Bauwelt

Internationale Gedenkstätte 1914-18


Einheit und Ewigkeit


Text: Redecke, Sebastian, Berlin


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    Rendering: Büro Philippe Prost

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Am Rande einer Hochebene wenige Kilometer südlich von Lens wird nächstes Jahr eine neue internationale Gedenkstätte des Ersten Weltkriegs eingeweiht. Philippe Prost entwarf hierfür neben der Kirche Notre Dame de Lorette und dem Gräber­feld ein Gebäude in Form einer Ellipse mit den Namen der 600.000 Gefallenen in der Region.
Der Elysée-Vertrag zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer vor fünfzig Jahren wurde Ende Januar in Berlin groß gefeiert. Die enge Freundschaft und der Austausch zwischen den Ländern sind heute eine Selbstverständlichkeit. Der Vertrag von 1963 war ein wichtiger, man kann auch sagen, epochaler Schritt nach Jahrhunderten, die von unüberbrückbaren Differenzen, Feindschaft und Krieg geprägt waren.
Als Kind blieb ich während einer Fahrt durch die Landschaft des Artois in Nordfrankreich beim Anblick der vielen Soldatenfriedhöfe entlang der Landstraßen stumm. Ich erinnere mich, dass ich die Schrecken des Ersten Weltkriegs in dieser Region und die Hintergründe dafür nicht begreifen konnte. Und auch heute, vierzig Jahre später, ist für mich der Stellungskrieg in der Gräben, bei dem innerhalb weniger Wochen Zehntausende Soldaten ihr Leben verloren, unfassbar. In meiner Kindheit gab es noch viele, die diesen Weltkrieg miterlebt hatten. Die ehemaligen Soldaten fanden sich Jahr für Jahr an den Kriegsschauplätzen ein, die zu Orten des Gedenkens geworden waren. 
Heute gibt es keine Veteranen mehr, der Erste Weltkrieg ist endgültig in die Geschichte eingegangen. Doch die vielen Friedhöfe und Denkmäler zwischen Somme und Champagne werden weiter gut besucht, vor allem Verdun mit dem Soldatenfriedhof von Douaumont. Reisegruppen aus allen am Krieg beteiligt gewesenen Staaten, sogar aus Übersee, kommen hierher. Jede Nation hat ihren eigenen Friedhof. Die Narben sind verheilt, aber die Schrecken des Ersten Weltkriegs werden in der Region mit jedem kleinen Kreuz auf den Gräberfeldern für immer in Erinnerung bleiben. 
Notre Dame de Lorette
Im Dezember letzten Jahres fahre ich mit dem Pariser Architekten Philippe Prost erneut durch diese Landschaft. Wir erreichen Notre Dame de Lorette. Die Kirche liegt auf einem 175 Meter hohen Hügel, der während des Kriegs über viele Wochen hinweg heftig umkämpft war. Allein hier starben 102.ooo Soldaten. Von der Kuppe aus geht der Blick in die Weite. Man sieht nicht nur das Kohlerevier von Lens (Bauwelt 5.2013), sondern auch die Stadt Arras und die nahe ge­legene Ortschaft Ablain-Saint-Nazaire mit ihrer spätgotischen Kirche, die nach 1945 eine Ruine blieb, als Mahnmal gegen den Krieg.
Auf der Hochebene des Hügels entstand 1925 die 13 Hektar einnehmende Gedenkstätte mit einem Gräberfeld für 45.000 Soldaten. Doch nur halb so viele Namen finden sich auf Einzelkreuzen. Trotz immer knapper werdender Mittel bemühen sich Gärtner, die weiten Rasen- und Kiesflächen in einem gepflegten Zustand zu halten. In der Mitte der Anlage steht die 1937 erbaute Kirche Notre Dame de Lorette. Ihre sonderbare neoromanische Gestalt verdankt sich dem eklektischen Archi­tekten Louis-Marie Cordonnier (1854–1940). Ihr gegenüber ragt ein bereits 1925 von Cordonnier errichteter Turm empor, der als mahnende „Laterne“ gedacht war. Wie bei einem Leuchtturm strahlte das Licht in die Umgebung. Das Licht ist längst erloschen, um es zu reaktivieren, fehlt es an Geld. Auch der Turmaufstieg, der zu einem Umgang unterhalb der Laterne führt, ist für Besucher nicht mehr möglich. In einer kleinen Ausstellung, die sich im Sockel neben einer Zisterne befindet, verstauben im Licht weniger Glühbirnen vergilbte Landkarten von den Frontlinien, durchschossene Helme, Handgranaten, Orden und persönliche Gegenstände der Soldaten. 
Schon im nächsten Jahr wird dieser Ort der Erinnerung sein Gesicht verändert haben. Zu den Gedenkveranstaltungen an den Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch sich im Sommer 2014 zum hundertsten Mal jährt, hat die Region Nord-Pas de Calais in Zusammenarbeit mit den Regierungen aller Staaten, die an den Kämpfen im Norden Frankreichs beteiligt waren, den Bau einer internationalen Gedenkstätte geplant, einen Ort, an dem zum ersten Mal nicht die Erinnerung an die Gräuel des Krieges im Vordergrund steht, sondern das mahnende Ge­bot zum Frieden.
Die Ellipse
Philippe Prost hatte 2011 den von der Region ausgelobten Wettbewerb für das Projekt gewonnen. Inzwischen liegt die Ausführungsplanung vor. Er erklärt mir seinen Bau auf dem vorgesehenen Terrain in leichter Hanglage, denn nur hier, in unmittelbarem Zusammenhang mit der Landschaft und der Gedenkstätte, wird seine Idee verständlich. Prost wählte einen Baukörper in Form einer Ellipse als verbindendes Element: Er sieht in dieser Figur eine Menschenkette, die sich die Hand reicht – als „Synonym für Einheit und Ewigkeit“. Da die Ellipse mit einer Längsachse von 129 und einer Querachse von 75 Metern waagerecht verlaufen s0ll, schiebt sie sich notwendigerweise in den Hang. Auf der Seite zur Landstraße hin, wo sich auch der Zugang zum vorhandenen Gräberfeld mit Kirche und Laterne befindet, wird sie zum Teil ins Erdreich eingegraben und da­her kaum in Erscheinung treten. Auf der anderen Seite kragt das Gebäude hingegen in voller Höhe aus und bildet über der Wiese ein Ringsegment. Der Rundgang innerhalb der Ellipse mit einer Länge von 330 Metern ist für die Besucher frei zugänglich. Die äußere Wand zeigt sich nahezu komplett geschlossen, innen ist nur – falls erforderlich – ein filigranes Geländer geplant. Die Wiese soll dort, wo die Ellipse stützenfrei „schwebt“, dieselbe „durchfließen“ und sich innen auf einer Fläche von rund 7000 Quadratmetern fortsetzen. Bei der Konstruktion handelt es sich um 236 vorfabrizierte Elemente aus ultrahochfestem Beton in Kombination mit Stahlbauteilen. Die U-förmigen Elemente sind 3,50 Meter hoch und 3,70 Me-ter breit. Sie werden teilweise mit vorgespannten Stahlkabeln miteinander verbunden.  
Die äußere Wand säumen entlang des Wegs der Besucher 500 Aluminiumtafeln, auf denen die 600.000 Namen der im Ersten Weltkrieg in der Region gefallenen Soldaten aufgelistet sind. Die Namen werden alphabetisch hintereinander angeordnet, unabhängig von ihrer Nationalität und der Dienstgrade. So werden dort ohne Unterschied die Namen deutscher, französischer, britischer Soldaten verewigt, auch jene – und  dies ist wenig bekannt – aus rund vierzig anderen Staaten, so aus Afrika, dem Mittleren Osten, Indien, bis nach Australien. Mit dieser Entscheidung wird die internationale Dimension deutlich. Bisher gedachte man der Soldaten auf den jeweiligen nationalen Friedhöfen.
Die Buchstaben
Jede der drei Meter hohen Tafel ist von oben bis unten mit Namen angefüllt. Die Nach- und Vornamen haben im Durchschnitt 18 Buchstaben. Damit ergeben sich circa 10.800.0o0 Buchstaben. Zum Vergleich: Ein Roman von 200 Seiten hat etwa 450.000 Buchstaben. Damit entsprechen die Namensreihen in der Ellipse rund 25 Büchern à 200 Seiten. Die sorgsame Auflistung der Namen soll das Ausmaß des Schreckens im Ersten Weltkrieg ohne irgendein Pathos deutlich machen. Um alle Namen unterbringen zu können, werden die einzelnen Tafeln gefaltet nebeneinanderstehen. Jede nimmt circa 1200 Namen in einer  Schriftgröße von 2,3 Zentimetern auf. In Zusammenarbeit mit dem Grafiker Pierre di Sciullo wurde hierfür speziell die platzsparende Schrifttype „le Lorette“ entworfen. Um die Orientierung zu erleichtern, beginnt immer ein Abschnitt im Alphabet mit einem großen Buchstaben. Für die bessere Lesbarkeit wird es keine Worttrennungen geben.
Da die Zeit bis zum Sommer 2014 knapp bemessen ist, werden die Namen in das Alumiumblech per Laser im Sandstrahlverfahren eingearbeitet. Eine besondere Herausforderung ergab sich dadurch, dass die Listen der zuständigen Behörden und Verbände in den verschiedenen Ländern für diese eine große Namensfolge alle zusammengeführt werden mussten, ohne dass dabei Fehler durch Weglassen, Doppelung oder falsche Schreibweise unterlaufen. Einige Listen sind zudem im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Somit wird die Namensliste in der Ellipse nicht komplett sein, auch deshalb nicht, weil noch immer Namen von gefallenen Soldaten in Erfahrung gebracht werden, die bisher unbekannt waren. Für sie wird am Ende der Tafelreihe Raum für neue Inschriften gelassen. Die Ellipse wurde auf der abschüssigen Wiese bereits mit Holzlatten abgesteckt. Mit dem Bau soll im Frühjahr begonnen werden.
Es wird nur diese Ellipse geben, die der Besucher betritt, um dann an den Tafeln entlangzugehen. Wegen der vielen Besuchergruppen auch aus dem Ausland, die die Grab- und Gedenkstätten aufsuchen, wird aber in der Ortschaft Souchez, die sich unterhalb von Notre Dame de Lorette befindet, ein Informationszentrum entstehen. Der Pariser Architekt Pierre-Louis Faloci, der 1996 das Museum Mont Beuvray (Bibracte) realisierte (Bauwelt 9.1996) und zurzeit ein kleines Museum zur Kanonade von Valmy 1796 baut, wird hierfür an der Straßenabzweigung zum Hügel hinauf einen Museumsneubau errichten.       
Braucht es nun diesen neuen, alle Gefallenen des Krieges an diesem Ort einbindenden Wandelgang für rund 6,5 Millionen Euro? Wäre es nicht ausreichend gewesen, zum besonderen Datum 2014 den alten „Leuchtturm des Friedens“ auf der Hochebene mit neuer, besserer Leuchttechnik zu reaktivieren, der dann mit großer Symbolkraft über Kilometer hinweg erneut auf diesen Ort aufmerksam machen könnte? Die Ellipse mit allen Namen war eine politische Entscheidung und wird sicherlich die Augen vieler Menschen, nicht nur in Europa, auf diesen Ort lenken. Und sie wird mit ihrer fragil wirkenden Konstruktion deutlich bewusst machen, dass der Weltfrieden nach wie vor fragil ist.



Fakten
Architekten Prost, Philippe, Paris; Faloci, Pierre-Louis, Paris; Cordonnier, Louis-Marie (1854–1940)
aus Bauwelt 9.2013
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