HDI-Gerling Hauptverwaltung
Tief aus der Erde von Hannover
Text: Brensing, Christian, Berlin
Sie werden noch immer gebaut: autarke Büroanlagen in der Vorstadt. Wie eine nüchterne, auf das Wesentliche reduzierte Architektur von Christoph Ingenhoven mit Erdwärme und Erdkälte korrespondiert, demonstriert der Neubau der Hauptverwaltung des HDI-Gerling Konzerns in Hannover.
Der Platzbedarf für die Verwaltung einer Versicherungsgesellschaft scheint heute ungeheuerlich zu sein. Die neue Hauptverwaltung der HDI-Gerling Versicherungsgruppe in Hannover ist ein aalglatter Gebäudekomplex mit durchlaufenden Fensterbändern und Edelstahlbrüstungen. Für das Büro Ingenhoven ist dies ein typischer Bau, der allerdings nicht die gewollte Zeichenhaftigkeit der in den letzten Jahren von ihm errichteten Europäischen Investitionsbank in Luxemburg oder der Lufthansa Hauptverwaltung in Frankfurt/Main erreicht.
HDI-Gerling ist Deutschlands drittgrößter Sach- und Lebensversicherer. Der Neubau der 78.000 Quadratmeter großen Hauptverwaltung für 1850 Angestellte entstand am Stammsitz in Hannover-Lahe. Er wurde erforderlich, da mehrere Standorte der Gruppe zusammengezogen wurden. Das Grundstück liegt auf dem Gelände einer ehemaligen Gärtnerei in unmittelbarer Nähe zur alten, 1974 errichteten Hauptverwaltung – die vom Bauherrn weiterhin genutzt wird. Der Neubau grenzt zudem an den Laher Graben, wo ein Naturschutzgebiet beginnt. Für diesen ökologisch sensiblen Bauplatz fand 2008 ein Wettbewerb mit fünf geladenen Architekten statt, den Christoph Ingenhoven gewann. Sehr zügig gingen Planung und Realisierung voran, die Einweihung erfolgte im Dezember 2011. Der niedersächsische Ministerpräsident David McAllister bejubelte in seinem Grußwort die „ökologischen Vorteile“ des Neubaus: „Das nachhaltige Gebäudekonzept schließt neben einer 3-Scheiben-Verglasung sogar eine eigene Geothermie-Anlage mit ein. Dafür wurden 63 Sonden 99 Meter tief in den Boden eingelassen, um die Erdwärme und -kälte zu nutzen. Durch diese und weitere Maßnahmen soll der Primärenergiebedarf um 30 Prozent unter den gesetzlichen Vorgaben liegen. Das ist klima- und energiepolitisch vorbildlich.“ Die Vereinbarkeit von politischen Zielen mit der gebäudetechnischen Realität eines Bauwerks ist jedoch wesentlich komplexer, als es Politiker jemals in ihren Reden erfassen könnten. Schließlich geht es um das gesamte Spektrum von klimaneutralem Kühlen, Heizen, Lüften und Beleuchten über die finanztechnischen Auswirkungen der Energieeffizienz bis hin zu der Behaglichkeit der Mitarbeiter. Es liegen zwar noch keine gesicherten Ergebnisse vor, und es wird auch noch Jahre dauern, die exakten energetischen Belange des Hauses aufeinander abzustimmen, dennoch scheint der Neubau die Ziele des Bauherrn zu erfüllen.
100 KWh/m² NF
Schon während des Wettbewerbs erstellte das Planungsteam – Christoph Ingenhoven, Werner Sobek (Tragwerk) und die Ingenieure ZWP (Haustechnik) – ein Gebäudekonditionierungskonzept. Zielvorgabe war, einen Primärenergiebedarf für die Gesamtversorgung bis hin zur Beleuchtung von weniger als 100 KWh pro Quadratmeter Nutzfläche zu erreichen, was einem Passivhausstandard entspricht. Eine Hochhausvariante war im Bebauungsplan nicht vorgesehen. Man favorisierte schließlich eine sechsgeschossige Anlage, da man auch für alle Mitarbeiter gleichwertige Arbeitsplatzbedingungen haben wollte.
Drei identische Erschließungskerne mit ihrem zugeordneten Bürotrakt gliedern sich an das 2600 Quadratmeter große Atrium (51 x 51 x 26 m). In einem möglichen zweiten Bauabschnitt kann ein vierter Erschließungskern mit ca. 16.500 Quadratmeter Bürofläche mit zusätzlichen Nutzflächen im Erdgeschoss von ca. 2500 Quadratmetern hinzugefügt werden. Zudem besteht die Möglichkeit der Erweiterung eines der drei bestehenden Kerne um weitere 6000 Quadratmeter Büronutzung. Alle Expansionsmöglichkeiten wurden bei der Haustechnik bereits beim Entwurf eingeplant, sodass sie in das Energiekonzept einfließen können, ohne neue Quellen zu erschließen. Außerdem legten die Architekten das Gebäude von Anfang an für eine „Green Building“-Zertifizierung des DGNB aus. Eine formale Zertifizierung ließ der Bauherr jedoch nicht durchführen. Man sah dafür keine Veranlassung, da das Gebäude selbst genutzt wird. So sparte man Kosten.
Voll Glas
Zu Beginn der Planungen war sich der Bauherr jedoch noch nicht schlüssig gewesen, in welchem Umfang und mit welchen Maßnahmen das Ziel der optimalen Energieeffizienz konkret erreicht werden könnte. Erst nach dem Wettbewerb wurde mit dem Architekten und den Fachplanern ein genaues Konzept erarbeitet. Die von Ingenhoven favorisierten, bis auf die Trennwände vollverglasten Zellenbüros mit einem flexiblen Wandsystem über zwei bis vier Achsen für maximal sechs Mitarbeiter entsprachen den Vorgaben des Nutzers. Der Betriebsrat hatte schon im Vorfeld zu erkennen gegeben, dass Großraumbüros unerwünscht sind. Nach dem Einzug blickten jedoch viele Mitarbeiter, die es gewohnt waren, in äußerster Vertraulichkeit zu arbeiten, kritisch auf die gläserne Pracht. Doch der Eindruck der lichtdurchfluteten Flure, das faszinierende Schattenspiel durch das gitterförmige Flächentragwerk des Atriums, die großzügigen Besprechungsbereiche, die gläsernen Aufzüge und die große Eleganz der weißen Spindeltreppen aus Stahl ließen die meisten Skeptiker verstummen.
Noch diffiziler als bei der Belichtung und Beleuchtung der neuen Hauptverwaltung, die durch Tageslichtsensoren und Präsenzmelder energieminimiert geregelt wird, war die Konzeptfindung für die Versorgung mit Wärme und Frischluft. Die Haustechnikingenieure entschieden gemeinsam mit dem Bauherrn, den Wärmebedarf der Büroflächen aus einer Mischung von 80 Prozent Geothermie und 20 Prozent Fernwärme zu decken, mechanisch erzeugte Kälte nur in Spitzenlastzeiten (unter -10 und über 32 Grad) bereitzustellen und alle Bürobereiche mit einer energieeffizienten Lüftungsanlage zu versehen, die in den Übergangszeiten einer natürlichen Fensterlüftung weicht. Eine Bauteilaktivierung in den Decken- und Brüstungsbereichen sorgt zusätzlich für ein angenehmes Temperaturniveau im Sommer und Winter. Außerdem reduzieren eine effiziente Wärmerückgewinnung und das Atrium als Pufferzone den Primärenergiebedarf deutlich.
Rotationswärmetauscher
Die Akzente der Energieeffizienz sind nicht auf den ersten Blick erkennbar. Einzig die zwei gläsernen Außenluft-Ansaugkuben mit ihrer Luftentnahme in 2,20 Meter Höhe an der Ost- und Westseite geben dem Fachmann Hinweise auf das Energiekonzept. So gelangt im Sommer und Winter die frische Luft von der Ostseite über 14 und von der Westseite über 12 jeweils 60 Meter lange Kunststoffrohre von 80 Zentimeter Durchmesser – die in der Grundplatte einbetoniert sind und gleichzei-
tig als erster Wärmetauscher fungieren – zu den 12 Meter langen Lüftungsgeräten mit je zwei riesigen Rotationswärmetauschern (4 Meter im Durchmesser). Eingesetzt wird hier die DEC-Technik. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich die englische Beschreibung „Dessicant and Evaporating Cooling“ für trocknende und verdunstende Kühlung. Die Entscheidung, dieses Anlagensystem zu nutzen, wird durch die im Sommer sehr kostengünstig zur Verfügung stehende Fernwärme begünstigt. Beim DEC-System wird die Abluft über eine Wärmerückgewinnung und einen Lufterhitzer mittels Fernwärme erwärmt. Mit der erwärmten Abluft wird die Zuluft über einen speziellen Rotationswärmetauscher getrocknet. Danach wird die Zuluft durch eine Befeuchtung auf die gewünschte Temperatur gekühlt. Somit braucht es für die Kühlung der Zuluft keine Kältemaschine. Im Winter wird durch die Rotoren die Abwärme des Gebäudes auf die kalte Außenluft übertragen.
Die Lüftungsgeräte befinden sich in der großen Zentrale unterhalb des Atriums. Je eine Anlage versorgt einen Bürotrakt. Die Erschließung der Obergeschosse erfolgt durch große Bodenkanäle zu den 30 Meter langen Technikkernen. Von dort gelangt die Frischluft durch den Hohlraumboden zu den Auslässen in den einzelnen Büros. Die Abluft strömt in den Flur und von dort ins offene Atrium. So wird die konditionierte und wenig verbrauchte Luft gleichzeitig für die Belüftung des Atriums genutzt. Durch die Absaugung der Luft direkt über der Zentrale entfällt das aufwendige Abluftkanalnetz.
Technik verschweigen?
Was im ganzen Gebäude auffällt, ist der äußerst geringe Anteil an sichtbarer Technik. Die von einem Fluid (Wasser/Glykol) als Wärmeträger durchflossenen Sonden der Geothermie-Anlage mit einer Gesamtlänge von 6,5 Kilometern geben ihre Wärme aus dem sommerlichen Gebäudebetrieb über Tauscherflächen an den Untergrund ab, um sie im Winter für die Beheizung wieder zu entnehmen. Die Wärmeübertragung erfolgt in der Regel über Betondecken, die von Wasser durchflossenen Rohren aktiviert werden. Dabei reichen aufgrund der großen Heiz- oder Kühlflächen Kaltwassertemperaturen von 18º C und Heizwassertemperaturen von 26º C aus. So kann im Kühlbetrieb bis in den Mai hinein ohne Kältemaschine gekühlt werden. Die Abwärme wird wieder in den Geothermiekreis eingespeist. Eine weitere Möglichkeit zur Abgabe der Abwärme aus den Kältemaschinen stellt die „aktive“ Dämmung der Bodenplatte dar. Für den Heizbetrieb ist jedoch eine Wärmepumpe notwendig. Da der Temperaturunterschied sehr ge-
ring ist, arbeitet diese mit einer guten Leistungszahl von 4,0, die das Verhältnis der abgegebenen Heizleistung zur aufgenommenen Elektroenergie darstellt. Die Leistungszahl im Kühlbetrieb beträgt 4,8. Angesichts der riesigen Rotationswärmetauscher wähnt man sich im Maschinenraum eines Ozeanriesen, tief verborgen unter der „Wasserlinie“.
Man wünscht sich bei dieser geballten Technik eine konkrete Nachprüfbarkeit, wie viel davon überhaupt notwendig ist, um wie viel Energie einzusparen. Man wünschte sich zudem, dass mit der Technik gestalterisch offener umgegangen würde, anstatt sie verschwinden zu lassen und damit zu verschweigen.
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