannen.
Dies lässt sich noch in der von Schwagenscheidt und Sittmann geplanten Kirchengemeinde Cantate Domino studieren, wo heute ein ummauerter Hof mit dem öffentlichen Freiraum und der Zufahrtsstraße in Verbindung steht. Kirche, Pfarrverwaltung und Kindergarten sind aus schlichten Kuben so zusammengesetzt, dass zwischen ihnen Übergangsbereiche und intime Vorzonen entstehen, die sich aus dem öffentlichen Raum entwickeln. Im Vergleich zu den oft abweisend gestalteten Erdgeschosszonen zeigt sich hier, welches Potenzial mit den allzu pragmatisch gestalteten Wohnhäusern verschenkt wurde.
Nur die Freiräume sind unbelebt
Das intensive Leben zwischen den Gebäuden, das Schwagenscheidt und Sittmann sich ausmalten, ist heute jedoch nicht zu finden. In einem 1964 veröffentlichten Buch über die Nordweststadt zeigen Skizzen, wie sich das Familienleben aus den Wohnungen hinaus in die Grünflächen verlagert. Kinder spielen zwischen den Häusern, Erwachsene unterhalten sich, kaufen ein oder sitzen in Cafés. All das findet man in der Nordweststadt heute kaum. Die Grünflächen und Gebäude sind gepflegt, die Balkone zeigen, dass ihre Besitzer sich um sie kümmern – aber die Freiflächen sind weitgehend unbelebt.
Doch lässt sich darüber streiten, ob Freiflächen immer belebt sein müssen und ob jede Siedlung pulsierendes urbanes Leben braucht. Die heutige Diskussion über Großsiedlungen am Stadtrand leidet unter anderem auch darunter, dass sie mit den falschen Vorbildern verglichen werden: Leben wie in den Quartieren der Gründerzeit kann die Nordweststadt nicht bieten. Aber wenn man die Einfamilienhausgebiete im Speckgürtel zum Vergleich heranzieht, weist die Siedlung doch Qualitäten auf, die man dort vermisst: die Nähe zum Grün wie auch zur Stadt; die relativ gute Ausnutzung der Grundstücke bei sparsamer Versiegelung; die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs und sozialen Einrichtungen. Nicht zuletzt bietet die Nordweststadt all das zu bezahlbaren Preisen, in einer Stadt, in der die Mieten längst nicht nur für Menschen mit geringem Einkommen ein Problem sind. Viele Bewohner geben auch an, zunächst aus Mangel an Alternativen in die Nordweststadt gezogen zu sein. Erst nach einiger Zeit hätten sie erkannt, wie gut sich der Stadtteil – vor allem für Kinder – eigne und wie gern sie dort lebten. Allerdings haben sich die Ansprüche an den Wohnraum seit den siebziger Jahren verändert.
Die Nordweststadt sollte ein Spiegelbild der Frankfurter Bevölkerung sein, also in etwa so zusammengesetzt wie deren Durchschnitt. Zu Beginn wurden daher 890 Einzimmerwohnungen, 1630 Zweizimmerwohnungen und 3600 Dreizimmerwohnungen gebaut; 880 Wohnungen haben vier oder mehr Zimmer, zusätzlich entstanden 580 Eigenheime. Dieser Wohnungsmix führt heute dazu, dass viele Familien den Stadtteil verlassen, wenn sie nicht in beengten Verhältnissen leben möchten und sie es sich leisten können. Die Nordweststadt ist vom Frankfurter Durchschnitt relativ weit entfernt – Kinder und Senioren machen einen überdurchschnittlich großen Teil aus. Der Anteil Erwerbstätiger ist geringer, dennoch unterscheiden sich weder die Arbeitslosenquote noch die Abhängigkeit von Transferleistungen in der Nordweststadt stark von denen der Gesamtstadt.
Die Nordweststadt ist, trotz angespanntem Wohnungsmarkt, für die meisten Frankfurter noch immer kein gefragter Standort. Aber die Stadt hat erkannt, dass die Siedlung behutsam weiterentwickelt werden muss – auch wenn es derzeit keine akuten Probleme gibt und auch wenn es zunächst naheliegend erscheinen mag, die vielen Freiflächen vor allem als Baulandreserve zu nutzen. Nach umfangreichen Beteiligungsprozessen wurde 2011 ein zweistufiger Wettbewerb ausgelobt, der Ideen für die Neugestaltung der Freiräume und eine moderate Nachverdichtung finden sollte.
Behutsame Nachverdichtung
Gewonnen hat das Berliner Büro Annabau. Die Architekten greifen das ursprüngliche Konzept der Raumstadt mit „Wohninseln“ auf. Sie schlagen vor, die eher privaten Höfe und die öffentlichen Bereiche zwischen diesen Wohninseln gestalterisch deutlicher zu unterscheiden, ohne sie jedoch ganz voneinander zu trennen. An einigen wenigen Stellen soll der Rand der Höfe durch Neubauten gestärkt werden; eine moderate Nachverdichtung, die das ursprüngliche Konzept unterstützt, anstatt es zu verwässern und die zeigt, dass die Pläne von Schwagenscheidt und Sittmann noch heute tragfähig sind.
Annabau nimmt sich aber auch die unattraktiven Eingänge der wenig genutzten Tiefgaragen vor: Momentan gibt es jeweils nur eine Ein- und Ausfahrt, die die Autobesitzer, nachdem sie ihr Fahrzeug abgestellt haben, wieder auf die vollgeparkte Zufahrtsstraße spuckt. Hier planen sie einen zusätzlichen Ausgang in den attraktiven Freiraum zwischen den Gebäuden, von wo aus die Hauseingänge erreicht würden. Dies könnte sicher zur Belebung der gemeinschaftlich genutzten Höfe beitragen, deren Wert heute vor allem darin besteht, einen Blick vom Balkon zu bieten.
Nach dem Wettbewerb sollte im Rahmen eines Pilotprojekts einer der Wohnhöfe umgestaltet werden, allerdings ist die Umsetzung noch nicht über das Planungsstadium hinausgekommen. Das mag auch daran liegen, dass die behutsame Weiterentwicklung, die aus dem Wettbewerb hervorgegangen ist, keinen ausreichend großen finanziellen Gewinn verspricht.
Die Stadt Frankfurt und ihre städtische Wohnungsbaugesellschaft ABG haben an anderer Stelle auch die Erfahrung machen müssen, dass radikale Umgestaltungen auf Widerstand stoßen können. Für die kleinere Hochhaussiedlung Mainfeld wurde ebenfalls ein Wettbewerb ausgelobt, bei dem alle Preisträger den kompletten oder weitgehenden Abriss des Bestandes vorsahen und im Quartier eher traditionelle Stadträume mit straßenbegleitender Bebauung vorschlugen. Die Bewohner des Mainfelds waren, entgegen der Erwartungen der sonstigen Beteiligten, über den geplanten Abriss ihrer Wohnungen nicht erfreut – und das nicht nur, weil die Kommunikation gründlich schiefgegangen war. Man hatte schlicht vergessen, dass der Alltag der Bewohner auch emotionale Bindungen aufbaut, die nicht ohne weiteres aufgegeben werden.
Die behutsame Weiterentwicklung der Nordweststadt, die auf übermäßige Nachverdichtung verzichtet, scheint vor diesem Hintergrund eine sinnvolle Strategie zu sein, auch wenn die Nordweststadt kaum mit dem Mainfeld zu vergleichen ist. Gerade aufgrund ihrer städtebaugeschichtlichen Bedeutung sollte die Nordweststadt nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden. Dazu ist es unbedingt nötig, die Qualitäten der Freiflächen und der räumlichen Konstellation zu erhalten und zu stärken. Die Qualität der Wohnbauten hingegen ist oft fragwürdig. Hier wäre es angebracht, sich auf die Ansätze der Raumstadt zu besinnen und die dort vorgesehene sorgfältige Verzahnung von Bauten und Freiraum zu studieren, um insgesamt die Qualität zu erreichen, die Schwagenscheidt und Sittmann sich vorgestellt hatten – und die in öffentlichen Bauten durchaus zu besichtigen ist.



Fakten
Architekten Annabau, Berlin; Schwagenscheidt, Walter (1886-1968); Sittmann, Tassilo, Frankfurt am Main
Adresse Frankfurt-Nordweststadt


aus Bauwelt 40-41.2014
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