Gerichtsgebäude
Entwurf mit Metapher
Text: Hoetzel, Dagmar, Berlin
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Foto: José Campos/arqf architectural photography
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Foto: José Campos/arqf architectural photography
Foto: José Campos/arqf architectural photography
Die portugiesische Bergstadt Gouveia hat ein neues Gerichtsgebäude bekommen. Barbosa & Guimarães haben ein Gebäude geschaffen, das auf den ersten Blick wuchtig wirkt und Ehrfurcht gebietet, dank der Verknüpfung von Gericht und öffentlichem Raum aber durchaus seinen Weg in den Alltag der Kleinstadt finden kann.
Gouveia liegt in der Serra da Estrela im Nordosten Portugals. Die kleine Kreisstadt mit knapp 4000 Einwohnern hat nun im Zuge der EU-weiten Reformen zur Regionalisierung ein Gerichtsgebäude erhalten, in dem Fälle in der 1. Instanz verhandelt werden. Von der Autobahn Richtung Spanien kommend, geht es etwa 30 Kilometer über Serpentinen bis nach Gouveia. Dort angelangt, fährt man die Hauptstraße an dem alten, ringförmig eng bebauten Ortskern entlang und am großmaßstäblichen Bau der Stadtverwaltung vorbei, bis das Gerichtsgebäude auftaucht. Fertiggestellt wurde dieses vor einem halben Jahr. Neu wirkt es aber nicht nur, weil es in der sengenden Sommersonne in gleißendem Weiß strahlt, sondern auch, weil es keinem regionalen oder typologischen Vorbild entlehnt ist. Auf einem stellenweise über zwei Meter hohen Sockel aus hellem Granit stehen vier mächtige Quader hochkant, die ein ringförmiges Gebäude mit einer dreidimensional verformten Fassade aus weißem Sichtbeton durchdringen, das über dem Sockel zu schweben scheint.
Platte
In dem 2002 durchgeführten Wettbewerb mit fünf eingeladenen Teilnehmern hatte der Entwurf der beiden jungen Architekten José António Barbosa und Pedro Lopes Guimarães aus der nordwestlich von Porto gelegenen Küstenstadt Matosinhos die Jury vor allem durch sein städtebauliches Konzept überzeugt. Das Grundstück, dreiseitig von Straßen umgeben, liegt zwischen zwei öffentlichen Gärten im Nordosten und Südwesten; im Südosten grenzt ein zweigeschossiges Schulhaus aus den fünfziger Jahren an, im Nordwesten ein achtgeschossiges Wohnhaus aus den Neunzigern. Durch das Gefälle der Topographie weisen die beiden Nachbarbebauungen im First annähernd die gleiche Höhe auf. Der Sockel des Gerichts liegt wie eine Platte auf dem gesamten Grundstück. Er definiert den Ort, stellt das verbindende Element dar und gleicht Niveauunterschiede aus. Eine breite Rampe führt an der Westecke, die zum Stadtzentrum weist, auf den Sockel, eine Treppe im Osten wieder hinab. Der Sockel ist also nicht nur Vorplatz, sondern zugleich Teil eines Weges und öffentlicher Raum. In der anderen Richtung ermöglicht er dem in die Höhe gestemmten eingeschossigen Bauteil, die Höhe der Nachbarbebauung aufzunehmen. Im Sockel selbst befindet sich eine Parkgarage. Und quasi als Abdruck des darüber liegenden Grundrisses ist ein Patio eingeschnitten. So entsteht im Souterrain ein weiterer Platz, um den herum, wie oben U-förmig, Büros angeordnet sind für das Standesamt der Stadt und für Notariate.
Stützquader
Vier Quader, darin Kerne für Aufzüge, Fluchttreppenhäuser und technische Infrastruktur, tragen das Obergeschoss, das eigentliche Gerichtsgebäude. Die Quader sind versetzt zueinander angeordnet; jeweils die Längsseiten haben geschosshohe Reliefs mit den Worten Domus Iustitiae. Die Inschrift, die bei allen portugiesischen Gerichtsbauten zu finden ist, ist also, egal, aus welcher Richtung man auch blicken mag, immer zu sehen.
Der Zugang zum Gerichtssaal führt über eine breite Freitreppe und mag durchaus einschüchternd wirken, eine Raumerfahrung, wie sie sich bei Gerichtsbauten des Öfteren einstellt. Der Besucher fühlt sich bedrängt, zunächst durch die proportional geringe Höhe des Luftgeschosses von nur drei Metern, weiter oben durch die schluchtartigen Ausstülpungen der Fassade. Oben erreicht man schließlich das Foyer mit einer befreienden, großflächigen Verglasung, durch die man auf den Garten im Nordosten blickt.
Träger
Das Obergeschoss ist klar strukturiert. Der Gerichtssaal liegt als zentraler Raum in der Mitte neben der Freitreppe. Die Erschließung erfolgt über das großzügige Foyer, das Treppe und Saal vorgelagert ist. Die Büros der Richter und Anwälte sowie Nebenräume wie Teeküchen und Sanitärräume sind U-förmig um den innen liegenden Saal gruppiert.
Der Saal als eingestelltes Volumen und zentraler Raum setzt sich im Material ab. Während die Wände der umlaufenden Büros mit Marmor verkleidet sind, ist der Saal außen vollständig mit Paneelen aus Sucupira belegt. Auch im Saalinneren ist alles aus dem brasilianischen Hartholz gefertigt: der Boden, die Wände bis zu einer Höhe von etwa zwei Metern und sämtliche Möbel. Die Zuschauersitzreihen sind durchgehende Bänke, aus filigranen Stahlrohren, die mit Sucupira belegt sind, ebenso wie die Tische und Stühle für die Richter und Anwälte.
Belichtet wird der Saal über fünf Shed-artige Oberlichter. Diese quer zum Raum spannenden, acht Meter hohen und knapp 1,5 Meter breiten, seitlich nach Nordosten verglasten Deckenfelder sorgen für angenehme Lichtverhältnisse und für eine angemessene Atmosphäre, ohne den Saal allzu sakral wirken zu lassen.
Die vier Fassaden des Gerichtsgeschosses sind tragend und wirken statisch als Fachwerkträger. Entsprechend dem Kräfte- und Momentenverlauf wurden die dreidimensionalen Fassadenelemente modelliert und gemäß dem Grundriss entweder kleine oder große Fensteröffnungen integriert.
Schnee
An Schnee dachten José Barbosa und Pedro Guimarães, als sie zu dem Wettbewerb für das Gerichtsgebäude eingeladen worden waren. Schließlich ist die Serra da Estrela das höchste Gebirge auf dem portugiesischen Festland und das einzige Skigebiet Portugals. So lieferten Schneekristalle die Idee für die Fassade. Die Entwicklung erfolgte in enger Zusammenarbeit mit den Statikern – anders wäre es auch nicht möglich gewesen. Keine Teilfläche gleicht der anderen, jede musste eigens berechnet und gezeichnet werden. Die Fertigung in Ortbeton stellte eine weitere Herausforderung dar. Planung und Ausschreibung waren 2004 abgeschlossen, Gelder für den Bau wurden jedoch erst 2008 bereitgestellt. Das bedeutete nicht nur, dass Preisentwicklungen nicht berücksichtigt werden konnten, sondern auch, dass der mittlerweile auf dem Markt verfügbare flüssigere Beton, der für das Betonieren der spitz zulaufenden, tetraederförmigen Elemente besser geeignet gewesen wäre, aufgrund höherer Kosten gegenüber der Ausschreibung nicht eingesetzt werden konnte.
Der Grund für die relativ lange Bauzeit von zweieinhalb Jahren für das nur 1500 Quadratmeter Nutzfläche umfassende Gebäude liegt hauptsächlich in seiner Ausführung in Ortbeton begründet. Um dies zu ermöglichen, wurde für die Bauzeit eigens ein Betonwerk in der Umgebung von Gouveia eingerichtet – lange Anfahrtszeiten der Betonmischer über die engen Serpentinen der Serra hätten das Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Betoniert wurde das ganze Jahr über, trotz sehr kalter Winter und sehr heißer Sommer. Da wurden dann Schutzhüllen um die Betonierabschnitte gebaut, die entweder beheizt oder eisgekühlt wurden. Maßgeschneidert nennen die Architekten ihre Architektur – handgenäht möchte man hinzufügen.
Die Idee der dreidimensionalen Betonfassade entwickelten die Architekten bei einem Nachfolgeprojekt in Porto weiter. Bei meinem Besuch im Gericht von Gouveia traf ich im ansonsten aufgrund der Sommerpause leeren Gebäude zwei Mitarbeiter an. Auf meine Frage, wie ihnen denn „ihr neues Haus“ gefalle, erläuterten sie, es sei alles ganz funktional. Und die Fassade, na ja, in Porto haben die Architekten ja eine ähnliche Fassade gebaut, dort, in die Großstadt, passe so etwas, aber: Gouveia ist anders. Ja, Gouveia ist anders, und auf die Idee mit den Schneekristallen kommt man wohl auch nur dort, wo es eigentlich nie schneit.
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