Bauwelt

Philharmonie von Stettin


Barozzi Veiga, ein junges Büro aus Barcelona, hat die neue Philharmonie von Stettin geplant


Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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    Erst mit der Dämmerung, wenn die zweischalige Fassade illuminiert wird, ent­faltet die neue Philharmonie ihre festliche Wirkung
    Foto: Simon Menges

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    Erst mit der Dämmerung, wenn die zweischalige Fassade illuminiert wird, ent­faltet die neue Philharmonie ihre festliche Wirkung

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    Das opulent dimensionierte Foyer erhält nur von oben Tageslicht
    Foto: Simon Menges

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    Das opulent dimensionierte Foyer erhält nur von oben Tageslicht

    Foto: Simon Menges

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    Der schlicht gestaltete Kammermusiksaal mit seinen knapp 200 Sitzplätzen wird auch für Veranstaltungen vermietet
    Foto: Simon Menges

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    Der schlicht gestaltete Kammermusiksaal mit seinen knapp 200 Sitzplätzen wird auch für Veranstaltungen vermietet

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    Auffälligstes Merkmal des großen Saals ist die Blattgoldbeschichtung von Wänden und Decke
    Foto: Simon Menges

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    Auffälligstes Merkmal des großen Saals ist die Blattgoldbeschichtung von Wänden und Decke

    Foto: Simon Menges

Stettin ist für den historisch Interessierten ein lohnenswertes Reiseziel. Vor allem die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts bestimmen die Erscheinung der Hafenstadt an der Oder noch immer, was angesichts der Wucht der Kräfte, die auf sie einwirkten, nicht überrascht. Mit der im September letzten Jahres eingeweihten Philharmonie ist nun ein architektonisch ambitionierter Bogen geschlagen worden, der die hanseatisch-preußische Grundierung von Stadtbild und -struktur mit dem immerhin auch schon sieben Jahrzehnte währenden Auf- und Umbau der ehemaligen Hauptstadt Vorpommerns als Kapitale der polnischen Wojwodschaft Westpommern verbindet – und dies vor dem Hintergrund der Integration Polens in die Europäische Union. Etwas viel Last für die Schultern dieses Projekts? Nein, durchaus nicht – höchstens rhetorisch

Am alten Standort

Monumentale Bauwerke aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert künden ebenso wie die weitläufigen Stadterweiterungen aus den Boom-Jahren Stettins nach 1871 vom Wachstum und der Modernisierung der Stadt unter ihrem langjährigen Oberbürgermeister Hermann Haken. Rings um die ehemalige Altstadt, welche heute von einem kuriosen Mix aus Siedlungsbauten der Nachkriegszeit, postmodern-kritischen Rekonstruktionen und Brachen geprägt wird, säumen diese Bauten die Naht zu den Quartieren der Gründerzeit. Das alte Konzerthaus, das einst an der Ecke Augusta-/Grabower Straße gleich hinter dem barocken Königstor stand, fehlt allerdings; es wurde, anders als die benachbarte neugotische Polizeiwache, im Krieg zerstört, seine Ruine 1962 abgerissen; fortan diente die Fläche als Parkplatz. Für genau diese Brachfläche an der heutigen Ecke Małopolska/Jana Matejki entschied sich die Stadt, als sie den Neubau ihrer Philharmonie in Angriff nahm. Den Wettbewerb im Jahr 2007 gewann unter 42 Einsendungen der Entwurf eines jungen spanisch-italienischen Teams: Fabrizio Barozzi und Alberto Veiga hatten ihr gemeinsames Büro erst zwei Jahre zuvor in Barcelona gegründet. Zur Führung durch das fertiggestellte Gebäude Ende Januar konnten die Architekten leider nicht anreisen, sodass mich Kamila Matczak, die Sprecherin der Philharmonie, durch den Neubau begleitete.
Das Gebäude ist aufgrund des unbebauten, südlich angrenzenden Blocks zwar schon von weitem sichtbar, wenn man sich aus Richtung der Altstadt nähert, doch steht es nicht in einer Blickachse, und aus der Perspektive der die Altstadt tangierenden, autobahnähnlichen Trasa Zamkowo geben die gotische St.-Peter-und-Paul-Kirche oder die Eckbebauung zur Jana Matejki erst recht spät den Blick auf die Philharmonie frei. An dieser städtebaulichen Disposition dürfte sich auch nichts ändern. Denn war das vor Philharmonie und Polizeiwache gelegene Areal bis zu den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs auch bebaut – die heute Plac Solidarnósci genannte Freifläche ist ein historisch wichtiger Ort in der jüngeren Geschichte der Stadt. 1970 wurde hier eine Demonstration von der Polizei niedergeschossen, unter den 16 Getöteten befanden sich auch Unbeteiligte, wie jene Jugendliche, die am Fenster ihres Zimmers stehend das Geschehen verfolgte. Eine Engelsskulptur und eine Gedenktafel auf dem Platz erinnern an die traurigen Ereignisse. Um diese und andere Momente der jüngeren Geschichte besser zu vermitteln – nach Danzig war Stettin Anfang der achtziger Jahre das Zentrum der Gewerkschaft Solidarność –, ist unter dem Platz das „Centrum Dialogu Przelomy“ gebaut worden. Das Projekt des Stettiner Nationalmuseums (Architekt Robert Konieczny/kwk promes), das mit seiner aufschwingenden Platzoberfläche auf den Unwissenden zunächst wie ein großes Paradies für Skater wirkt (und auch entsprechend angenommen wird), harrt noch seiner Eröffnung. Doch nun zur Philharmonie.

Verhüllte Festlichkeit

Neben dem backsteinernen Polizeipräsidium nimmt sich das neue Konzerthaus zumindest tagsüber zurück. Wären die auffälligen, unregelmäßig geformten Zacken nicht, die ihren oberen Abschluss bilden und die expressive Traditionslinie der Bauaufgabe „Musik(theater) in der Stadt“ aufrufen – von Scharouns Berliner Philharmonie über Utzons Opernhaus in Sydney bis hin zu Herzog & de Meurons Hamburger Elbphilharmonie –, das Gebäude wäre bei Tag nur schwer als ein Ort für festliche Veranstaltungen zu identifizieren. Ganz im Gegenteil, seine milchige Glashülle, die zum Platz gelegene Einfahrt in die Tiefgarage und der völlige Verzicht auf jedes Sichtbarmachen des Gebäudeinneren verleiten zu dem Fehlschluss, dass hier eher schlichte Zwecke gnädig den Augen entzogen worden sind. Tatsächlich zählt die Philharmonie ganze drei Fenster – die Architekten, mutmaßt Kamila Matczak, hätten beim Entwurf wohl eher an heimische Lichtverhältnisse gedacht denn an die je nach Jahreszeit milden bis düsteren Bedingungen an der Ostsee. „Die Beleuchtung ist unser größter Kostenfaktor“, scherzt die Sprecherin des Hauses. Apropos Beleuchtung: Sobald die Dämmerung über Stettin fällt, wandelt sich die Präsenz des 120 Millionen Złoty (umgerechnet rund 30 Millionen Euro) teuren Hauses; kaum jemand dürfte dann noch an Parkhäuser, Lagerhallen, Stromzentralen und dergleichen denken. Die Milchglasfassade wird bei Dunkelheit von Hunderten winziger LED-Strahler indirekt beleuchtet. Diese werfen ihr Licht von der die äußere Hülle tragenden Stahlkonstruktion auf die Innenwand, das von dort zurückreflektiert. Mit unterschiedlichen Farbkombinationen schaltbar, erzeugt diese Beleuchtung mit einem Mal die festliche Note, die die Besucher erwarten dürfen, auch wenn sich das Innere deswegen nicht stärker nach außen kehrt.

Kleine und große Herzkammer

Diese Hermetik verschenkt einen Teil des Potenzials, das solch ein Gebäude für die Stadt bereit hält, keine Frage – man denke nur daran, wie die Foyers von Werner Ruhnaus Gelsenkirchener Musiktheater oder von Fritz Bornemanns Deutscher Oper in Berlin abends in die Stadt strahlen, Teil des öffentlichen Raumgefüges werden. Andererseits ist der Eindruck umso größer, den der Bau von Barrozzi Veiga macht, hat der Besucher erst einmal den Windfang passiert. Dann steht er in einem nur erhaben zu nennenden weißen Raumwürfel, der auf das Erlebnis der abstrakten Musik vorbereitet. Abgesehen von einem kleinen Café zur Rechten, das eine gewisse Grundlebendigkeit in dieser Hallle erzeugt, dominieren eine geradläufige Treppe in der nordwestlichen und eine Treppenspindel in der nordöstlichen Ecke den Raum. Sie führen zu den auf ganzer Höhe im Haus verteilten Foyers (im obersten, gleich unter dem gefalteten Dach gelegenen können die Besucher in der Pause zudem Kunstwerke betrachten; die ortsansässige Galeria Orient kuratiert den monatlichen Wechsel der hier ausgestellten Bilder, Skulpturen und Installationen), vor allem aber zu den beiden Konzertsälen der Philharmonie: dem kleinen, auch für Veranstaltungen zu mietenden Kammermusiksaal mit knapp 200 Plätzen und dem großen Konzertsaal mit rund 950 Plätzen. „Mondsaal“ und „Sonnensaal“ heißen diese beiden Herzkammern des Hauses auch, und diese Namen deuten bereits ihren jeweiligen Charakter an. Während der Kammermusiksaal eher nüchtern-kühl gestaltet ist und mit seinen Lichtpunkten in der dunklen Decke an den Nachthimmel denken lassen soll, überrascht der große Saal den Besucher zwar nicht mit einer spektakuläreren Geometrie, wohl aber mit golden schimmernden Oberflächen. Wände und Decke sind mit Blattgold belegt – acht Monate dauerte es, die quadratischen Blättchen aufzubringen, deren Geometrie die Oberflächen unaufdringlich, aber wirksam gliedert. Die Anspielung auf den großen, auch „golden“ genannten Saal des Wiener Musikvereins liegt auf der Hand. Immer freitags wird seit Anfang September in diesem Saal musiziert, und bislang, berichtet Frau Matczak, war jedes Konzert ausverkauft. Einen kleinen Anteil daran hat auch der Bus, der sich nachmittags westlich von Stettin auf den Weg macht: Jenseits der Grenze, im kulturell nicht gerade begünstigten vorpommerschen Landkreis Uecker-Randow, hat die Philharmonie bereits einen festen Freundeskreis gefunden.



Fakten
Architekten Veiga, Barozzi, Barcelona; Studio A4, Stettin
Adresse Małopolska 48 70-515 Szczecin Polen


aus Bauwelt 10.2015
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